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Der Assassino von Lothar Nietsch
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Mit geschmeidigen Fingern justierte Giovanni das Präzisionszielfernrohr. Die Konturen des anvisierten Punktes gewannen an Schärfe, bis der Blick durch die Linse auch das kleinste Detail des Gerichtsgebäudes einfing.
Anschließend prüfte Giovanni jede Einzelheit des weitreichenden Gewehres, das er mitsamt Stativ knapp hinter dem Fenster aufgebaut hatte. Damit zufrieden, richtete er schließlich den Vorhang, nur wenige Zentimeter vor dem Schalldämpfer. Er beließ einen handbreiten Spalt, gerade breit genug, dass der Stoff den Blick durchs Zielfernrohr nicht einschränkte.
Bene, sagte er zufrieden. So, wie er es seit je her zu sich sagte, wenn er bereit war. Ein knapper Blick zum Handgelenk. Die Ziffern der schmucklosen Uhr zeigten sieben Minuten nach neun. Noch exakt 63 Minuten.
Er wandte sich vom Fenster ab, schaltete das Radio ein. Klassische Musik ertönte. Gemächlich legte sich Giovanni mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aufs Bett. Entspannt schloss er die Augen, lauschte den Klängen, ließ sich von ihnen tragen, bar jedes Gedankens und wurde eins mit Gott.
In solchen Minuten erhob er sich über sein Dasein, blickte wie aus großer Ferne auf sein Werk, seine Bestimmung. Berauschte sich an der Perfektion seines Wirkens, das ausgebreitet vor seinen Augen lag.
Obwohl so der Welt entrückt, verpasste Giovanni niemals seinen Einsatz. Auf den Punkt genau kehrte sein Geist zurück ins Hier und Jetzt, als lege Gott selbst den richtigen Schalter in Giovannis Kopf um.
Von einem Augenblick zum nächsten übernahm Giovannis Bewusstsein das Kommando, hochkonzentriert, jeder Gedanke einzig auf seinen Auftrag gerichtet.
Darauf legte Giovanni immensen Wert. Die Fulminanz seiner Arbeit bedeutete ihm alles. Seit jenem Tag, an dem sich ihm seine Berufung offenbart hatte.
Dreizehn war er damals gewesen als ihn Gott mit der Aufgabe betraute, den Heimdirektor zu erlösen. Mitten in der Nacht erwachte Giovanni und erfüllte ohne zögern, so als habe er nie etwas anderes getan, den Willen Gottes. Kurz nach Morgengrauen fand man den Direktor mit durchschnittener Kehle in seinem Bett.
Der Fall schlug landesweit Wellen und trotz intensivster Ermittlungen, vermochte die Polizei nicht den grausigen Mord aufzuklären. Seit dem Todestag des Direktors pulsierte eine neue, unbändige Kraft durch Giovannis Venen. Ein erhabenes Verlangen, als hätte sich Gottes Wille selbst in ihm manifestiert und aus dem kleinen, schmächtigen Knaben einen Todesengel geschaffen.
Viel Wasser war seither den Po hinuntergeflossen. Heute galt Giovanni als Perle seiner Zunft und kostspielig waren seine Dienste. Aber seine Auftraggeber zahlten bereitwillig. Nicht einen Job hatte er je vermasselt. Nie auch nur den kleinsten Hinweis auf seine Identität oder die seiner Auftraggeber hinterlassen.
Unter welchen Umständen und wo er lebte, sagte er niemanden. Selbst für langjährige Stammkunden unter seinen Auftraggebern war Giovanni bis heute ein unergründliches Phantom geblieben.
Er war sich durchaus bewusst, wie sehr sie ihn fürchteten und dass sie nicht eine Sekunde zögern würden, sich seiner zu entledigen. Er war ein unliebsamer Mitwisser geworden, doch Gottes Gnade hing über seinem Werkzeug, hielt es zu steter Gewissenhaftigkeit an.
Keine Örtlichkeit verband sich mit seinem Namen, kein Laster schwächte ihn und kein Mensch war je nahe genug an ihn herangekommen, um ihn zu verraten. Immer schon wich er den Menschen aus.
Nicht einmal seine Eltern waren ihm wirklich nahe gestanden. So weit er sich zu erinnern vermochte, war er ihnen ebenso gleichgültig gewesen, wie sie sich selbst meistens gegenseitig ignorierten. Es hatte Giovanni nicht sonderlich betrübt, als Mutter und Vater während eines Einkaufs auf dem Fischmarkt in einen Schußwechsel zwischen Polizei und Mafiosi gerieten und dabei ihr Leben ließen. Er wusste nichts von Mitleid, alles was sich damit verband war ihm fremd ausnahmslos.
Teilnahmslos nahm er es damals hin, von den zuständigen Beamten in ein staatliches Waisenhaus gesteckt zu werden.
Erst als Gott ihm in jener schicksalhaften Nacht offenbarte, welche Aufgaben seiner harrten, war ein unbekanntes, verheißungsvolles Gefühl der Euphorie in seiner Seele erwacht.
Giovannis Kopf zuckte. Er schlug die Augen auf, blickte zur Uhr. Es war soweit. Er erhob sich ohne Hast, dehnte seine Glieder, massierte und bog anschließend jeden einzelnen Finger und rückte den Stuhl hinter dem Gewehr zurecht.
Ein letztes Mal holte er das Photo seines Opfers aus der Brusttasche, betrachtete es beinahe andächtig. Senior Einhundertneunundneunzig., sagte er leise. So wie all die Jahre zuvor, wenn der Zeitpunkt nahte.
Nur noch einen weiteren Auftrag, dachte Giovanni in diesem Moment. Unverhofft ertappte er sich dabei, dass ihm der Gedanke an den Ruhestand gefiel.
Er war in die Jahre gekommen, die Hände nicht mehr so ruhig, seine Augen nicht mehr ganz so scharf und er hatte Gott gefragt. Die Zahl Zweihundert ergab für einen einzelnen Mann, einen einsamen Streiter Gottes, eine schöne, runde Summe. Etwas, worauf man nicht ohne Stolz zurückblicken konnte und Gott war mit dem Wunsch seines Instruments einverstanden gewesen.
Giovanni blickte durchs Zielfernrohr, beobachtete die in deutlicher Schärfe auszumachenden Menschen vor dem Gerichtsgebäude, als wären sie nur zehn Schritte entfernt.
Lediglich mit einer Minute Verspätung fuhr der erwartete Streifenwagen vor, hielt direkt an der Granittreppe. Dahinter ein Polizeibus. Beamte quollen aus dem Wagen, schoben die versammelten Menschen von der Treppe, sicherten die Umgebung. Von irgendwoher erschienen Reporter, sogleich verstellten ihnen die Polizeibeamten den Weg. Bewaffnete Einsatzkräfte flankierten binnen des nächsten Augenblicks die Treppe.
Endlich lösten sich vier Polizisten vom Bus. Sie hielten sich eng an einen Zivilisten in ihrer Mitte und hielten mit raschen Schritten auf die Stufen des Gebäudes zu. Nur für einen flüchtigen Moment wandte die Gestalt ihr Gesicht in Giovannis Richtung. Aber dieser Augenblick genügte. Arrivederci, Senior Hundertneunundneunzig., murmelte er. Sein Finger berührte den Abzug, fühlte den Druckpunkt. Giovannis Herzschlag ging völlig ruhig, er atmete aus, der Moment war da.
Ohrenbetäubend donnern Schüsse in Giovannis Rücken. Noch während ihr Hall durchs Gebäude rollt, sprengen Stiefeltritte die Zimmertür. Holzteile und Mauerputz prasseln auf Giovannis Hinterkopf und Nacken. Der Schuss aus seinem Gewehr löst sich, aber er hat den Lauf bereits verrissen. Giovanni wirbelt herum, seine Hand zuckt zur Magnum im Schulterholster. Vermummte Uniformierte setzen über die aufgesprengte Tür ins Zimmer, Mündungsfeuer brüllt Giovanni entgegen. Projektile fetzen durch seinen Leib, schleudern ihn zurück. Fassungslosigkeit, ohnmächtige Wut und Verzweiflung durchzucken sein Inneres. Gott hatte ihn verraten! Dann bricht sein Blick.
08. Jan. 2009 - Lothar Nietsch
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