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Wächsern
von Dominik Irtenkauf

Manfred Lafrentz Manfred Lafrentz
© http://www.literra.info
Ein Engel sollte man sein.
“Wie bitte?”
Ja, ein Engel sollte man sein. Den ganzen Tag nur über der Erde schweben; keine Bedürfnisse haben, keine Mühsal spüren, einfach frei sein.
“Übertreibst du da nicht ein klein wenig?”
Nö, wieso. Und überhaupt, was mischst du dich überhaupt in meine Gedanken ein?
“Gedanken? Ha, daß ich nicht lache – das sind doch Gespräche, für jedermann weit und breit hörbar.”
Ach so denkst du von mir. Nun gut, dann muß ich etwas ändern. Einen Moment bitte ...

Niemals hätte er gedacht, daß Kerzen so lange brennen können. Er saß im Schneidersitz auf dem Korkboden und betrachtete einen Stumpen, wie er die letzten Überreste von Wachs durch die Flamme verlor. Eigentlich wartete er, bereits seit geraumer Zeit, auf seine Schwester, die die schlechte Angewohnheit hatte, zu spät zu kommen. Sie waren verabredet. Heute wollten sie zum Baggersee zum Schwimmen fahren. Zuzutrauen wäre seiner Schwester, daß sie ihn versetzt hatte. Es wäre nicht das erste Mal. Oft traf sie auf dem Pausenhof nach dem Nachmittagsunterricht Gott und die Welt. Sie kannte beinahe jeden und jede, denn sie war beliebt. Ja, das war sie. Sie konnte sich niemals über mangelnde Gesellschaft beklagen. Aber weiß der Teufel wo sie jetzt wieder steckte und nicht davonkam.

Ein Engel ist ein ätherisches Wesen. Gerne male ich seine Flügel in mein Zeichenbuch. Das Buch besitzt einen grünen Filzumschlag und ist ein Geschenk meiner Mutter zum 15. Geburtstag. Sie weiß, daß ich Großes vorhabe. Zum Beispiel schreibe ich bereits seit drei Jahren an meiner wahrlich großen Bildgeschichte. Sie wird niemals enden, ein wenig also wie die unendliche Geschichte. Nur mag ich keine Drachen, Elfen und so Märchenzeugs. Ich stehe eher auf Engel. Engel in allen Farben und Formen. Das wird groß werden, wenn ich erstmal mit meinem Engelsbuch fertig sein werde.

Wo blieb sie denn? Er verfluchte insgeheim seine Schwester, doch im Innern machte sich eine Unruhe unbekannten Ursprungs breit. Er wußte nicht, woher sie kam. Konnte etwas passiert sein? Aber was denn um Himmels willen? War sie noch an der Schule? Er schaute auf seine Armbanduhr – acht durch. Nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich hatte sie eine ihrer zahlreichen Freundinnen getroffen, Schwätzchen gehalten, Zigaretten gepafft und darüber die Zeit vergessen – vor allem: ihre Vereinbarung. Er wollte noch zehn Minuten warten, dann aber losgehen, sie suchen.

Engel sind Boten zwischen Gott und den Menschen. Sie vermitteln zwischen dem Irdischen und Himmlischen. Aus diesem Grund sind sie wunderschön. Ihr Ebenmaß kennt keinen Vergleich, ihre Körper scheinen vorsichtig in diese Welt getaucht zu sein, denn sie erscheinen stets in der Luft stehend. Sie tanzen vor unseren Augen, wenn wir uns der Göttlichkeit in unserer Welt erfreuen. Sie sind frohgemut und schenken uns ihr Gehör. Solange wir sie nicht begehren.

Er fuhr mit dem BMX zur Schule, aber wie er bereits erwartet hatte, war es stockfinster. Er stellte sein Fahrrad an einem Pfeiler ab und durchsuchte den Schulhof, wobei er sich mit seinem Feuerzeug ein wenig Licht verschaffte. Außer verklebten Kaugummis, weggeworfenen Kippenstummeln und einigen verrotzten Papiertaschentüchern fand er nichts. Vor allem keine Spur von seiner Schwester.
Er schwang sich wieder auf sein BMX und beschloß, nacheinander ihre Freundinnen abzufahren. Es war noch im Rahmen der Zeit, die Eltern werden kaum meckern, wenn er um halb zehn noch fragt, ob vielleicht seine Schwester bei ihnen gewesen war.
Zunächst fragte er bei Anna nach. Anna war die beste Freundin seiner Schwester. Doch seit dem Nachmittagsunterricht, der um 15 Uhr vorbei war, hatte Anna sie nicht mehr gesehen. Das verunsicherte ihn ein klein wenig, da seine Schwester eigentlich unter der Woche nur bei Anna länger ausblieb. Danach suchte er Doris auf. Er wußte, daß sie ein wenig chaotisch war und häufig Personen und Ereignisse durcheinander brachte. Von ihr erfuhr er, daß sie seine Schwester das letzte Mal mit Boris sprechen gesehen hat. Ein kurzer Anruf mit dem Mobilfon ließ diese Info schnell verblassen; sie hatte sich getäuscht, Boris meinte, er habe die Schwester das letzte Mal in der Chemiestunde gesehen. Danach wären sie jeweils in ihre Leistungskurse gegangen: er in Mathe und die Schwester in Englisch.
Jetzt fuhr er mit dem BMX die Stadt ab, schaute in jedes Lokal, jedes Café, jede Kneipe, suchte auch die Spielplätze und Parkanlagen auf, obwohl es mittlerweile tiefe Nacht war. Er konnte seine Schwester nirgendwo finden. Verstört kehrte er nach Hause zurück und sprach mit seinen Eltern.

Als die Gottesmutter von ihrer Schwangerschaft mit dem Heiland erfuhr, suchte sie ein Engel auf und legte ihr die Bestimmung vor. Zum englischen Dichter fuhr ein Engel herab und küßte ihn auf die Stirn. Er setzte sich an seinen Sekretär und schrieb seine Vision der kommenden Erde nieder; noch heute kleben Leseraugen an den Zeilen. In Not und Drangsal rufe man zu den Heiligen und wenn sie gnädig sind, schicken sie einen Engel. In den Bibliotheken füllen sich ganze Regale mit Büchern zur Engelssprache und wieviele schlichte Familienväter haben ihren Verstand bei den Engeln gelassen, da sie dachten, sie könnten Zwiesprache mit göttlichen Boten führen?

Der Vater sprach: “Laßt uns noch bis morgen warten. Ich meine, sie wird langsam erwachsen. Vielleicht übernachtet sie bei jemandem.” So recht wollte er an seine eigenen Sätze nicht glauben, aber die Familie befolgte seinen Rat.
Am nächsten Morgen, es ging bereits auf Mittag zu, riefen sie die Polizei. Die Suche wurde ausgeweitet. Bald erschienen Beamten in Zivil, von der Kripo, und durchstöberten im Beisein der Mutter das Zimmer der Schwester. Sie fanden das Buch mit dem filzgrünen Umschlag und lasen von Engeln, Trompeten, Posaunen, Pauken und Himmelskleidern.
Die Mutter ging mit der Großmutter in die Kirche und zündete eine Kerze an und sie beteten zum Heiligen Antonius, daß ihre Tochter und Enkelin gefunden werde.
Die Suche der Polizei blieb jedoch erfolglos. Auch Hinweise in der Nachbarschaft halfen nicht weiter.
Die Familie fand sich in ihr Schicksal und erduldete diese harte Prüfung.
Zwei Wochen später erhielten sie eine an die gesamte Familie adressierte Postkarte aus Frankreich, mit folgendem Wortlaut:

“Sorry, aber ich habe meinen Engel gefunden. Fühle mich leicht wie ein Vogel. Wir leben in der Provence in einem schönen kleinen Landhaus. Ging nicht anders. Die Schule schmeisse ich. Hab euch alle lieb! Eure ******.”

P.S.: Melde mich wieder, wenn wir gelandet sind.

30. Dez. 2008 - Dominik Irtenkauf

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