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Das Urteil von Christian Endres
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Als die Kongresswahlen im Herbst 1849 in die heiße Phase gingen, waren in Baltimore weit mehr Menschen auf den Straßen unterwegs als üblich. Fast schien es, als wolle das Volk bewusst Interesse an der noch jungen Demokratie und ihren Mitteln bekunden.
So auch an diesem 26. September, als Joseph W. Walker gerade auf dem Weg zum Verlagsgebäude der Baltimore Sun war, wo er als Setzer arbeitete, und allerhand Passanten und Müßiggänger, feine Damen und reiche Herren, Zeitungsjungen und Schuhputzer, das übliche Gesindel aus Bettlern und Strolchen sowie natürlich Wähler und Wahlhelfer die dicht gefüllten Straßen beherrschten.
Trotz des Trubels hielt Walker mitten im Schritt inne, sobald er die Eingangstür eines der stets passabel gefüllten Wahllokale im vierten Bezirk passierte. Neben der Tür zu Ryans Wahllokal kauerte eine erschreckend bleiche Gestalt in schmutziger Männerkleidung am Boden und machte sowohl einen sehr verwirrten, als auch einen sehr kranken Eindruck.
Betrunkene in der Nähe von Wahllokalen waren in diesen Tagen ebenfalls kein ungewöhnlicher Anblick in Baltimore. Trotzdem hatte Walker aus irgendeinem Grund Mitleid mit dem Mann, der aussah, als befände er sich unverschuldet in großer Not - ohne das überhaupt mitzukriegen. Walker wusste, dass es zur gängigen Praxis der Stimmfänger gehörte, irgendwelche armen Kerle abzufüllen, einzuschüchtern und für einen bestimmten Kandidaten stimmen zu lassen.
Lang lebe die Demokratie, dachte Walker und beugte sich ein Stück weit zu dem Pechvogel hinab.
Kann man Ihnen helfen, Sir?, fragte er freundlich und wich vor der üblen Alkoholfahne des Fremden zurück, der weiter lediglich stumpfsinnig vor sich hin starrte.
Walker riss sich zusammen.
Sir?, wiederholte er abwartend.
Jetzt erst hob der blasse Mann den Kopf, blickte aber immer noch durch Walker hindurch. Das dunkle Haar auf seinem Kopf war in wirrer Unordnung; selbst sein Schnauzbart sah struppig aus, wie das Fell einer schwarzen Katze.
Walker konnte förmlich sehen, wie der gebeutelte Kerl um einen klaren Gedanken kämpfte. Schließlich gab der mitgenommene Fremde Walker nach mehreren Versuchen mit schwerer Zunge die Adresse eines gewissen Dr. Snodgrass. Walker schickte dem Arzt kurzerhand ein Telegramm und bat ihn um Hilfe.
Danach lehnte er sich lässig gegen die Wand des Wahllokals und ignorierte die neugierigen Blicke der Leute, während er auf das Eintreffen des Arztes wartete und zumindest dafür sorgen wollte, dass dessen Bekannten bis dahin kein weiteres Leid geschah. Doch immer, wenn Walker selbst einen raschen Seitenblick auf den Mann in den löchrigen Kleidern riskierte, schauderte er unwillkürlich.
Ob es dem armen Teufel überhaupt helfen würde, wenn ein Arzt kam? Hätte er nicht gleich jemand anderen rufen sollen?
Die trüben, ausdruckslosen Augen des blassen Fremden schienen sich jedenfalls längst anderen Gefilden zugewandt zu haben und nur noch auf zwei Münzen für die bald wohl sehr kalten Lidern zu warten, um den Fährmann bezahlen zu können.
Etwas später, an einem anderen Ort.
Das Erste, was er hörte, war ein leises Platschen. Es klang nach einem Ruder, das in der Ferne mit gleichmäßigen Zügen ins Wasser getaucht wurde. Das Geräusch entfernte sich, bis es vollends verklang. Blinzelnd schlug er daraufhin die Augen auf und schloss sie sogleich wieder stöhnend, als der rote Lichtschimmer ihn blendete.
War er ohnmächtig gewesen? Wo war er? Was war dies für ein seltsamer Ort? Hatte er nicht nach New York gewollt? Und wie war noch gleich sein Name...?
Eine eigentümliche Ruhe überkam ihn, als er instinktiv spürte, dass all das nicht länger wichtig war.
Nicht hier. Nicht an diesem Ort.
Fühlte man sich so, wenn man durch die Pforten des Himmels geschritten war? Befreit von allem irdischen Ballast, die Seele so rein wie die eines Neugeborenen?
Mit diesem Gedanken wurde er sich zum ersten Mal seiner Umgebung bewusst, die alles in allem reichlich unhimmlisch aussah: Schwarzes, scharfkantiges Lavagestein schien das einzig Feste in dieser Welt, die von einem blutigen Schimmer am Horizont beherrscht wurde, durch den sich ein Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung einstellte. Rotes, leicht flackerndes Dämmerlicht und schwarzes Lavagestein, wohin man blickte. Von einem Fluss und einer Fähre derweil keine Spur. Vielleicht hatte er sich das Platschen auch nur eingebildet...
Trotzdem erhob sich der Mann mit steifen Bewegungen, klopfte seine Hosenbeine ab und marschierte in die erstbeste Richtung los, die ihm unter diesem unwirtlichen Himmel in den Sinn kam. Kleine Lavastücke knirschten unter seinen Sohlen oder ließen ihn gelegentlich stolpern.
Nach ein paar Stunden, die genauso gut Tage oder Jahre hätten sein können, tauchte am rötlich beleuchteten Horizont vor ihm erstmals etwas auf, das die Eintönigkeit der albtraumhaft-apokalyptischen Region durchbrach: Spitze schwarze Türme, die wie Vogelkrallen aussahen, rissen den blutigen Himmel in Fetzen und schienen sich in die Eingeweide der dunkelroten Wolken zu bohren. Kuppeln, so schwarz und groß wie das Herz Afrikas, spannten sich über Tausende Fassadenteile mit winkelreichen Ornamenten und spitzen kleinen Giebeln. Geflügelte Wesen aus schwarzem Stein klammerten sich in ihrer starren Blindheit an die zerklüftete Fassade, die aus dem für diesen Ort so typischen, jedoch auf Hochglanz polierten Lavagestein bestand.
Es war, als hätte eine dämonische Macht das Bild von König Artus strahlendem Camelot im altehrwürdigen England pervertiert und grotesk ins Dunkle verzerrt. Oder als habe der große Merlin, nachdem er dem Wahnsinn anheimgefallen war, im Vorhof der Hölle und nur knapp außerhalb Kerberos Reichweite ein Albtraumspiegelbild seiner einstigen Wirkungsstätte erbaut.
Unschlüssig blieb der Wanderer vor dem riesigen Bauwerk stehen und fuhr sich nervös mit der Hand über den Schnurrbart.
Als zwei große Türflügel, die der Form von Rabenschwingen nachempfunden waren und die der Mann bis dahin vor lauter Elementen gar nicht bemerkt hatte, wie von Zauberhand nach innen aufschwangen, war ihm allerdings klar, was man von ihm erwartete und dass es von Anfang an nicht in seiner Macht gestanden hatte, sich gegen den fremden Willen dieses Ortes zu wehren.
Also folgte er der Einladung.
Im Inneren war es eisig kalt und zugig. Ein wildes Heulen aus fernen Korridoren zupfte beständig an den Nerven des Wanderers und ließ ihn hinter jeder Ecke Fenrir vermuten. Sein Atem bildete kleine Wolken vor seinem Gesicht. Eis bildete eine dunkle Kruste an den pechschwarzen Vorsprüngen unter der Decke und klebte wie alter Sirup an rabenschwarzen Säulen. Der Korridor selbst schien derweil ein ebensolches chronografisches Paradoxon zu sein wie der Marsch zu diesem tempelgleichen Ort: War der dunkle, von einem fahlen rötlichen Glimmen durchzogene Gang nun beinahe endlos wie die Tunnel zu den goldenen Grabkammern der Pharaonen - oder war er so kurz wie der letzte Atemzug eines Mannes?
Der Gedanke entglitt dem Wanderer, als er durch ein weiteres großes Flügeltor trat und sich in einem gigantischen Raum mit hoher Decke wiederfand. Die riesige Kuppel aus schwarz getöntem Glas, die er von außen schon als Zentrum des Gebäudes mit all seinen Giebeln und Türmen ausgemacht hatte, erstreckte sich über den gesamten Saal. Das blutige Licht des höllischen Albtraumhimmels draußen sickerte durch das Glas und tauchte den Raum in eine gespenstische Mischung aus Schatten, Dunkelheit, eisiger Kälte und dem Flackern des nahen Weltuntergangs.
Komm näher, Sterblicher.
Der Mann erschrak nicht, als die kalte Luft, die wie ein unruhiges Gespenst aus alten Tagen unentwegt durch den Raum zu schwappen schien, die ruhig ausgesprochenen Worte vom anderen Ende der Halle an ihn herantrug. Pflichtschuldig setzte er seinen Weg fort und durchquerte den Saal unter der Kuppel.
Irgendwann erhob sich im rötlichen Zwielicht vor ihm ein pechschwarzes Podest, und er verlangsamte seine Schritte.
Auf dem Podest stand ein großer, kunstvoll geschnitzter Thron aus schwarzem Holz. Die Gestalt, die darauf saß, war nicht weniger beeindruckend als ihr Sitz, obwohl der Wanderer aufgrund des weiten Kapuzenmantels nur wenig mehr von seinem massigen Gegenüber sah als dessen Proportionen und seinen silbern glänzenden Bart; das Gesicht lag gänzlich in Schatten verborgen.
Als sich das Schweigen in die Länge zog, fasste der Mann all seinen Mut zusammen.
Was ist das für ein Ort?, fragte er respektvoll.
Ein Traum, lautete die brummige Antwort.
Mein Traum, nehme ich an, murmelte der Wanderer und runzelte die fahle Denkerstirn. Und wieso seid Ihr hier?
Weil es dein letzter Traum ist und ich deshalb Macht über ihn habe, Sterblicher. So ward es einst vereinbart.
Die Beschaffenheit dieses Ortes ließ nur eine weitere Frage zu.
Warum bin ich ... hier?
Der Verhüllte lachte rau. Der Laut hätte besser auf ein blutiges Schlachtfeld voller toter Krieger aus vergangenen Zeiten gepasst. Die Temperatur in der Halle schien noch weiter zu fallen.
Unter der weiten Kapuze blitze kurz etwas silbern auf.
Du bist hier, um die Verantwortung für deine Taten zu unternehmen, Sterblicher - für deinen Diebstahl.
Ehe der Wanderer etwas auf diese Anschuldigung erwidern konnte, schlug die Gestalt endlich die Kapuze zurück.
Odin weidete sich am Ausdruck der Erkenntnis und dem Schrecken seines menschlichen Gegenübers.
Sein verbliebenes Auge funkelte wie frisch gefallener Schnee.
Dies ist einer der letzten Orte, an die ihr uns lasst, kleiner Sterblicher, grollte der Allvater. Christus lasst ihr in eure Herzen uns, eure alten Götter, sperrt ihr dafür aus. Wir müssen also nehmen, was wir kriegen. Träume. Wahn. Den Tod.
Unser Unterbewusstsein, flüsterte Odins Gast und hatte plötzlich auch eine Erklärung für den Kobold des Perversen, der die letzten Tage auf seiner Schulter gesessen zu haben schien und ihm immerzu ins Ohr geflüstert hatte, dass doch noch ein Glas oder noch ein Zug gehe oder dass dieser oder jener ganz bestimmt ein feiner Gentleman und Freund sei...
Odin hatte den Wanderer hergelockt. Mit dem letzten Bisschen seiner archaisch-göttlichen Macht, das ihm verblieben war, hatte der nordische Göttervater den Mann und sein Umfeld in Baltimore so lange manipuliert, bis sich der Wanderer selbst geschadet hatte - bis dieser wie ein Wahnsinniger auf dem schmalen, messerscharfen Grat zwischen Leben und Tod getaumelt war, von dem Odin ihn wie eine reife Frucht gepflückt haben musste.
Es war lange her, dass sich Entschlossenheit und Trotz im müden Herzen des Wanderers regten nicht von der kindlichen, naiven Sorte, sondern von der männlichen, reifen, überzeugten, stolzen und aufrechten. Erhabener Stolz.
Was werft Ihr mir vor?, fragte er mit fester Stimme und blickte grimmig durch die Atemwölkchen vor seinem Gesicht.
Ein Lächeln umzuckte Odins bartgerahmte Lippen und ließ sein verbliebenes Auge diesmal wie einen Angelhaken aufblitzen.
Sehr schön, kleiner Mann. Du beweist Mut. Das mag ich. Dann, mit harter, eisiger Stimme: Du hast einen der unseren verschleppt. Mehr noch: Du nahmst ihn gefangen und hast ihn wie ein Tier in einem eurer Zoos herumgezeigt. Das war ein Affront gegen unsere gesamte Rasse, Sterblicher. Von dem persönlichen Leid, das du verursacht hast, ganz zu schweigen.
Ich ...
Du wusstest nicht, was du getan hast? Ich weiß. Du weißt es ja noch nicht einmal jetzt. Und dennoch, Unwissenheit schützt nicht vor Strafe. Odins Auge brannte sich mit frostiger Intensität in die Seele des Wanderers. Leise, fast drohend sagte der mächtige Gott des Nordens dann: Weißt du, wie es sich angefühlt hat, schon wieder eines meiner Augen, eines meiner Kind beraubt zu werden? Schon wieder einen Kameraden zu verlieren? Nur weil du, mein kleiner Sterblicher, nicht wusstest, mit was für einer Macht du gesegnet bist?
Macht?, fragte der Wanderer verwirrt.
Für einen Augenblick schien es, als habe Odin Mitleid für die verirrte, verwirrte Seele vor seinem Thron, der er in den letzten Tagen so übel mitgespielt hatte. Die Hand jedes Wirts, jedes Straßenverkäufers und jeden Gauners in Baltimore, die der weltlichen Hülle des Wanderers Alkohol und andere berauschende Mittel zu lächerlichen Preisen überlassen oder ihm anderswie Leid zugefügt hatte, war von Odins Willen gelenkt worden. Ein ermüdender Kraftakt für den aus den Herzen der Menschen vertriebenen Asen aber ein lohnender, wie man sah.
Schließlich stand der Mann nun hier und erwartete Odins Urteil und seinen Richtspruch.
Seine Strafe.
Niemand weiß, wieso es dir gestattet war, dich hinter den Träumen der Menschen zu bewegen und damit in unsere Wirklichkeit zu gelangen. Fatalerweise haben wir es dir nach langer Diskussion erlaubt und dich nicht daran gehindert, weiter vorzudringen. Nicht einmal, als du beinahe den Wolf geweckt hättest, nur um daraus einen närrischen Reim zu machen. Wir mochten auf gewisse Art und Weise sogar, wie du später in deiner Welt stets mit Worten zu beschreiben versuchtest, was du im vermeintlichen Schlaf gesehen und gefühlt hast. Auch wenn der alte Sturluson nicht viel von deinem Versmaß hielt. Ein Grunzen zwischen Anerkennung und Missbilligung. Aaaahhhh ... deine Gedichte. Odin schüttelte das mächtige Haupt und strich sich über den Bart. Deine Macht wuchs, ohne dass du etwas davon bemerkt hast, kleiner Mensch. Sie wuchs und wuchs und wuchs, bis du nicht mehr nur Eindrücke, sondern sogar einen der unseren mit in deine Welt nehmen konntest. Und so wurde aus einem Dichter aus Boston der nächste Prometheus. Das verdammte Pi also wieder, schloss der Gott leise, nur um sein Urteil wieder laut und klar zu verkünden: Und wie er wirst auch du für deine Sünden büßen.
Es lag kein Groll in diesen Worten, die Odins Gast ohnehin nur noch halb hörte. Denn plötzlich erinnerte er sich an gute wie an schlechte Tage, an Höhen wie an Tiefen. An das Leben eines Dichters, Ehemannes, Literaturkritikers, Redakteurs und exzentrischen Grenzgängers. Das Leben eines Gefallenen, der nur selten dann aber richtig geflogen war. Und umso schlimmer fiel ...
Der Rabe, murmelte der Wanderer irgendwann leise.
Genau. Der Rabe, wiederholte Odin nun sichtlich missgelaunt und lehnte sich ein wenig zurück. Wegen ihm wirst du diesen Ort nicht so schnell verlassen, Sterblicher, fuhr der Rabengott aus dem Norden der alten Welt dann mit wuchtiger Bestimmtheit fort. Seine tiefe, volltönende Stimme füllte mühelos die gigantische Hallte unter der von rotem Zwielicht geküssten Kuppel. Du wirst keine Vergebung erlangen und so lange hier in deiner eigenen Hölle schmoren, wie das Geschenk, das du den undankbaren Menschen unwissentlich hinterlassen hast, Bestand haben wird. Und das wird es, mein sterblicher Freund, das wird es.
Der Wanderer ließ sich seine wahren Gefühle nicht anmerken und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. Er hätte das Ausmaß seiner Strafe gerne in greifbaren Worten oder einer Zahl gehört, um es sich besser vor Augen zu führen.
Wann kann ich dann wohl ... weiterziehen?
Es schien ihm, als würde Odin hinter seinem weißen Bart traurig lächeln.
Da lenkte eine Bewegung in den Schatten hinter Odins massigen Schultern die Aufmerksamkeit des Wanderers auf sich.
Erst jetzt realisierte er, dass der große Rabe, der bis dahin wie versteinert auf der Rückenlehne von Odins Thron gesessen hatte, kein besonders kunstvolles Schnitzwerk war, sondern ein Vogel aus Fleisch und Blut oder dem, was ihm in dieser Welt am nächsten kam. Es war der größte, schönste und zugleich schrecklichste Rabe, den der Wanderer jemals gesehen hatte.
Und der Furcht einflößendste.
Erst recht, als er rau und voller Boshaftigkeit krächzte:
Nimmermehr!
Gott helfe meiner armen Seele, flüsterte der weltliche Körper des Wanderers am 7. Oktober 1849 gegen fünf Uhr morgens und hauchte im Washington College Hospital in Baltimore seinen letzten Atemzug aus.
Edgar Allan Poe wurde nur 40 Jahre alt.
19. Jan. 2009 - Christian Endres
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