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Die Beobachterin
von Eva Markert

Manfred Lafrentz Manfred Lafrentz
© http://www.literra.info
Norna griff nach den blauen Weintrauben, zupfte eine Beere ab, steckte sie sich zwischen die Zähne und biss hinein. Ein wenig rötlicher Saft lief über ihr Kinn, sie wischte die Tropfen mit dem Handrücken ab. Dabei überlegte sie kurz, ob sie klingeln sollte, um sich ein wenig Käse und Wein bringen zu lassen, entschied sich jedoch dagegen. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, genoss die Trauben und blickte durch das Fenster in den parkähnlichen Garten hinaus.
„Du musst es tun.“ Das hatte die Beobachterin immer gesagt. Unermüdlich. Tagelang. Nächtelang. Bis Norna es einsah – und handelte.
Sie wartete, bis die Kinder schliefen. Dann schälte sie sich wie in Zeitlupe aus den Bettlaken, schlich durch den dunklen Flur ins Zimmer ihres Ältesten, schloss geräuschlos die Tür hinter sich und glitt auf lautlosen Füßen an sein Bett. Ein Nachtlicht brannte, so wie in den anderen Kinderzimmern. Alle ihre Kinder hatten Angst in der Dunkelheit. Das Lämpchen – Marienkäfer auf einem gelben Lampenschirm - sandte ein warmes, freundliches Licht aus. Es streichelte die geröteten Schlafwangen des Jungen und ließ seine blonden Haare schimmern. Er bewegte sich im Schlaf.
Für einen Augenblick wurde ihr Blick weich.
„Du musst dich befreien“, drängte die Beobachterin.
Das Kind stöhnte leise. Seine Augäpfel bewegten sich unruhig hinter den geschlossenen Lidern.
„Es sind Blutsauger“, wisperte die Beobachterin. „Sie saugen dein Leben aus dir heraus.“
Sie hatte recht.
Norna beugte sich hinunter. Mit einer raschen Bewegung riss sie das Kissen unter dem Kopf ihres schlafenden Sohnes hervor und drückte es auf sein Gesicht.
Er zappelte, trat, schlug mit den Armen um sich.
Sie keuchte vor Anstrengung.
Seine Bewegungen wurden schwächer.
Sie warf den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zu und presste mit voller Kraft, presste immer weiter, bis sein Körper leblos dalag.
Schwer atmend ließ sie sich auf dem Bett nieder. Langsam, ganz langsam zog sie das Kissen fort. Sein Mund war erschreckend weit aufgerissen, er nahm fast die gesamte untere Gesichtshälfte ein. Aus der Mundhöhle löste sich etwas Schwarzes, schob sich durch die blassen Lippen und hockte, dunkel und böse, auf seinem Gesicht. Ein feindseliger Blick aus winzigen Augen traf sie. Dann breitete die Fledermaus ihre Schwingen aus, hob sich in die Luft und segelte auf das geöffnete Fenster zu. Dort machte sie kehrt und flog pfeilschnell auf sie zu.
„Er ist ein Blutsauger, selbst im Tode“, sagte die Beobachterin.
Norna unterdrückte einen Schrei, versuchte, ihr Gesicht zu schützen. „Geh weg von mir“, stieß sie hervor. Sie lugte zwischen ihren Fingern hindurch und sah, wie die Seele ihres Sohnes zum Fenster hinausschwebte und mit der Dunkelheit verschmolz.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Nachthemd klebte ihr am Leib. Sie öffnete die Tür und lauschte in den dunklen Flur. Alles ruhig.
Wie auf Katzenpfoten schlich sie ins Zimmer der Zwillinge.
Sie kniete sich auf den Boden und begann mit dem Mädchen, das in dem unteren des doppelstöckigen Bettes schlief.
„Mami, was machst du da?“
Das Kind, das oben lag, hing mit dem Oberkörper aus seinem Bett. Norna hob ihr Gesicht. Große Augen sahen auf sie herab, die feinen Spitzen langer blonder Haare kitzelten ihre Wangen. Norna lächelte. „Wir spielen“, raunte sie, ohne das Kopfkissen loszulassen. „Siehst du, wie viel Spaß es macht?“ Sie deutete mit dem Kinn auf den zuckenden Körper unter ihren Händen. „Gleich spiele ich auch mit dir.“
„Ich … Ich will nicht.“
„Halt den Mund“, zischte Norna, „du wirst nicht gefragt. Diesmal nicht.“
„Mami …“ Die Kleine fing an zu weinen.
„Dann eben nicht!“ Norna sprang auf, packte ihren Kopf, drehte ihn ruckartig zur Seite und schnitt so den Lebensfaden des Kindes ab.
Ihre Knie zitterten. Sie sah zu, wie zwei Fledermäuse nebeneinander durchs Zimmer glitten, als würden sie sich bei den Händen halten. Immer wieder prallten sie gegen die Scheiben. Norna taumelte zum Fenster, öffnete es weit und entließ die Seelen ihrer Töchter in die Nacht.
Nun blieb nur noch das Baby.
Es erwachte, als sie an seiner Wiege stand, und begann zu strampeln. Dabei gurgelte und quietschte es und lachte sie aus zahnlosem Mund an. Sie wandte den Blick ab, als sich ihre Hand auf das kleine Gesicht legte. Es war ganz einfach. Das Baby wehrte sich nur schwach.
Norna verlor sich in Gedanken.
Dieses andere – das fünfte Kind, das in ihr heranwachsen wollte – blutete immer noch aus ihr heraus. Heute Morgen war sie zum Arzt gegangen, ohne Hugo etwas davon zu sagen. Er, der Wächter, hätte es nicht zugelassen. Er hockte im Zentrum des Netzes, das ursprünglich ihr Leben gewesen war. Ein luftiges, symmetrisch perfektes Netz aus schimmernder Seide, das sie selbst gesponnen hatte. Nur er war schuld daran, dass die Spinnfäden sie nun fesselten.
Etwas kratzte an ihrer Hand, dann spürte sie einen scharfen Schmerz. Erschrocken zog sie die Finger weg. Die flinke, kleine Fledermaus, die aus dem Mund des Babys zur Decke hinaufschoss, hatte sie gebissen. Norna leckte das Blut ab und blickte nach oben. Im Sturzflug hielt die Fledermaus auf ihr Gesicht zu. Instinktiv senkte sie den Kopf.
Das Tier verfing sich in ihrem Haar. Es kämpfte, befreite sich und riss ihr dabei ein paar Haare aus.
„Verschwinde!“, kreischte Nora. Sie schlug nach der Fledermaus und jagte sie zum Fenster in die Schwärze hinaus.
Sie öffnete die Fensterflügel weit und atmete tief ein. Kühle Nachtluft legte sich lindernd auf ihr glühendes Gesicht. Norna fühlte sich auf einmal federleicht, fast so, als könnte sie schweben. Eine solche Unbeschwertheit hatte sie schon lange nicht mehr empfunden. Sie lachte. Die Beobachterin hatte die Wahrheit gesagt. Ihr Leben gehörte nun wieder ihr, ihr ganz allein.
Oder … Nein, noch nicht ganz. Das Lächeln schwand aus ihrem Gesicht. Er, der Herrscher des Spinnennetzes, in dem sie sich verfangen hatte, lauerte noch dort. Aber die Beobachterin hatte ihr genau erklärt, was sie tun musste. Norna fürchtete sich nicht, als sie an das Messer dachte, das unter ihrem Bett verborgen war.
Bald würde Hugo Munin heimkommen, sich neben sie legen, mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen, um sie nicht zu wecken. Sie würde sich schlafend stellen und dann, wenn sie seine gleichmäßigen Atemzüge hörte, unter das Bett greifen und …
Sie horchte auf. In der Ferne hörte sie ein gleichmäßiges, dumpfes Geräusch. Zwei Lichter näherten sich dem Haus. Sein Wagen. Schnell schloss sie das Fenster und eilte leichtfüßig den Gang entlang zum Schlafzimmer. Es war, als würde sie vom Wind getragen, ihr wehendes Nachthemd – fein und durchsichtig wie aus Libellenflügen gemacht – spürte sie kaum.
Als Hugo ins Schlafzimmer tappte, lag sie zusammengerollt im Bett, die Decke bis zu den Ohren hochgezogen.
Nachdem er das Licht gelöscht hatte, rollte sie sich auf den Rücken und wandte unmerklich den Kopf. Mondlicht fiel in den Raum. Sie konnte seine Nase erkennen. Wie der große, kräftige Schnabel eines Raben ragte sie aus seinem Gesicht. Mit Leichtigkeit hätte er damit ihre Fesseln zerreißen können. Stattdessen hielt er sie gefangen, lebenslang.
Hugo Munin, dachte sie, die Beobachterin hat mir die Augen geöffnet: Du hast mir das Joch aufgezwungen. Und dafür musst du büßen.
Sie stellte sich vor, wie ein Mondstrahl unter ihr Bett kroch und die Klinge zum Glänzen brachte. Ein verstohlenes Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln.
Seltsame Geräusche drangen plötzlich an ihr Ohr. Es klang wie ein Rascheln. Sie wagte nicht, den Kopf zu bewegen. Aus den Augenwinkeln erahnte sie eine Bewegung, und dann lösten sich fünf Fledermäuse – eine nach der anderen – aus der Finsternis und flogen gemächlich mit rudernden Flügelschlägen auf sie zu. Norna lag stocksteif da und starrte ihnen entgegen.
Nun kreisten die Fledermäuse über ihrem Bett, der Ring zog sich zusammen, sie drehten sich schneller und immer schneller, gleichzeitig verloren sie an Flughöhe. Schon strichen Flügelspitzen und Krallen über ihre Wangen.

Szenentrenner


Norna konnte kaum noch atmen. Ein Wimmern löste sich aus ihrer Kehle.
„Sie wollen dir die Augen auskratzen“, warnte die Beobachterin, „sie wollen dein Blut – immer noch.“
Norna schrie, schrill und in höchster Panik.
Eine grelle Lampe flammte auf.
Augenblicklich zog sich das lichtscheue Gesindel in die Schatten zurück.
„Norna! Was hast du?“ Mit Armen wie Schraubstöcke hielt er sie fest. Hugo Munin, der Rabenmann, Aufseher in ihrem Gefängnis aus klebrigen Spinnweben.
„Die Kinder“, kreischte sie.
„Was ist mit ihnen?“ Seine Stimme klang alarmiert.
„Sie … sie … greifen an.“
Er ließ sie los und stürzte davon.
Sie schaltete das Deckenlicht ein und blickte sich um. Irgendwo mussten sie sein, diese Blutsauger, vielleicht unter dem Bett, hinter der Tür oder in den Falten der schweren Vorhänge.
Hugo kam zurück. Er wankte auf Norna zu. Tränen liefen über sein bleiches Gesicht. „O Gott“, ächzte er, „o Gott, o Gott …“ Er umklammerte sie. „Die Kinder ...“ Ein gequältes Stöhnen kam aus seinem Mund. „Sie sind tot.“ Sein Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, er presste sie an sich, als wollte er sie ersticken.
Norna machte sich los und betrachtete ihn. Sein Gesicht war von Schmerz so verzerrt, dass sie ihn im ersten Augenblick kaum erkannte. Sie streckte ihre Hand aus und legte sie über die Rabennase. „Hugo“, fragte sie, „welche Kinder meinst du?“
Als ob ein Schalter umgelegt worden wäre, hörte er auf zu schluchzen. Seine Bewegungen waren hölzern, als er die Hände auf ihre Schultern legte und sie schüttelte. „Unsere Kinder!“, keuchte er. „Sie sind tot! Verstehst du? Unsere Kinder sind tot!“
„Ach, das meinst du.“ Sie winkte ab. „Sie waren Blutsauger. Und sie lassen mich immer noch nicht in Ruhe.“ Tränen füllten ihre Augen.
„Du wirst frei sein“, hatte die Beobachterin ihr versprochen. Hatte sie sich geirrt? Oder sie sogar belogen?
Norna lehnte sich in ihrem Sessel zurück und steckte sich noch eine Weintraube in den Mund. Das alles lag nun schon lange hinter ihr. Es war gut gewesen, dass sie der Beobachterin vertraut hatte, denn an jenem Abend änderte sich ihr Leben grundlegend. Es war wurde leicht und ruhig, geordnet und rein – so wie sie es sich ursprünglich gesponnen hatte. Sie schwebte durch angenehme Tage, umgeben von Menschen, die ihr fast jeden Wunsch von den Augen ablasen. Sie war ohne Angst, ohne Sorgen – ganz und gar frei.
Nur manchmal, nachts, sah sie fünf Fledermäuse vor ihrem Fenster hin und her flattern. Sie setzten sich aufs Fensterbrett und schauten mit blutunterlaufenen Augen in ihr Zimmer, so als warteten sie darauf, hineingelassen zu werden. Doch so dumm war sie nicht, o nein! Sie wusste genau, was sie wollten: das wundervolle neue Netz zerstören, das sie sich gewebt hatte. Und das konnte sie nicht zulassen!
Ihr Leben wäre perfekt – wenn er nicht wäre, Hugo Munin, der Rabenmann. Er kam regelmäßig, und solange er bei ihr war, fühlte sich auch ihr Leben wieder an wie klebrige Spinnfäden. Er sprach ständig von der Vergangenheit und von Kindern, einem Jungen, zwei Mädchen und einem Baby. Er berichtete, wie sie geboren wurden, zum ersten Mal gelächelt und laufen gelernt hatten. Was ihre ersten Worte gewesen waren. Er zeigte ihr Fotos von Festen, von Orten, die sich nicht kannte. Er erzählte von Begebenheiten, die er wohl lustig fand, denn er lachte. Manchmal sprach er auch von einer Nacht, in der er diese Kinder tot im Bett gefunden hatte. Dann erstickten jedes Mal Tränen seine Stimme. Norna schwieg und ließ ihn nie an sich heran – und dennoch: In seiner Gegenwart fühlte sie sich wieder so schwach und hoffnungslos wie früher.
Doch nicht nur zu ihr sprach der Rabenmann, sondern auch zu IHM. Norna war das nicht recht. ER war es nämlich, dem sie alles verdankte. Er ließ sie das Leben weben, das ihr gefiel. Doch sie fürchtete, dass Hugo Munin IHN beeinflussen würde. Und wenn ER seine schützende Hand von ihr nähme, würde sie alles verlieren.
Deshalb war sie auf der Hut, sagte nie viel und hörte IHM und dem Rabenmann lächelnd zu.
Dennoch spürte sie, dass sich SEIN Verhalten nach und nach veränderte. ER sprach anders mit ihr. Und er sagte und fragte dasselbe wie der Rabenmann. Zum Beispiel, ob sie nach Hause zurückkehren wolle. Sie wusste genau, was ER von ihr erwartete, sie durfte auf keinen Fall etwas falsch machen und nickte. ER fragte auch, ob sie Trauer über den Verlust der Kinder empfinde, und sie gab ihm die Antwort, die er hören wollte. Auf gar keinen Fall wollte sie IHN erzürnen.
Doch so große Mühe sie sich auch gab, sie konnte es nicht verhindern, dass die Webfäden ihres neuen Lebens immer dünner wurden. ER wollte das Netz zerstören und der Rabenmann half ihm dabei.
Norna seufzte und schluckte die letzte Weintraube hinunter. Es wurde dämmrig. Sie knipste das Licht an. Gleich würde man ihr das Abendessen servieren.
„Wenn du es willst, kannst du für immer bei IHM bleiben“, hörte sie plötzlich eine Stimme.
Norna schaute sich um. War es die Beobachterin, die da zu ihr sprach?
„Du brauchst nur die Klinge tief in die Brust des Rabenmannes zu stoßen.“
Die Beobachterin war nirgends zu sehen, doch jetzt erkannte Norna ihre Stimme.
„Das Messer unter dem Bett ist unerreichbar für mich“, wandte sie ein.
„Zunächst musst du IHN verlassen. Nur für kurze Zeit. Wenn du es willst, lässt ER dich ziehen.“
„Ich gehe nicht fort von hier. Niemals!“
Norna hörte ein leises Geräusch am Fenster. Eine Art Ticken und Schaben. Die Fledermäuse saßen auf der Fensterbank und klopften mit ihren Krallen an die Scheibe. Sie stand auf, um die Vorhänge zuzuziehen.
Als sie ihr Spiegelbild im Glas erblickte, erstarrte sie. Das war nicht sie, die junge Frau im duftigen Kleid, um deren Lippen stets ein Lächeln spielte. Diese Frau war älter. Streng und verbittert sah sie aus. Wachsam. Es war die Beobachterin. Unverwandt schaute sie durch das Fenster zu ihr herein.
„Ich helfe dir“, sagte die Beobachterin. „Ich mache dich stark. Du musst mich nur zu dir hereinlassen.“
Mit einem Ruck schloss Norna die Vorhänge.

21. Mar. 2009 - Eva Markert

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