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Atlantis von Achim Stößer
Mario Moritz © http://www.sf-welten.de Der Ozean ... eine trübgrüne Brühe wie die Biomilch eines längst vergessenen Jahrhunderts. Winzige Kräuselwellen auf Wasserhügeln und diese auf Bergen und Tälern täuschten unvollkommen Selbstähnlichkeit vor.
Myriaden blaugrüner Algen färbten die See, als Einzelwesen dem bloßen Auge unsichtbar, doch als Konglomerat eine komplexe, den Globus umspannende Kultur, wenn auch unorganisiert und vom Bewußtsein eines Ameisenvolks weiter entfernt als eine Ameisenlarve von Marie Curie oder Lise Meitner. Es war kein denkender Ozean, und es kostete Mühe, Leben darin zu finden, um ihn nicht einen toten Ozean nennen zu müssen. Denn abgesehen von unzähligen Miesmuscheln und aasfressenden Seesternen, denen die Kadaver der Muscheln einen reichlich gedeckten Tisch bereiteten, waren die Algen die nahezu einzigen Organismen darin.
Im Norden stand die Sonne, deren Kraft kaum genügte, die graugelben Wolkenkissen am Himmel zu durchdringen. Ihr spärliches Licht ertastete zwei Dinge, die in der wogenden Umgebung völlig fremd wirkten: einen Felsen, aus der Brandung ragend, und eine Gruppe von drei Frauen, deren Körper, lose eingehüllt in wehende, kaum von den sie umfließenden Nebelschwaden unterscheidbare Gewänder, aufrecht einige handbreit über den höchsten Wellenkämmen schwebten. Gischtschauer trieben in Windböen von der winzigen Küste her an ihnen vorbei.
Der Felsen erinnerte an ein ungeheures Tortenstück. In den Schnittkanten des steil abfallenden Kliffs waren deutlich die Schichten von Buttercreme und Biskuit auszumachen. Am Fuß der Steilküste lagen, halb im Wasser, halb an der Luft, wie Krümel runde Brocken schwarzen Basaltgesteins, abgeschliffen wie Kiesel, doch niemand hätte den kleinsten von ihnen mit den Armen umfassen können. Verfaulter Grünalgenschleim beschmierte stinkend die Grenze zwischen Wasser und Land, die Äonen zuvor der erste Nicht-mehr-Fisch überschritten hatte. Braune Schaumberge türmten sich vor den tosend brandenden Wellen auf.
Früher muß hier ein ganzer Kontinent gewesen sein ..., sang Aljuscha. Es waren nicht diese Worte, die sie sang, vielleicht nicht einmal Wörter überhaupt, vielmehr mathematisch-musikalische Bedeutungsfelder in Klängen, verknüpft durch logische oder formale Operationen über Rhythmus und Melodie, doch es war eine so simple Äußerung, daß ihre ungefähre Bedeutung in gewöhnlicher Sprache auszudrücken ist. Der Klang ihrer Worte war wie Kalk. Wie alle Menschen konnte sie quasigleichzeitig viele verschiedene und voneinander unabhängige Gespräche führen; getrennte Segmente waren nur durch eine lautunabhängige Eigenschaft verbunden, die, auf akustische Phänomene reduziert, vielleicht als Klangfarbe bezeichnet werden könnte; es ist unmöglich, diesen Tonfall anders zu beschreiben, als ihn durch völlig wesensfremde Begriffe anzudeuten: die Konsistenz von Kalk, die Farbe von Bromdämpfen, der Geschmack gekühlter Wassermelone oder die Zähigkeit von Honig. Gedankensprünge wie in einem Buch, aus dem wahllos Seiten gerissen werden, kennzeichneten gewöhnliche Unterhaltungen. Tagealte Gesprächsfetzen wurden fortgesetzt, die zusammenhangslos zu sein schienen wie Jahrhunderte zuvor die Fabrikation von Konzertflügeln, die Ausrottung afrikanischer Elefanten, die Abholzung tropischer Wälder und damit die Veränderung des Weltklimas, wie der Ausbau des internationalen Transportwesens und die Absenkung der Kontinentaltafeln, wie Landwirtschaft und Gehirnschäden Neugeborener. Doch es gab kausale Ketten, hier wie dort: Wie in Mägen von Kühen und in unter Wasser gesetzten Reisfeldern Methan entstand, das in den oberen Luftschichten das Ozon zerstörte, dreiatomigen Sauerstoff, der bis dahin einen Großteil des ultravioletten Anteils des Sonnenlichts abgeschirmt hatte, Lichtwellen, die wiederum das Erbmaterial in den Zellen der menschlichen Haut schädigten, verbunden mit einem Anstieg der Häufigkeit maligner Melanome, weshalb Touristen in äquatornahen Ländern ausblieben; die Folge war eine Verarmung der ansässigen Bevölkerung, worauf an den Küstengebieten wieder vermehrt gefischt wurde, was wegen der sinkenden Fischpreise und des verstärkten Einsatzes der Fischereilobby zu erhöhtem Fischverzehr führte, gefolgt von Schädigungen menschlicher Föten durch eine Zunahme des Quecksilbergehalts in der Nahrung der Mutter. So linear hingen Ursache und Wirkung natürlich nicht zusammen: Die Ozonschicht wurde auch durch Fluorchlorkohlenwasserstoff zerstört; viele Touristen mieden die Strände nicht wegen der Krebsgefahr, sondern wegen der Algenpest, die wiederum durch Landwirtschaft und Industrie verursacht wurde; Quecksilber war nicht der einzige Schadstoff in Fischen; Föten wurden auch durch polychlorierte Biphenyle geschädigt ... was als Kette erschien, entpuppte sich als engverflochtenes, unüberschaubares Netz.
Ja, gab Lyn wortlos im Kalkton zurück, indem sie halb die Augenlider schloß, ein reduziertes Nicken, das sich als Zeichen der Zustimmung erhalten hatten, während Mimik und Gestik als Mittel der Kommunikation einen Facettenreichtum erlangt hatten, der allein schon genügt hätte, eine Lautsprache zu ersetzen. Auch Berührung, körperliche Kontakte jeder Art, waren Formen der Verständigung. Selbst Ektohormone Pheromone, Duftstoffe dienten oftmals dem Austausch von Information, wenn auch nicht hier, in dieser giftigen Atmosphäre, die ein Mensch nicht überleben konnte. Neben Stickstoff und Wasserdampf war die dünne Luft reich an atembarem Sauerstoff, doch auch Giftgase wie Ozon oder verschiedene Kohlenstoffverbindungen waren vorhanden, und mit den Wassertröpfchen sprühten in der Gischt strahlende Teilchen in die Luft. Häufig war es so heiß, daß das Meer an der Oberfläche zu sieden begann. Zwar rochen die Frauen die warme Luft, die gesättigt war mit Sumpfgas, das längst die letzten Reste des Ozongürtels zerstört hatte, und sie fühlten den Wind und das Wasser auf der Haut, doch ihre wirklichen Leiber ruhten lichtminutenweit entfernt in scheintotem Zustand. Was hier über dem Ozean schwebte, waren homomorphe Abbildungen, die die wahrgenommenen Informationen zeitgleich an ihre Dualkörper übermittelten.
Es war ein Anblick von pervertierter Schönheit, der sich ihnen bot, und sie empfanden ihn wie sie die pilzförmige Rauchwolke, die bei der Explosion einer Atombombe in der Lufthülle entsteht, empfunden hätten, wie Mitleid für die gequälten Menschwesen in Bildern einer Käthe Kollwitz oder wie das kindlich-verspielte, welpenhafte Suchen eines Schwertwals nach Zuneigung, eines Wals, dessen Zahnreihen es gewohnt sind, das Fleisch von Seehunden zu zerreißen. Doch sie erfuhren nicht nur den Zustand dieser Welt über die Gesamtheit ihrer dualen Sinne, sie wußten auch um ihre Vergangenheit und ahnten ihre Zukunft.
Früher mochten Ozeanriesen wie Leviathane diese Wellen befahren haben. Doch längst gab es keine Schiffe mehr, die mit Ballastwasser oder geernteten Fischen und Muscheln Algenstämme von einem Weltmeer zum anderen verschleppten oder das Meer mit Öl und giftigen Chemikalien verseuchten.
... Atlantis vielleicht ..., sang Aljuscha, Kalk in der Stimme. Sie und Lyn waren Anfang oder Mitte Zwanzig, doch auch in fünfzig oder hundert Jahren würden sie nicht viel älter aussehen. Twi, die Dritte in der Gruppe, hatte hennarotgefärbtes Haar, was darauf schließen ließ, daß ihre Menarchefeier noch keine Woche zurücklag. Das war der Anlaß für ihren Besuch auf diesem Planeten.
Die Dualkörper von Lyn und Aljuscha hielten sich an den Händen: Sie liebten sich, waren ein Paar, Twis Eltern; Twis biologische Mutter war Aljuscha.
Diese Elternschaft war nicht wesentlich anders als die der eingeschlechtigen Rennechsen, von denen immer noch einige Exemplare in Twis und Lyns und Aljuschas Zuhause in einem hermetisch verschlossenen, binnengeregelten Biotop lebten; viele noch nicht ausgerottete Arten hatten bei der Flucht von der Erde erhalten werden können, auch Orcas gab es einige, wenn auch keine Grundel mehr, keinen Dickkopffalter, keinen Plumplori, keinen Klippschliefer und keinen Mann. Alle Menschen waren Frauen. Bei den texanischen Echsen war das Pseudosexualverhalten mehr als ein archaischer Trieb aus der Zeit der zweigeschlechtigen Fortpflanzung: Die Balz regte die Entwicklung der Eierstöcke an. Das Gehirn der Echsen war wie das aller Wesen mit zwei Geschlechtern mit männlichen wie weiblichen Verhaltensmustern gleichermaßen ausgestattet, so daß es, als die Männchen verschwanden, für die Weibchen kein Problem war, periodisch auf typisch männliches Verhalten umzuschalten und mit anderen Weibchen zu balzen. Das Gehirn paßte sich den veränderten Bedingungen an.
Es gab auch zweigeschlechtige Arten von Rennechsen. Die unisexuellen waren aus der Kreuzung nahe verwandter Arten hervorgegangen, deren Nachkommen Klone waren, genetisch mit der Mutter identische Individuen.
Und wie bei den Echsen war auch bei den Menschen die körperliche Liebe unbedingte Vorraussetzung, eine Parthenogenese, die Entwicklung unbefruchteter Eizellen, auszulösen. Und so war Lyn in gewisser Weise mehr als nur soziales Elter für Twi.
Niemand weiß, sang Lyn zu gerade diesem Thema, ein Wochen zurückliegendes Gespräch aufgreifend, und ihre Stimme klang jetzt wie der Duft von altem Heu, war es eine natürliche Mutation? oder das Ergebnis von Genmanipulationen?
Gemeinsam tauchten sie ihre Dualkörper ins Wasser. Wabernde Farben und Formen umgaben sie. Phytoplankton trieb vorbei, vielschuppige Goldalgen, Verbände einzelliger Kieselalgen. Ihren Vorfahren hatten ungereinigte Abwässer als Nahrung gedient, salzarme braune Fahnen voller Phosphor- und Stickstoffverbindungen aus überschüssigem Dünger und ungeklärter Masttierjauche, die aus Flußmündungen ins Meer geströmt waren. Sauerstoff war in den Ozeanen geschwunden. Schnecken und Krebse überlebten. In Meeren und Flüssen ertranken die Fische.
Die drei Frauen schwammen durch einen Wald aus Blattang, in den wie silberne Perlenketten die Laichschnüre von Nacktschnecken verwoben waren. Pulsierend näherte sich ihnen eine Ohrenqualle auf der Jagd nach algenfressender Beute. Vergeblich versuchte Twi mit ihr zu kommunizieren.
Kein einziges Luftbläschen entwich aus Aljuschas dualem Mund, als sie jetzt sang, mit einer Stimme, als ob die Sonne durch eine Zitronenscheibe betrachtet wird: Ein Waldmensch Orang-Utan war es wohl, was sie meinte wird kaum fragen: Gibt es kletternde Wesen auf anderen Bäumen? Doch schon der Südaffe wollte wissen: Gibt es keulenschwingende Feinde im nächsten Tal? Und der angeblich weise Mensch begehrte zu erfahren: Gibt es intelligentes Leben auf anderen Welten? und horchte mit technischem Brimborium in den Raum. Aber wer, wer fragte nach ethischen Wesen? Niemand ... niemand!
Und Twi erwiderte Lyn, wie Heu: In jedem Fall war es eine nützliche Veränderung. Auch, als es noch Männer gab! Denn wo der Genaustausch überflüssig war, war das Erbgut wesentlich weniger anfällig für Schäden durch Umweltgifte oder Radioaktivität. Und sie war erst recht von Vorteil, als nicht nur Milliarden Frauen, sondern die gesamte männliche Bevölkerung an etwas so lächerlich Klingendem wie einer der Schweinehüterkrankheit verwandten Spirochätose, die eigentlich dazu gedacht gewesen war, feindliche hauptsächlich männliche Armeen zu vernichten, gestorben waren und keine Jungen mehr geboren wurden. Es gab weitere Anpassungen, die in die selbe Richtung drängten: Die Plazenta der Frauen bestand nicht mehr nur aus drei, sondern aus sieben Schichten, um eine bessere Trennung zwischen Mutter und Kind zu erreichen, so daß Unterschiede im Erbgut nicht dazu führen konnten, daß das Kind als Fremdkörper behandelt und abgestoßen wurde.
Dann sang Twi wie Essig Dinge, die sich nicht formulieren lassen.
Aljuscha antwortete in ebenso essighafter Stimme, dann fuhr sie mit Heu auf den Lippen fort: <7>Natürlich hat es schon in früheren Zeiten Fälle von menschlicher Parthenogenese gegeben, wenn auch nicht wie in verklärten, abergläubischen Mythen. Denn ein durch Jungfernzeugung entstandenes Kind war nicht nur notwendigerweise weiblich, sondern wegen des einfachen Chromosomensatzes körperlich und geistig behindert. Doch die Töchter der Neuen Menschen sind diploid.
Die Haare der drei Frauen schwebten unter Wasser wie in Schwerelosigkeit, eine Parodie auf die geisterhaft tastenden Tentakel des düsteren Tangs. Lyn und Aljuscha trieben nach oben, durchstießen die Oberfläche und glitten langsam nordwärts.
Die Wolken waren verflogen, die brennende Sonne im Nordosten stach mit gleißenden Fingern nach ihnen und ließ die Schatten der Sträucher auf dem Felsen wie Klauen nach ihnen greifen.
Wie der Geruch von Regen in der Straßenschlucht einer Beton- und Asphalt-Stadt, ein Geruch, den Lyn nicht kannte, sang sie von einem uralten psychologischen Versuch, in dem Gruppen von Männern und Gruppen von Frauen verschiedene Aufgaben zu lösen hatten. Die Männergruppen, resümierte sie, kamen eindeutig zu mehr Lösungen.
Aljuscha kannte den Versuch, und sie ergänzte: Ja, doch die Lösungen der Frauen waren deutlich besser. Und all diese Unterschiede waren durch nichts als gesellschaftliche Mißstände bedingt.
Ein Schwarm der dominanten Landlebensform schoß vorbei und durch die dahingleitenden Dualkörper hindurch, ohne sie zu beachten: Schaben, Nachkommen der Blatella germanica, bereit zum Luftangriff auf die Felsenfestung, die vor ihnen lag, winzige, vier Zentimeter lange Kamikazeflieger auf dem Weg zu den Ritzen und Spalten, in denen der Feind sich verborgen hatte. Der Feind: Periplaneta americana, Amerikanische Schaben, verkrochen in der feuchten Wärme, die sie so sehr liebten.
Twi folgte den beiden anderen Frauen, streifte mit ihren bloßen, dualen Füßen verdorrte, halbverfaulte, in der brennenden Sonne trocknende Büsche auf dem Scheitel des Eilands und sang, nach ein paar unübertragbaren Sätzen wie saurer Wein, mit kalkigem Ton: ...oder Australien.
03. Jul. 2009 - Achim Stößer
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