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Septembermond
von Tanya Carpenter

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

TRIADEM
A. Bionda, T. Carpenter
10 Beiträge / 29 Kurzgeschichten vorhanden
Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Der Septembermond stand blass und voll am Himmel, tauchte die Landschaft in diffuses, unwirkliches Licht. Gemächlich tuckerte der Ford über die Straße. Es war ein erfolgreicher Abend gewesen. Scott Ewers war zufrieden mit dem Verlauf der Geschäftsverhandlungen, der Deal war seiner Firma so gut wie sicher.
Seit einem halben Jahr gehörte er nun zur Manageretage vom Brandon & Brandon Pharmceuticals, aber dies war der erste große Coup, den er für das Unternehmen einfädeln konnte. Entsprechend stolz und gut gelaunt fuhr er aus der Stadt nach Hause, in das kleine Blockhaus am Rande der Siedlung, das er kürzlich erst erworben hatte. Weit genug von den anderen Häusern weg, um ihm die Privatsphäre zu schenken, die er brauchte. Aber nahe genug, um zu Fuß die Einkäufe im Dorf zu erledigen. Seine Nachbarn waren nett, respektieren seine Zurückhaltung. Nur einige von ihnen hatten merkwürdige Andeutungen zu dem Haus und seiner Geschichte gemacht. Dass ein Fluch darauf liegen solle. Und dass alle bisherigen Besitzer, stets alleinstehende Männer, auf mysteriöse Weise verschwunden waren. Scott lachte darüber. Er war noch nie abergläubisch gewesen. Es war ein tolles Haus mit einem schönen Gartenidyll am Waldrand gelegen. Was wollte man mehr. Die riesige Wohnfläche war lediglich durch Schrankreihen in Küche, Ess- und Wohnbereich unterteilt, was einen riesigen Raum bedeutete, kaum dass man von der Veranda durch die Tür eingetreten war. Nur Bad und Schlafzimmer waren separat. Alles was ihm jetzt noch fehlte, war die passende Frau an seiner Seite. Dann wäre er auch nicht mehr alleinstehend und die Schauermärchen müssten ihn noch weniger kümmern.
Scott war durch und durch zu beneiden. Er war anfang dreißig, sah gut aus, mit kurzen schwarzen Haaren und türkisfarbenen Augen, sein Körper war durchtrainiert und braun gebrannt. Der ideale Dressman. Darüber hinaus hatte er eine steile Karriere hingelegt und sich innerhalb von nur fünf Jahren vom Laborassistenten zum drittmächtigsten Mann bei Brandon & Brandon hochgearbeitet. Jetzt trug er statt weißem Kittel einen 1000-Dollar-Anzug und führte Verhandlungen mit der Führungsetage anderer Pharma-Firmen oder Forschungs-Institute.
Noch völlig in Gedanken versunken, bemerkte er nicht, wie er in eine dichte Nebelwand fuhr. Erst, als ein Schatten von rechts aus dem Wald kam und ihm direkt vors Auto lief, schaltete sein Gehirn wieder auf aktiv. Die Sicht war keine fünf Meter weit, Scott trat das Bremspedal voll durch, aber trotzdem ertönte Sekunden später ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem hellen, markerschütternden Schrei. Wie das Heulen eines verletzten Tieres. Der Wagen schlingerte ein paar Mal, kam dann zum Halten. Scott schaute in den Rückspiegel, doch die Nebelwand hinter ihm war so dicht, dass er nichts sah.
Verdammter Mist!, dachte er. Irgendetwas hatte er erwischt. Ein Reh? Ein Wildschwein? Ein Fuchs? Es war so plötzlich da gewesen, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Er öffnete die Fahrertür, stieg aus und näherte sich vorsichtig der Stelle, an der er den Aufprall gespürt hatte. Ein verletztes Tier konnte gefährlich sein und ihn vielleicht angreifen. Was sollte er dann tun? Er hatte nichts zu einer Verteidigung dabei. Gerade, als er überlegte, ob er nicht lieber den Wagenheber aus dem Auto holen sollte, um eine Waffe zur Hand zu haben, schälten sich die Umrisse eines leblosen Körpers aus dem Nebel. Doch da lag kein Tier auf dem kalten, feuchten Asphalt. Es war eine Frau, zierlich, mit langem silberblondem Haar. Und sie war nackt!
Scott keuchte. Die Tatsache, dass die Gestalt unbekleidet war, wog weitaus weniger als die Erkenntnis, dass er gerade einen Menschen überfahren hatte. Er rannte die letzten Schritte, hockte sich neben die Verletzte und drehte sie vorsichtig um. Hoffentlich war sie nicht tot, hoffentlich war sie nicht schwer verletzt.
Er sah Blut, es verklebte ihr feines, weiches Haar, floss in einem dünnen Rinnsaal ihre Schläfe hinab und über ihre Wange, ließ die Lippen feucht schimmern, wo es sie benetzte.
„Miss? Hallo Miss, können Sie mich hören. Oh bitte, bitte, wachen Sie auf!“
Die Frau stöhnte leise, regte sich in seinen Armen. Erleichtert atmete Scott auf. Da öffnete die Fremde die Augen und ein kalter Schauer lief unwillkürlich über Scotts Rücken. Helle, unwirkliche Augen, wie aus Mondlicht gegossen, starrten in an.
„Wo bin ich? Was ist passiert?“, fragte sie mit einer Stimme, wie wilder, süßer Honig. Abermals erschauerte er, diesmal jedoch weit weniger unangenehm.
„Sie sind mir vors Auto gelaufen“, antwortete er ruhig, obwohl sein Herz raste. „Ich bringe Sie jetzt in ein Krankenhaus. Wie heißen Sie eigentlich?“
„Luna“, antwortete sie und blickte sich verwirrt um. „Kein Krankenhaus. Es geht mir gut. Nur ausruhen.“
„Sie sollten aber ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, wie schlimm ich Sie erwischt habe. Vielleicht haben Sie innere Verletzungen, eine Gehirnerschütterung ganz bestimmt.“
Luna, was für ein seltsamer Name. Und wo blieb der Nachname? Doch er wollte sie in ihrer offensichtlichen Verwirrung nicht weiter bedrängen.
„Kein Krankenhaus“, bat sie noch einmal. Ihre Stimme klang so flehentlich, dass sich Scott wider aller Vernunft überlegte, ob er ihrem Wunsch entsprechen sollte. „Bitte, nur schlafen. Kann ich bei Ihnen ein bisschen schlafen?“
Ihr Blick huschte ängstlich umher. Der Nebel begann sich zu lichten und vor jedem Schatten am Waldrand zuckte sie zurück.
Scott zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Auf jeden Fall musste er ihr etwas anziehen. So konnte er sie ohnehin nicht in ein Krankenhaus bringen. Die würden doch gleich alle denken, dass er ihr etwas angetan hatte. Wer würde ihm denn schon die Story glauben, dass eine nackte Frau zufällig vor seinen Wagen gelaufen war? Er konnte schon die Schlagzeilen sehen.
Vielversprechender junger Pharma-Manager unter Vergewaltigungsverdacht.
Das konnte er im Moment nicht gebrauchen. Da war es wohl doch besser, die Idee mit dem Krankenhaus zu verwerfen. Sein Gewissen meldete leisen Zweifel an, doch er wischte ihn beiseite. Sie hatte ja selbst darum gebeten, dass er sie nicht in ein Krankenhaus brachte. Es war somit ihre Entscheidung.
Mit seiner Hilfe versuchte Luna aufzustehen, doch ihre Beine gaben sofort wieder unter ihr nach. Scott zögerte nicht lange, sondern hob sie auf seine Arme und trug sie zum Auto hinüber. Auf dem Rücksitz lag eine Decke, die er ihr reichte. Ihre Bewegungen waren unsicher, als sie sie nahm und sich darin einwickelte. Scott streckte die Hand aus, um ihr das blutverklebte Haar aus dem Gesicht zu streichen, doch da schreckte Luna jäh zurück, kauerte sich mit weit aufgerissenen Augen in die Ecke ihres Sitzes und gab Laute von sich, die Scott niemals einem Menschen zugeordnet hätte – hätte er nicht selbst erlebt, dass sie von dem Mädchen stammten.
„Alles okay, Luna.“ Er lehnte sich wieder auf seinem Sitz zurück, hob die Hände zum Beweis, dass er ihr nichts tun würde. „Ich werde Sie nicht anrühren. Versprochen. Entschuldigen Sie, es war nur ein Reflex.“
Sie beruhigte sich augenblicklich wieder. Aber in ihren Augen flackerte es, die Pupillen weiteten sich und ihre Lippen zitterten. Was war diesem armen Geschöpf nur widerfahren? Vielleicht hatte sie wirklich jemand vergewaltigt und sie konnte sich nicht mehr erinnern. Das würde ihre Blöße erklären, ebenso wie die Tatsache, dass sie nachts allein durch den Wald lief.
Ich sollte die Polizei verständigen, dachte Scott bei sich, sonst hängt man mit am Ende noch was an, wenn ich es nicht melde.
Er startete den Wagen und fuhr erst einmal nach Hause. Dort konnte sich Luna duschen, etwas Warmes anziehen und sich hinlegen, während er mit der Polizei sprach. Die würden dann sicherlich auch einen Arzt verständigen.


Szenentrenner


Den Wagen parkte er direkt vor dem Haus statt wie sonst üblich in der Garage. Luna konnte zwar wieder selbst laufen, aber sie war immer noch schwach.
Scott platzierte sie auf dem Sofa, reichte ihr einen Whiskey, um ihre Lebensgeister zu wecken und ging dann ins Schlafzimmer und nach irgendetwas zu suchen, das sie anziehen konnte. Es fand sich ein rotweißes Baumwollhemd, das ihm längst zu klein geworden war. Aber ihr würde es vielleicht passen. Wortlos nahm Luna es entgegen und ließ sich dann ins Badezimmer bringen.
„Eine heiße Dusche wird Ihnen gut tun. Ich mache Ihnen einen Tee, wenn Sie mögen? Haben Sie auch Hunger?“
Sein Gast schüttelte stumm den Kopf, presste das Hemd vor sich wie einen Schild und ging zur Duschkabine. Dort legte sie das Hemd ordentlich beiseite bevor sie das Jackett von ihren Schultern zu Boden gleiten ließ. Verlegen wandte sich Scott ab, als das Licht auf ihren nackten Körper, ihre schimmernde Haut fiel. Sie schien keine Scham zu haben, und er konnte nicht verhindern, dass er doch noch einmal einen Blick riskierte. Feingliedrig war sie, schlank und makellos, wenn man von dem verkrusteten Blut an ihrem Kopf absah. Aber nicht einmal blaue Flecke hatte sie von dem Aufprall davongetragen. Hatte er sie vielleicht wirklich nur am Kopf gestreift? Aber wieso am Kopf? Ihre Beine, ihre Hüften, die wären auf Höhe des Autos gewesen. Ihr Kopf?
„Ich würde gern alleine duschen“, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt. Scott errötete bis in die Haarspitzen, dass er sie in ihrer Blöße so angestarrt hatte.
„Natürlich. Sicher. Tut mir leid.“
Kaum dass die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hörte er auch schon das Wasser in der Dusche rauschen. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, ein hysterisches Lachen bildete sich tief in seiner Kehle, aber er unterdrückte es. Ganz ruhig bleiben. Schön systematisch vorgehen. Wie bei einem Laborexperiment. Was war jetzt das wichtigste? Die Polizei. Ein Tee für Luna. Die Polizei war wichtiger. Aber er konnte das Teewasser schon aufsetzen. Bis er auf der Wache angerufen hatte, würde es kochen.
Scott setzte den Kessel auf den Herd, kam aber nicht mehr dazu, diesen auch anzuschalten, da stand Luna bereits wieder hinter ihm. Sie lächelte schüchtern. Das Hemd reichte ihr bis fast zu den Knien, ihre Hände verschwanden vollständig in den Ärmeln.
„Es steht Ihnen“, meinte Scott und wusste selbst, wie dämlich und unwahr das klang.
„Danke!“
Ihr Gesicht war jetzt sauber, kein Blut mehr, das Haar frisch gewaschen, schon wieder trocken und duftete nach seinem Kräutershampoo, als es seidig-weich über seinen Arm floss, während sie sich vorbeugte, ihren Kopf reckte, um über seine Schulter zur Anrichte zu schauen, wo noch die Reste seines gestrigen Abendessens standen. Ein halbes Steak und ein paar Kartoffeln. Ohne zu fragen ging Luna hinüber und griff nach dem Fleisch, das sie gierig und wenig damenhaft in sich hineinschlang.
Scott räusperte sich. „Wenn Sie jetzt doch Hunger haben, dann kann ich Ihnen gern eine Kleinigkeit machen“, bot er noch mal an.
Genüsslich schleckte sich sein Gast die Finger sauber und kam dabei näher. Sie wirkte kein bisschen unsicher oder wackelig mehr, bewegte sich jetzt sicher und selbstbewusst. Ihr Blick wanderte an ihm hinab und wieder hinauf, dann legte sie den Kopf zur Seite, als wäge sie etwas ab. Es war keine Verletzung mehr an ihrer Stirn zu erkennen. Woher verdammt noch mal war dann das Blut gekommen? Irgendetwas stimmte hier nicht.
Luna stand jetzt direkt vor ihm. Ihr Atem duftete süß, die hellen Augen blickten wach und klar. Sie hob eine schmale Hand an seine Wange, der Baumwollstoff rutschte zurück, er konnte den Puls unter der Haut pochen sehen.
Langsam näherte sich ihr Gesicht dem seinen, die Lippen leicht geöffnet, bis sie seinen Mund streiften. Ihre Zunge stieß sanft vor und unwillkürlich gewährte er ihr Zugang, versank in einem innigen Kuss mit einer Frau, die ihm völlig fremd war und die er vor wenigen Stunden mit seinem Wagen angefahren hatte. War es wirklich so passiert?
Ihre Hände glitten über seinen Brustkorb, öffneten die Knöpfe des Hemdes, berührten warm und zärtlich seine Haut.
„Bringst du mich ins Schlafzimmer?“, fragte sie mit Unschuldsmiene. „Ich würde mich gern ein wenig hinlegen.“
Scott hob sie auf seine Arme, sie wog fast nichts. Er trug sie in sein Schlafzimmer, legte sie auf den weichen Laken nieder, glitt neben sie. Ohne Zögern öffnete sie seine Hosen, streifte ihm das lästige Kleidungsstück ab. Als er ihr das Hemd ein wenig höher schob, fand er sie darunter immer noch nackt, ihre Blüte feucht und schimmernd, als warte sie nur auf ihn.
Einladend spreizte sie ihre Schenkel ein Stück, ihre Finger krallten sich in sein Haar, als er den Kopf in ihren Schoß senkte und ihn mit der Zunge koste. Ihr Duft, ihr Geschmack berauschten ihn. Was war das nur für eine Frau? So etwas konnte doch unmöglich real sein. Aber sie war es, lag als süßes Gewicht in seinen Armen, wand sich lustvoll und willig unter seinen Zärtlichkeiten. Er erkundete ihren Körper mit seinen Händen, seinen Lippen. Ihren flachen Bauch, die festen Brüste, deren Knospen sich unter seinem saugenden Mund hart aufstellten, die weiche Kehle.
„Komm!“, flüsterte sie lockend, umschlang seine Hüften mit ihren Beinen und zog ihn tief in sich hinein.
Scott hatte in seinem Leben schon mit vielen Frauen geschlafen, aber das hier war etwas völlig anderes. Sie war eng und gleichzeitig weich, wie für ihn allein gemacht. Seidig feucht und nachgiebig. Sein Rhythmus wurde schnell und hart, aber sie beschwerte sich nicht über seine Stöße, stöhnte nur lustvoll unter ihm, stachelte ihn immer weiter an, bis sich ihrer beider Lust schließlich in einem gewaltigen Höhepunkt entlud.
Scott schrie auf, als er spürte, wie sich sein Samen in Lunas Körper ergoss. Und gleich darauf schrie er noch einmal, als diese wundervolle, geheimnisvolle Frau ihm ihre Zähne in die Schulter schlug und ihre Nägel tief in sein Fleisch bohrte. Er fühlte wie sie sich ihr Schoß um ihn schloss, wieder und wieder. Erst als die letzten Zuckungen ihres Orgasmus vorüber waren, gaben ihre Zähne ihn wieder frei und Luna sank erschöpft in die Kissen zurück. Auf ihren Lippen ein zufriedenes Lächeln – und Blut. Sein Blut.
„Shit!“, fluchte Scott und betastete die Wunde.
Betreten senkte Luna den Blick. „Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Es ist nur... es war... einfach so schön.“
Verwirrt blickte er auf die Frau, die ihn gerade noch so voller Leidenschaft geliebt hatte und nun so schüchtern und verlegen dreinschaute.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Darum stand er einfach auf und ging Richtung Bad, um sich den Biss genauer zu betrachten.
Er schaltete kein Licht an, der Mond von draußen sorgte für ausreichend Helligkeit, um den Weg zu finden. Mitten im Hauptraum blieb er stehen. Von draußen drangen Geräusche an sein Ohr. Sehr beunruhigende Geräusche. Langsam näherte sich Scott einem der großen Fenster. Er mochte seinen Augen kaum trauen. Draußen liefen mindestens zwei Dutzend Wölfe vor seiner Haustür herum. Graue und Schwarze unterschiedlicher Größe und Statur. Er drehte sich um, schon von weitem sah er durch die hohe Fensterfront, dass auch der Garten von diesen Tieren wimmelte. Sie rannten auf und ab, knurrten, hechelten, kratzten an den Türen und Fenstern, als begehrten sie Einlass.
Was war hier los?
„Verdammte Scheiße!“, fluchte Scott. Das Rudel hatte die Hütte umzingelt. Sie waren überall. Auf dem Zuweg, zwischen den Büschen, auf dem Rasen. Plötzlich sprang einer auf die Veranda, setzte die Vorderpfoten auf ein Fenstersims und starrte ins Innere. Scott sah sich Auge in Auge mit dem riesigen Tier, das bedrohlich seine Zähne fletschte und ein Knurren vernehmen ließ.
Plötzlich hörte er einen Schrei aus dem Schlafzimmer. Luna!, dachte er und vergaß den Wolf vor dem Fenster. Er stürmte nach hinten, fand die Tür verschlossen vor, rammte seine Schulter dagegen. Einmal, zweimal. Beim dritten Mal gab das Holz endlich nach, die Tür flog auf, krachte gegen die Wand – das Zimmer war leer. Wind von draußen ließ die Vorhänge wie Gespenster in den Raum schweben. Mit zwei Schritten hatte Scott den Raum durchquert, trat auf die hintere Terrasse, schnitt sich die Sohlen an den verstreuten Scherben auf, die das zersplitterte Glas auf dem Pflaster hinterlassen hatte. Er fluchte als das Blut glitschig unter seinen Füßen hervorsickerte.
Suchend blickte er sich nach Luna um, doch er sah von ihr keine Spur. Aus dem nahen Wald erklang langgezogenes Heulen. Einige Wölfe verschwanden im Dickicht. Scott glaubte eine silbrige Haarsträhne in den Schatten verschwinden zu sehen und rannte los. „Luna“, rief er. Nur die Wölfe antworteten ihm heulend.
Purer Selbstmord, unbewaffnet in einen dunklen Wald voller aggressiver Wölfe zu laufen, noch dazu nackt, doch daran verschwendete er keinen Gedanken. Er musste Luna retten.
Äste peitschten sein Gesicht, zerkratzen seine Arme. Seine nackten Füße blieben an Baumwurzeln hängen, mehrmals fiel er hin. Die Schmerzen an seinen blutenden Sohlen bemerkte er längst nicht mehr.
Auf einmal stand er am Rand einer Lichtung, ein großer Fels in Form eines Wolfkopfes ragte in deren Mitte empor, darauf saß Luna. Unversehrt, wieder mit seinem Baumwollhemd bekleidet, das ihr viel zu groß war. Die schlanken Beine lugten nackt darunter hervor.
„Unsere Herrin!“, erklang eine dunkle Stimme hinter ihm. Er drehte sich um, blickte dem schwarzen Wolf entgegen, der auf dem Fenstersims gestanden hatte. Konnte das sein, dass dieser Wolf gesprochen hatte. „Nun auch deine Herrin“, knurrte das Tier erneut und bei der Bewegung seiner Lippen gab es keinen Zweifel mehr daran, dass es sprach.
Scott wurde eiskalt. Er begann sich gerade zu fragen, ob er verrückt wurde oder lediglich träumte, da zerriss ihn ein glühend heißer Schmerz vom Kopf bis zu den Zehen. Ein Gefühl, als würde seine Haut aufreißen, weil sie ihm nicht mehr passte. Und nichts anderes geschah. Wie an einer feinen Naht entlang teilte sie sich auf seinem Rücken, er hörte seine Knochen knacken, sich neu anordnen, ein grässliches Gefühl. Glitschig und warm flossen Blut und andere Körperflüssigkeiten über ihn hinweg. Er rang nach Atem, japste, schrie, heulte, schlug wild um sich. Der aufkommende Wind pfiff in seinen Ohren, das Rauschen der Wälder erschien ihm ohrenbetäubend laut. Sein Kiefer brach, schob sich auseinander, seine Hände krümmten sich zusammen, gruben sich tief ins weiche Erdreich. Er roch die Wölfe um sich herum, sie bildeten einen Kreis, hechelten, winselten, beobachteten ihn. Doch keiner griff ihn an. Musste das Blut sie denn nicht anlocken? Und was war mit Luna?
Dann war es vorbei. In das Rudel kehrte Ruhe ein, der Wind flaute ab, die Bäume schwiegen, der Schmerz ebbte ab. Matt und erschöpft lag Scott da, zu Füßen des großen Wolfes, der ihn nicht mehr anknurrte, sondern stattdessen abschleckte, wie einen neugeborenen Welpen. Hinter sich hörte er Schritte und gleich darauf streichelte Luna ihm zärtlich über Kopf und Nacken. „Erwache, mein Gefährte. Erwache und folge mir.“
Unsicher erhob sich der graue Jungwolf auf seine Pfoten, schwankte, schüttelte den Kopf, um die letzte Verwirrung abzuschütteln. Er blickte der Frau mit dem Silberhaar und den Mondlichtaugen nach, die rückwärts wieder zu ihrem Wolfsfelsen schritt, lächelnd, ihn mit sanfter Stimme lockend.
Vorsichtig setzte er seine Pfote auf den feuchten, dunklen Waldboden und trat hinaus auf die Lichtung – ins Mondlicht.

03. Sep. 2009 - Tanya Carpenter

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