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Nicht ohne Wut sei vom Lamm das Blut von Marc-Alastor E.-E.
Pat Hachfeld © http://www.dunkelkunst.de Von einer Nacht sei erzählt, die sich mir mit all ihren fulminanten Schattierungen darbot, und deren Anmut dem üppig gewölbten Bauch einer Schwangeren gleichkam, denn der klare, vom gleißenden Mond erhellte Himmelsraum schien alles Leben zu umspannen; diese Nacht, die durchwirkt war mit den schwarzen Geflechten von Bäumen und Sträuchern, welche wie gierige Krallen anmuteten, und die dabei den feuchten Ruch des Herbstes verströmten, mochte dem Menschen trotz alledem viel zu nebensächlich erscheinen, um von ihr fortan zu erzählen. Dabei ist eine jede Nacht ein frei geschaffenes Kunstwerk, welches sich trotz gleicher Farben und entsprechend handwerklichem Geschick stets frisch und andersartig offenbart. Würde sie gleichwohl mit neuerlichen Geschehnissen aufwarten, und wären jene womöglich noch von aufsehenerregender Art, möchte sie gangbar Eingang in die Erzählungen der Menschen finden. So aber blieb sie lediglich eine unbeachtete Spanne, die sich einzig und allein im Gedächtnis eines Menschen einzuprägen wußte, wenn sie mit einem persönlichen Ereignis verknüpft werden konnte. Ich aber schenkte ihr trotzdem Beachtung, denn ich liebte sie und ihre unmittelbare Sprache, die so erfüllt war vom Seufzen und Säuseln, vom Stöhnen und Schluchzen. Ich hörte sie allzuoft sagen: »In mir hat nichts ein Ende, es sei denn, ich bin es selbst.« Doch die Nacht spricht es mit Strenge und mit Muße, doch nicht frei von ihrer gelahrten Eitelkeit. Oft dünkt mir, sie verachtet Leib und Leben, mit eben jener Leidenschaft, die andere lieben macht. Vielleicht liebe ich sie deshalb, alldieweil soviel von mir ihr ähnelt.
Als das kleine Ruderboot der Zollbeamten von unserem Einmaster abgelegt hatte und im bleiernen Nebelband, das die eitle Nacht von ihrem Spiegel trennte, verschwunden war, erschauderte ich bei der Erkenntnis, daß es die Nacht nie selbst zu einer Sage gebracht hatte. Zumindest waren mir keine solchen Sagen bekannt. Niemand erzählte von der Schönheit einer Nacht nur um ihrer selbst willen. Grübelnd senkte ich den Blick auf den schwingenden Glanz des Wassersund ich spürte, wie sich meine kalten Hände am Holz der Reling versteiften. Es war Zeit und Ort für Schwermut gewesen. Und für Sagen. Damals, in jener Nacht, von der zu berichten ich nicht ablassen mag.
Das gedämpfte Rauschen des Wassers, wie es sich am hohl klingenden Rumpf brach und rieb, das Knirschen und Knacken der gefrierenden Taue und die entfernt klingenden Laute von Rudern, die ins kalte Wasser griffen, vermittelten mir zusammen mit dem Schwanken unseres Schiffes den Eindruck seltsamer Schwerelosigkeit. Dabei kam ich mir innerlich eher wie ein Stück leblosen Holzes vor, welches sich mit dunklem Wasser vollgesogen hatte und schwer wie ein Stein geworden war. Und itzt, da wir an diesem unseligen Ort unserer Bestimmung angelangt waren, erschienen mir meine Gedanken wie ein gewichtiger Traum, der im kalten Naß des Rheins zum schwarzen Boden sank. Unser Kahn lag ruhig inmitten des Flußarms, der das Eiland des Mäuseturms vom Ufer, auf dessen Abhang die Burg Ehrenfels thronte, trennte. Alle Hast der letzten Wochen war nun von uns gewichen.
Die Zollner waren dagegen der Eile verfallen. Man hatte ihnen vernehmlich angemerkt, daß es ihnen wenig behaglich gewesen war, des Nachts auf den bewegten Rhein hinauszufahren, um den Zoll für vermeintliche Waren einzufordern. Um so erschrockener waren sie gewesen, als man ihnen erklärt hatte, es seien überhaupt keine Waren an Bord, die es zu verzollen gelte, lediglich drei Reisende befänden sich auf dem Schiff, von denen einer krank sei und darniederliege. Das kriegerische Gehabe und der garstige Mißmut der Beamten waren auf der Stelle vergangen. Sie hatten fahl und bläulich gewirkt.
Was wir denn im Sinne hätten, hier inmitten der Nacht zu halten, so bekümmerten sie sich. Ich hatte nur auf den Mäuseturm gezeigt, der zu unserer Linken wie ein knöcherner Finger von einem flachen Eiland aus dem Rhein emporragte. Da waren die Zollner leblos geworden, und zu vernehmen gewesen war ihr Bibbern und ihr Frösteln. Man hatte mir schließlich erwidert, daß dies kein Ort sei, um Scherze über denselben zu treiben, und wenn uns solcherart wohl vorgeschwebt, dann sei es Gott, der sich erbarme, bevor der Teufel von Bingen unser aller Seelen sich zu holen trachte. Alsdann war mir nach Lachen zumute gewesen, doch ich hatte sie nur angestarrt. Die zwei Zollner von geringerem Rang hatten derart verängstigt ausgesehen, daß sie sicherlich ohne Zaudern umgehend geflohen wären, wenn nicht ihr Vorgesetzter noch immer geneigt gewesen wäre, seines Amtes einzustehen. »Redet, Mann, im Namen des Königs Adolf von Nassau. Sprecht, was eure Belange an diesem Orte sind, oder melden muß ich euer Betragen.«
»Ihn nennt man Maleachi, Herr, und freilich, sprechen kann er nicht. Er ist stumm. Und ich, wenn Ihr es erlaubt, heiße Arbogast«, so hatte mein Freund miteins gesprochen, während er starren Blickes an der Reling entlanggegangen war. »Wir waren es, die den ehrbaren Kapitän dieses Schiffes dazu brachten, uns hierherzubringen. Somit gibt es nichts zu verzollen und nichts zu tun für euresgleichen, denn was unser Begehr hier auch immer sei, verzeiht, es geht Euch nichts an.«
»Dann wollt Ihr, Herr Arbogast, wohl zur Kenntnis nehmen, daß der Mäuseturm zu Bingen zum Sperrgebiet erklärt worden ist und zur Liegenschaft der Burg Ehrenfels gehört. Es ist euch nicht gestattet, ihn zu betreten oder ihm nah zu sein«, hatte der Zollbeseher erklärt, während seine Zollknechte näher zueinander gerückt waren, als benötigten sie die Nähe des anderen zur Stärkung ihrer Traute.
»Nicht nah zu sein? Was soll das bedeuten, Herr Zollner? Fürchtet Ihr etwa das Gemäuer?« Derart war Arbogast versucht gewesen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Sein Blick hatte sich mit all der kalten Starre zum Turm gewandt, der sich nur einesteils aus dem dünnen Nebel enthüllte. Ich kannte Arbogast nun schon viele Jahre, und er war mir in dieser Zeit wie ein Bruder geworden, doch die Leichenstarre seiner blinden Augen ließ mich noch immer frösteln. Es war mir nicht möglich, ihm lange in die Augen zu schauen, auch wenn er mich geradewegs anzusehen schien. Der Zwang in seinem Blick war zu groß, als das man imstande gewesen wäre, ihm lange zu begegnen. Und auch wenn ich eine gewisse tröstliche Beruhigung darin fand, daß er es nicht bemerken mochte, so war ich mir dennoch nie sicher, ob nicht doch ein unvergleichliches, inneres Gespür seine Sehkraft ersetzte und ihn erkennen ließ, wie wenig ich ihm gewachsen schien.
Auf die meisten Menschen wirkte Arbogast hilflos und im Gegensatz zu ihm erschien ich wie ein unberechenbarer Teufel. Nicht zu sprechen, schweigsam zu sein, wenn etwas zu sagen angebracht war, das ließ die Menschen Furcht empfinden. Dabei war es im Grunde Arbogast, vor dem man Respekt haben sollte, nicht zuletzt da seine Geschichte viel mehr auf dem Schleifstein des Lebens bearbeitet worden war als die meine. Allein, was sollte man von ihr erzählen? Von der kärglichen Kindheit? Von verdorbenen Mahlzeiten und vom harten Leben? Vom ewigen Gestank nach Speck, Schmalz und ähnlichen Fettwaren? Von seinem unbarmherzigen Vater einem Schmerschneider der Arbogasts jüngeren Bruder schlug, bis er verkrüppelt war, oder von dem älteren, der durchbrannte, um Asche zu brennen und nicht zurückzukehren? Von ihm selbst, der in einem Hurenhaus hatte arbeiten und leben müssen, in dem es statt Kost und Logis nur Tritte und Prügel gegeben hatte, und in dem er zudem gelernt, was Angst, Haß und Schmerz für einen Jungen seines zarten Alters bedeutete? Oder von dem bizarren Erlebnis unserer Jugend, welches uns auf ewig verbinden sollte und dennoch aus uns Wesen schuf, die fortan weder Glück noch Gewinn einzustreichen vermochten? Von dem Tag, als der Rattenfänger mit bunter Tracht und wunderlichem Aussehen unsere Stadt betrat und sich verhieß, Hameln gegen ein geringes Entgelt von einer herrschenden Plage der Ratten und Mäuse zu befreien? Ein jeder kannte doch die Sagen. Und doch kannte man nur das Vordergründige.
»Das Gemäuer ist verflucht, mein Herr. Der Zollschreiber Modest befahl, einen jeden fernzuhalten, der sich dem vermaledeiten Ort zu nähern versuche. Man sagt, ein Geist ginge dort um. Und wiewohl ich nicht daran glaube, so muß ich Euch dennoch zurückhalten von jenem Ort.« Der Zollbeseher hatte eindringlich zu sprechen versucht, da er sich der Aufmerksamkeit Arbogasts nicht sicher schien.
»Seid unbesorgt, Herr Zollner. Wir haben nicht vor, den Ort zu betreten, noch ihm näher zu sein, als es erforderlich ist.« Derart war Arbogasts Antwort gewesen.
»Nicht näher, als erforderlich? Was soll das denn heißen?«
Zunächst hatte es den Anschein gehabt, als wäre Arbogast mit sich zu Rate gegangen (und nur ich weiß, daß dem nicht so gewesen ist), dann aber hatte er sich dem stämmigen Zollbeseher offen zugewandt. Mit der Statur des königlichen Beamten verglichen, war mir Arbogast wie der zerbrechliche Junge von ehedem erschienen. Er hatte seine blinden Totenaugen auf den Mann gerichtet und hatte dabei wie eine schauerliche Wasserleiche ausgesehen, die kaum vernehmlich gesagt hatte: »Es ist die rechte Zeit und der rechte Ort für Sagen, Zollner. Dessentwegen wollt Ihr jetzt wohl so freundlich sein, dies Schiff zu verlassen, denn der Tag war für uns alle anstrengend, und noch ehe der Morgen graut, wollen wir wieder Fahrt aufnehmen. Und Ihr habt ohne Zweifel einen ebenso anstrengenden wie sagenhaften Tag vor Euch.«
Man hatte dem königlichen Beamten angesehen, wie sehr ihm an Ablehnung und Aufbegehren gelegen gewesen wäre, allein es hatte nicht in seiner Macht gestanden. Mit einer Mischung aus Ekel und Entsetzen hatte er in die ehernen Augen von Arbogast geblickt. Sein Mund war offen geblieben, als habe er an einem Wort des Protestes zu würgen. Da hatte Arbogast versucht, mit ausladender Geste den Zollnern den Weg zu weisen, so daß der Zollbeseher aus seiner Starre erwacht war und empört verkündet hatte, er werde nicht dareinwilligen, und wenn wir nicht mit tunlichster Bereitschaft dies Hoheitsgebiet verlassen würden, folge die Strafe auf dem Fuße.
Indem waren die leisen, zarten Töne der Flöte erklungen, die mit ihrer traurigen Melodie schon viele in ihren Bann gezogen hatte. Die Zollner waren davon derart erschrocken gewesen, daß sie beim ersten Tone zusammengezuckt waren und bang unter den Anwesenden umhergeschaut hatten. Zart und wie gläsernes Singen waren die fragilen Töne trotz der Geräusche des Wassers und der Luft imstande gewesen, sich zu behaupten. Dabei war ich wie eh und je erbebt, während alles in mir zu ersterben schien. Und ich erinnere mich, daß auch Arbogast sich verspannt hatte. War die Situation zuvor noch erschienen, als könne sie jeden Augenblick eskalieren und als mochte Tod und Zerstörung über die Lebenden kommen, so war sie im Augenblick des feinen Pfeifenspiels erlahmt.
Meine Augen brannten itzt, da sie noch immer bei den ausgedünnten Nebelschwaden draußen nach dem Ruderboot der Zollner Ausschau hielten. Hoffentlich blieben die Beamten einstweilen fort. Sie mochten Bericht erstatten und sie mochten Verstärkung rufen, doch es war besser für sie, wenn sie fortblieben. Die Melodie der Flöte war verklungen. Das Blut des Zollbesehers war vergossen.
»Warum nur, Arbogast? Weshalb hast du dich vergangen? Sie wären ohne weitere Anstalten gegangen«, hörte ich die Stimme von Lysann, die fein und dünn wie der Pfeifenklang ertönte. Warum fragte sie ihn das? Weshalb versuchte sie sich stets erneut?
Ich hörte, wie mein Bruder (ich bin geneigt ihn so zu nennen, wiewohl ich mehr und mehr erkenne, wie wenig wir gemein haben, und trotz des Wissens, daß unsere Eltern sich nicht einmal gekannt haben) sich das Blut abwischte. Ein Geräusch, das schon so kennzeichnend und eigentümlich für ihn war, wie bei einem Lüstling das fahrige Keuchen oder bei einem Pfeifenraucher das kurze, wiederholte Paffen.
»Das wären sie nicht. Beim Teufel, wessentwegen lege ich hier Rechenschaft ab? Ich bin es leid. Hörst du? Ich bin es leid. Ich bin, was ich bin«, hörte ich Arbogast fauchen. Seine Ruhe war dahin.
»Und was bist du?« wollte Lysann nun wissen.
Seine Ruhe war zurück, wie es bezeichnend war.
»Auf diese Weise wirst du es jedenfalls nicht herausfinden und du weißt das.« Bei Lysanns Worten wandte ich mich um, versuchte jedoch nicht zu erscheinen, als nehme ich Anteil an dem Streit. Ich verschränkte die Arme und sah zum dunklen Himmel und den zahllosen Sternenlichtern, denn ich wünschte mir nichts sehnlicher, eben gerade zu jenem Zeitpunkt als Reisender zwischen ihnen verlorenzugehen. Das Weltliche war doch keinesfalls zu ertragen.
»All das Jagen nach Wahrheiten und das Entsetzen, wenn sie sich nur als ein Bruchstück eines viel größeren Wahrheitsgehaltes erweisen. Und dann beginnt wieder alles von vorn. Reisen, flüchten und eine Wahrheit hetzen, von der wir nimmer wissen können, ob sie alles ist, was wir benötigen. Was ist denn Wahrheit? Gibt es sie überhaupt? Was uns heute wahr erscheint, kann morgen schon verlogen sein. Ich will dir etwas sagen. Wir sind es, Lysann, wir sind die einzige Wahrheit, die wir brauchen. Wir schaffen Wahrheit. Wir schaffen Wirklichkeit. Kein Gott. Kein Teufel. Niemand sonst vermag das.« Arbogast klang gefährlich sachte.
»Nicht nur deine Augen sind blind, Arbogast. Dein Geist ist ebenfalls geblendet«, meinte Lysann und klang arg mitleidlos.
Er aber schnaufte nur verächtlich. »Im Gegensatz zu euch bin ich blind geboren«, sagte Arbogast nach einer Weile.
Es war der Augenblick, an dem ich gern durch Zeichen zu verstehen gegeben hätte, daß es besser sei zu ruhen und zu hoffen, die von uns erwartete Erscheinung möge sich bald zeigen, damit wir diesen Ort verlassen konnten, ehe eine größere Anzahl Soldaten von der Burg Ehrenfels zurückkehren mochten.
»Was ist mit dir, Bruder, was denkst du darüber? Wohin führt uns das?«
Was sollte ich anzeigen? Ein Kind kennt gern seine Eltern, damit es weiß, woher es gekommen ist. Wir kannten unsere Eltern. Er und ich. Lysann kannte ihre nicht, sie wußte nicht einmal, ob es eine Historie ihrer Lebzeiten gab, die sie nur vergessen hatte. Sie schloß nichts aus, was wohl in ihrem Falle das Klügste war. Mir gegenüber hatte sie zuweilen von seltsamen Träumen gesprochen, in denen Menschen und Tiere auftraten, deren sie sich nicht entsinnen konnte und deren Bedeutung eher entschwunden als unbekannt angemutet hatte. Sie neigte zu großer Schwermut nach solchen Träumen, und ich konnte es ihr nicht verdenken. Ich selbst war zu sehr betroffen von unserem Dasein und den damit verbundenen leblosen Träumen von einem Leben.
Als ich sie jetzt ansah, wie sie mit angezogenen Kleidern an ein Faß gelehnt dasaß, versunken im Schatten der Nacht und in ihren Gedanken, wie sie mit ihren zarten langen Fingern verschiedene Griffe auf der kleinen Flöte nachstellte, ohne auch nur einen Ton auf ihr zu spielen, burschikos gekleidet, in Beinlingen und mit einem sonderbaren, auf die weibliche Figur zugeschnittenen Gansbauch, der rot wie Blut war, ward mir eigentümlich zumute. Stets verspürte ich die Bekümmernis um ihr Wohlergehen und den Wunsch, sie in meinen Armen zu beschützen, doch ich wußte, daß sie dergleichen nicht bedurfte und wie sehr es nur meinen eigenen Bedürfnissen entsprochen hätte.
»Nun«, begann Arbogast erneut, »mir dünkt, du hast wieder nichts dazuzugeben. Ihr könnt mir glauben, ich habe es mir nicht erwählt... dies Los.« Er machte sich daran, den blutverschmierten Leichnam des Zollbesehers zur Reling zu schleifen, wahrscheinlich mit dem Ansinnen, ihn dem Fluß zu übergeben. Dabei mußte er sich redlich mühen, denn der Körper war sicherlich zu schwer für ihn. »Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, wäre ich lieber gestorben. Ich habe immer auf eine gewartet. Zeit meines Lebens. Auf ein wenig Glück, eine Gelegenheit, die es zu ergreifen galt. Jetzt bin ich tot. Mein Leben ist gelebt. Die Gelegenheit ist nie gekommen, ich hätte sie erkannt. Fürwahr, ich hätte sie erkannt. Verflucht, geht es Zöllnern derart gut, daß sie die Leibesfülle eines Königs zu erreichen vermögen?«
Wie sehr mir seine Bekümmernisse verleidet waren, fiel mir nun auf.
»Die Kindsmagd, die hats recht getan. Was ein wenig Schreien und Aufstand doch hilft. Sie verschonte man. Was ist Lysann? Ist dir das unerträglich? Einhundertunddreißig Kinder wurden mitgenommen. Einhundertunddreißig schnelle Schicksale. Weshalb nicht wir? Weshalb nicht ich? Waren wir nicht gut genug? Gewiß, wir sind behindert. Er ein tumber Müßiggänger, der nicht mal den Mund aufmachen würde, wenn er es könnte, und ich ein großmäuliger Tunichtgut, der nicht sehen kann, was er tut.« Arbogast langte bei der Reling an und lehnte den leblosen Leib des Zollners daran. Er schien innehalten zu wollen und pendelte seinen Kopf zwischen Lysann und mir hin und her, als trachte er danach, uns herausfordernd anzustarren. Als er sich unserer Aufmerksamkeit nicht sicher war, trat er wütend auf die Bohlen des Decks und fluchte.
»Du wirst noch die ganze Mannschaft wecken, Arbogast«, sagte Lysann müde und gleichwohl höhnisch.
»Und wenn schon«, brüllte Arbogast und die Gischt des Mundes sprühte von seinen Lippen. »Und wenn schon, ich hasse sie alle. Sollen sie wach werden, dann werde ich auch von ihnen trinken, sie töten und verschlingen, als wären sie meine Jünger und ich ihr Jesus. Ich hasse euch alle.« Derart schrie Arbogast, daß seine Stimme sich überschlug und dabei wie ein wilder Teufel verfuhr. Doch ich sah die Tränen auf seinen Wangen, die nicht von der Anstrengung herrührten, und es kam, wie es kommen mußte. Er brach zusammen, kauerte schluchzend und geifernd neben dem Leichnam des Zollbesehers, als sei jener wie eine Mutter, die ihn in den Arm nahm, um ihm über den Kopf zu streichen und tröstende Worte zu sagen.
Lysann begann bloß wieder auf ihrer Flöte zu spielen, zwar nur leise, doch sie kam mir dabei grausamer als ehedem vor. In Momenten wie diesen war ich imstande, sie beinahe zu hassen. Nicht wegen der Erbarmungslosigkeiten, die sie noch immer an uns zu proben schien, sondern wegen der Ermangelung an Gefühlen. Ich hoffte inständig, daß ich nie so werden mochte, daß es mir vergönnt sein würde, gewisse Empfindungen auf diese dunkle Seite herüberretten zu können. Was auch immer käme, es war mir einerlei; im Inneren war ich erkrankt, ermangelte an Lebendigem und graute mich miteins davor.
Ich ging zu meinem Bruder und kniete mich neben ihn, während er Gebete und biblische Zitate flüsterte. Seine Lippen bebten, die Augen waren blutunterlaufen und dunkel und gläsern wie der Rhein.
»Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. Weshalb spüre ich nichts? Bruder? Weshalb spüre ich nichts?« raunte Arbogast, wurde ständig vom eigenen Schluchzen unterbrochen und bemerkte mich erst, als ich schon eine Weile an seiner Seite niedersaß. Da lehnte er sich an meine Jacke, um sich an meinen Ärmel zu schlingen.
»Weil du tot bist«, antwortete Lysann, die dafür das Flötenspiel unterbrochen hatte und mit einer Geschmeidigkeit und Schnelligkeit aufgestanden war, daß es meinem Blick entgangen sein mußte, denn urplötzlich stand sie neben uns.
»Halt dein Maul, du Scheusal. Halt dein gottverdammtes Maul!« schrie Arbogast und begehrte dabei auf, als wolle er ihr sogleich an den Balg springen.
Jetzt griff sie wie ein Blitz nach seinem Kragen und entriß ihn meiner Obhut, als wäre er lediglich eine Stoffpuppe. »Du bist tot, du Narr, sieh es endlich ein. Es ist doch nicht so schwer. Du bist tot. Es gibt keinen Himmel. Es gibt keine Hölle. Es gibt keinen Gott und keinen Satan. Aber Teufel gibt es, einer davon bist jetzt du. Akzeptiere es, wie ich es akzeptieren mußte. Meine Wahl war keine größere. Wir sind die Rattenfänger. Wir sind es, die auserkoren, die Menschen zu jagen, zu fangen und in die Fluten ihres Untergangs zu treiben. In rote Fluten.«
Arbogast zappelte hilflos in ihrem machtvollen Griffund ich richtete mich auf, um ihn eilends aus dieser grausamen Verfügung zu befreien. Ich deutete Lysann an, meinen Bruder in Ruhe zu lassen. Außerdem fürchtete ich, daß die Mannschaft des Schiffes, die vornehmlich auf dem Deck des Schiffes schlief, nun doch erwachen mochte und die Wahrheit zu erkennen imstande sei. Deshalb spielte ich auch darauf an.
Sie warf mir einen erbosten Blick zu, ließ dann aber von Arbogast, der nur noch wimmerte und zitterte, ab. Ich schaute mich auf Deck um, mußte aber feststellen, daß die Mannschaft offenbar doch vollständig dem machtvollen Bann Lysanns verfallen schien, denn sie lehnten wie Tote an Säcken, Kisten und Fässern, lagen auf Segeltuch und Tauwerk mit dem ruhigen Atem einer Winterruhe.
»Wir sind hier, um es zu erfahren. Jedoch nicht, weshalb wir wurden, was wir sind. Dessentwegen nicht, Arbogast«, begann Lysann und sah mich dabei an. »Wir wurden es durch schlichte Willkür. Nein, wer der erste war, das soll die Frage sein. Wofür wir tun, was wir tun. Das soll die Frage sein.« Und zu sich selbst gewandt: »Wie lange gehe ich schon dem Einen nach, der mir nicht aus dem Sinn geht, obgleich ich ihn nicht zu kennen glaube?« Dann, während sie den Blick zu mir brach, fuhr sie über das Deck und wirkte dabei wie ein Jüngling, der im Geiste spielte. »Hier ist unser Reich, Arbogast«, sagte Lysann und ward schwärmerisch, als sie zum Nachthimmel emporsah. »Darob werfen wir alles andere fort, darob ward uns alles andere gleich. Unserem unendlichen Unwissen ist nur das Gewissen entgegengestellt. Deshalb müssen wir ihm entsagen. Der Puppe des Menschseins entschlüpfen. Endlich Eins sein. Vollkommen. Dem Halben und Dunstigen entsagend. Dort, wo meine Redlichkeit aufhört, will ich Milde walten lassen und vertrauen, doch wo ich erkennen will, wo ich wissen will, da bin ich auch redlich, grausam und unerbittlich. Mit dem eigenen Blut vermöchten wir unser Wissen nicht zu mehren, also mag nur anderes Blut helfen. Und nun, wirf den Zollner über Bord! Färbe die Fluten rot! Wir werden sehen, was dann geschehe.«
Mein Bruder wirkte verstört, hielt seinen starren Blick in die gedankenverlorene Leere gerichtet, soeben nur an Lysann vorbei, die ihn ihrerseits anblickte. Ich bangte, ob sich der Wahn nicht seiner vollends bemächtigt hatte.
»Arbogast!« rief Lysann. Aber mein Bruder blieb leblos.
Lysann hob die kleine Flöte und hielt sie ihm zwischen Zeigefinger und Daumen schwenkend entgegen. Dabei wirkte sie so wunderschön, gefährlich und unbesonnen. Ihr geschwungener Mund, von dem ich zu gern das Blut eines Dritten getrunken hätte, sprang mit satten Wölbungen hervor und glühte wie ihr Haar in sattem Herbstkarmesin. Und ihre Augen blickten dunkel, kühl und grün wie klammes Moos.
»Die Kindsmagd, die hat es recht getan, wie? Deine Kindsmagd... «, höhnte sie, so daß es sogleich manch böslichen Verdacht aufkommen ließ. Da ging Lysann zu dem Stapel Güter hinüber, der zum Teil mit uns an Bord gekommen war, hängte sich an das Trageseil einer Kiste, die zuunterst lag, und zerrte sie heran, daß alles, was zuvor noch darauf gelegen hatte, krachend auf Deck fiel. Kurzerhand riß sie den Deckel der Kiste auf und griff der nackten Frau, welche darin lag, in den Schopf und quälte sie daran heraus. Es war unsere Kindsmagd. Und ich war geschockt, daß sie es war, denn Arbogast und ich vermeinten sie tot. Der Boden unter meinen Füßen schien zu schwanken.
Sie war mit uns gealtert, jedoch immer noch von dem üppigen Liebreiz einer reifen Mutter, welche fruchtbar und willens war, und doch unter den Qualen einer unvorstellbaren Folter gelitten haben mochte. Ihre Haut war blau vor Kälte. Ihr schulterlanges Haar wirkte nicht länger golden. Es besaß jetzt das Aussehen von weißer Asche, und es war ganz und gar verfilzt. Ihre strammen Schenkel und ihre geschwungenen Arme waren mit Bißstellen übersät. Ihre Brüste schwangen wie volle, feste Weinbeutel und luden mich zum Festtrunk. Sie war eine wahre Wonne, wie sie dort hilflos, zugleich üppig wie eine erfahrene Mutter, zu stehen versuchte. Ihre leibliche Schwäche und offenbare Willfährigkeit entfachten in mir den alten, animalischen Hunger, allein war er eingedenk eines befremdlichen Anfluges von Mitleid nicht zu stillen. Sie war unsere Kindsmagd, welche die Entführung von Hameln vermutlich nur überlebt hatte, weil sie mit Arbogast und mir zurückgeblieben war. Itzt sackte sie mehr tot als lebenskräftig zusammen und fiel auf die Knie, mit den Haaren immer noch in Lysanns Griff verfangen.
»Wenn du sie jetzt nur sehen könntest«, spottete Lysann.
»Wen sehen?« fragte Arbogast naiv wie ein Kind. Seine Stimme klang dabei brüchig. Es hätte ihm wahrlich geschadet, und ich war froh über seine Blindheit. Denn diese Frau war ihm immer die Mutter gewesen, die er nie gehabt hatte.
»Deine Kindsmagd. Sie hat von Anfang an euer Schicksal geteilt. Unser Schicksal«, sagte Lysann. »Und jetzt wirf den Zollner über Bord.«
»Weshalb hast du das getan?«
Nun fuhr Lysann auf Arbogast zu und zerrte die Kindsmagd hinter sich her, die nicht einmal mehr wimmerte und lediglich kläglich darum rang, die Hände von Lysann umfaßt zu halten, damit das Zerren an ihrem Schopf nicht von solch großem Schmerz begleitet sein mochte. Lysann riß die Hilflose in die Höhe und warf sie Arbogast in die Arme. Er hielt sie in einer Umarmung, von der ich nicht länger zu sagen gewußt hätte, wer wem den nötigen Halt gab. Ich war deutlich erregt, denn der Hunger und die Anspannung schüttelten mich innerlich.
»Sie schwebt zwischen Leben und dem Tod. Sie ist wie du. Entscheide dich, Arbogast, halte dich ans Leben, zeige Erbarmen und erlöse sie von ihrem Leiden, indem du sie vernichtest, oder sei endlich tot und mache sie zu deiner Gefährtin in diesem Dasein danach. Und wenn du dich für letzteres entscheidest, dann hör ein für alle Mal zu jammern auf und wirf den Zollner über Bord.«
»Mach es doch selbst«, sagte Arbogast.
»Nicht bevor du dich entschieden hast, denn ich brauche euch wie ihr mich braucht.«
Ich brauchte sie, Arbogast brauchte sie weit weniger. Lysann wirkte angespannt.
»Werden wir Frieden finden, Lysann? Sage mir das. Werden wir Frieden finden, wenn es diesen Geist wirklich gibt und er dem Zwang folgt?«
»Frieden ist die Erfüllung für den Geistlosen.«
»Werden wir zur Ruhe kommen, Lysann?«
»Wir sind die Geister des Krieges.«
»Werden wir fündig werden?«
»Verdammt, ich weiß es nicht.«
Arbogast strich liebevoll über den langen Rücken der Magd, bis seine Hände auf den Kuppen ihres Hinterteils und seine Fingerspitzen an dem dunklen Spalt zu liegen kamen. Sie schmiegte sich wie eine ergebene Geliebte an meinen Bruder.
»Teufel, du weißt es nicht? Du... du weißt es nicht?«
»Nein, ich weiß es nicht. Und jetzt trink von ihr und laß sie trinken und sei mir gut. Dies ist die Quelle, Arbogast. Unsere Quelle... Es ist die Antwort auf die ewige Frage nach dem Sinn des Lebens.« Lysann mühte sich, ruhig zu bleiben.
Es bereitetet mir Mühe, dem Bild, welches sich mir bot, ansichtig zu bleiben, denn es war mir verleidet, was geschah, und ich wäre liebend gern geflohen. Mit Lysann. Ins Leben.
Es war nicht Feigheit, die mich davon abhielt, ihr von meinen Wünschen und Träumen zu berichten, selbst da ich mir darüber klar war, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach nur Hohn und Spott dafür zu erübrigen gewußt hätte. Vielmehr war es der Tod und sein Tagewerk, welches durch uns verrichtet ward. Besagtes erfüllte mich mit einer derart schwindelnden Gleichgültigkeit und einem rudimentären Entzug von Sinn und Zweck unseres Daseins, daß alles, was nur im geringsten orientiert war an Zukunft und Zuversicht, mich zutiefst bestürzte. Deshalb sah ich mich außerstande, Lysann etwas abzuverlangen, wozu ich selbst nur in kurzen, verwegenen Träumen befähigt war. Wenn ich gewußt hätte wie, so hätte ich meinem Dasein sicherlich ein Ende bereitet, obschon ich mich ohnehin durchaus als fester Bestandteil des Sterbens und des Todes verstand, so aber begann ich lediglich während meines Vegetierens zu träumen und zuweilen auch zu genießen, auch wenn der zweifelhafte Genuß dieser Traumgebilde zumeist nur von ebensolcher Vergänglichkeit war wie alles, was vom Leben verherrlicht wurde.
Wir waren seltsame Spießgesellen des Todes, erfüllt von einer unerklärlichen Sehnsucht, die uns mit Schmerz, Enttäuschung und Schwermut verdroß, damit wir uns am Ende wertlos und würdelos erlebten.
Allein in mir befand sich ein stetiger Choral gregorianischer Gesänge, die mir ein Lied von Absolution und Vergessenheit aller Sünden sangen, daß ich im Geiste schon des öfteren das Kreuz geküßt hatte, nur um im Anschluss festzustellen, daß ich selbst daran festgenagelt blieb. In klagloser Trauer betrachtete ich den Menschen, den zu verfolgen ich verdammt schien, dessen Leiden ich begriff und litt, so daß es mir schließlich leicht fiel, ihn zu erlösen. Und nach unzähligen Erlösungen erfaßte ich, daß ich mich nur auf einer aufopfernden Wallfahrt befand, bei der ich ein bescheidener Sammler von neuen Sehnsüchten war. Da blieb ich stehen und bin seitdem beständig daseinsunfähig.
Ich hatte eine bescheidene Kindheit gehabt, gute Eltern und irgendeine Zukunft. Irgendwann. Wozu? Wofür? Es mochte weder Spiel, noch göttliche Fügung sein, soviel war gewiß, eher Zufall und chaotische Willkür. Und mein Ringen nach Glück und ehrenwertem Leben, nach Freundschaft und Liebe, nach der Wahrheit, deren Führung uns allen so unerläßlich schien; war ich ihrer nicht würdig gewesen, daß man es mir genommen hatte? War das, was sich in meiner unendlichen Sehnsucht und der Schmach auszudrücken versuchte, nicht noch immer erfüllt von dem inkarnaten Puls der Liebe? Aber woran geknüpft? An Lysann? An das Leben, welches ich bereits verloren hatte? Ich ermüdete bei all den Fragen, die in mir nicht einmal eine Antwort zu finden vermochten. Zurück blieb eine Bitterkeit, die mir eine stille und bescheidene Wut abverlangte. Zwar erkannte ich, daß sowohl Arbogast als auch Lysann von ebensolchem Gram gepackt waren, doch schienen sie mir imstande zu sein, ihn mit einer Leichtigkeit zu überwinden, die mir in all den dösenden Zuständen des Stehens, der Versteinerung im Lebensfluß abhanden gekommen war. Ich entsann mich eines Tages, an dem ich den Fluch des Blutsaugens noch nicht lange getragen und Lysann bei der zeremoniellen Stillung ihres Durstes betrachtet hatte. Zwischen Entzückung und Schrecken hin- und hergerissen, hatte ich versucht, sie mit den Mitteln eines Wesens, das in Ermangelung an Sprache und Schrift in sich selbst eingeschlossen war, zu fragen, ob sie auf diese Weise Glück zu finden imstande sei. Da hatten sich ihre schönen Augen geweitet und die anfängliche Heiterkeit war einer bestürzten Ernüchterung gewichen, bei der sich ihr voller Mund verkniffen, sich ihre linke Braue erhoben und sich ihre weise anmutende Falte auf der Stirn gekerbt hatte. Sie war wunderschön gewesen. Eine Perle roten Lebenssaftes war aus ihrem Mundwinkel geronnen, als ich meine Liebe zu ihr entdeckte. Sie hatte zum ersten Male meine Worte bedacht, und auch wenn es ihr verwehrt schien, darauf zu antworten, hatte sie mich fortab mit einer befremdlichen Mischung aus Respekt und Zurückhaltung behandelt.
Als ich diese verzehrenden Gedanken hegte und derweil flüchtig über die Reling schaute, sah ich winzig kleine Lichtpunkte im Dunkeln der Nacht. Sie schienen sich zu bewegen. Ich vermutete, daß es Soldaten von der Burg Ehrenfels waren, die sich zu uns auf den Weg machten, um den Tod des Zollners zu vergelten. Ich erbebte. Es war vorbei. Schon bald würden sie hier sein und uns angreifen.
Um die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, klopfte ich auf das Holz der Reling, und als ich schließlich Lysanns und Arbogasts Beachtung auf mich vereint hatte, wies ich zu den Lichtpunkten in der trüben Finsternis. Es kam mir wie ein unheiliges Wunder vor, daß man die Lichter überhaupt zu sichten vermochte, und es gab mir Anlaß zur Hoffnung, daß der Streit und diese Situation enden würden und es endlich wieder Frieden geben konnte. Als Lysann aber fluchte, erschauerte ich ob der grauenerregenden Erkenntnis, daß sich in dieser Nacht und an diesem Ort unser aller Schicksal entscheiden würde. Es mochte keinen Frieden mehr geben, es galt, sich einzig und allein trefflich mit dem Leben und dem Tode auszusöhnen, und was seit den letzten Jahren für unsere Gemeinschaft gegolten, würde uns nicht länger zustatten kommen.
Hatte dies zweite unheilige Dasein auch, als ich es überdachte, kaum mehr den Anschein, daß es länger gewährt hatte als eine Nacht im halbwachen Dämmerzustand von krankhaftem Fieber, so ward ich schon reumütig, eingedenk dieser Zeit voller Musik, Geist und Ausschweifung, voller Eitelkeit allein schön, reich und üppig wie Saturnalien.
Und wie das Leben, so erlosch dieses Sein schnell und armselig wie das Licht einer Kerze im Wind. Gott hatte gewollt, daß wir unser aller Leben im Dienste des Todes hingäben, und es beeindruckte mich weit weniger, als daß ich nun derart mittellos war und mich nicht imstande sah, die harte Probe zu bestehen, indem ich das Steuer an mich riß, meine Fahrt neuerlich nach den Sternen ausrichtete und fürbaß über den langen, langsamen Fluß dieses zweiten Seins fuhr. Da ich mir derart machtlos vorkam, fragte ich mich, weshalb ich mich nicht vertrauensvoll in die starke Hand Gottes gab.
Zeitlebens war ich zag gewesen und blieb es auch nun, wartete auf das ursprüngliche Leben, wie es gedacht sein mochte und darauf, daß es mich verständig und lebhaft machen würde, doch mit der Unbeirrbarkeit eines Lemmings, der vor sich den Klippen wußte, gewahrte auch ich, daß das Leben schweigen und keine Anstalten machen würde. Erst wenn ich über den letzten Grat gezogen war, mochte es sich fügen, anders als erwartet und zumeist weit weniger befriedigend, als die schlimmsten Befürchtungen vorhergesehen hätten.
Lysann ergriff nun den Leichnam des Zöllners, hievte ihn wie eine undienliche Strohpuppe, die keine dunklen Vögel mehr zu verscheuchen imstande war, in die Höhe und warf ihn über die Reling in den schwarzen Rhein. Er klatschte in die Fluten und klang dabei wie aus großer Ferne. Und irgendwie war all die Ruhe und Konformität mit einem Mal dahin. Der Rhein brauste laut und ungehalten, der Wind brach sich an sich selbst und krachte dabei und das Gebälk des Schiffes knackte und knirschte. Urplötzlich war die ganze Nacht zu einem geräuschvollen Spektakel geworden.
»Blute, blute und schicke den Geist von Hatto, dem Bischof von Mainz«, sagte sie. Es klang dabei derart beschwörend, daß man hätte umgehend eine Reaktion erwarten können, doch eine solche blieb aus. Währenddessen kamen die Lichter immer näher zum Ufer heran und es mochte nicht mehr lange dauern, bis man uns verantwortlich machen würde für den Tod des Zollbesehers.
Arbogast mühte sich derweil, die Blöße unserer Kindsmagd, die vollkommen apathisch war, mit einer Decke zu verhüllen. Es war ihm anzusehen, wie sehr er innerlich mit sich rang, ob er die Frau erlösen oder leiden lassen sollte. Als er ihr die Decke von hinten um die Schultern legte, strich eine Hand über ihre Brüste, und seine Lippen berührten ihren Hals. Ich glaubte sogar hören zu können, wie seine Fangzähne über ihre Haut streiften, doch es mochte auch Einbildung gewesen sein, denn zu viele Geräusche beherrschten die Nacht.
Lysann lächelte und es war ganz und gar böse. Sie wußte wohl, daß Arbogasts Hunger früher oder später der Frau das letzte Tröpfchen Leben kosten würde.
Mit Obacht trat ich an Lysanns Seite und deutete ihr, daß mir eine Frage auf der Seele lag. Was gedachte sie zu unternehmen, wenn sich der Geist des Bischofs nicht offenbarte, und die Soldaten der Burg Ehrenfels uns erreichten?
»Ich werde hier ausharren, Maleachi, denn Hatto wird kommen. Und wenn ich die Burg Ehrenfels dem Erdboden gleich machen muß«, sagte sie und funkelte mich wild entschlossen an.
»Wie recht sie doch hat«, sagte urplötzlich eine leise Stimme. All unsere Aufmerksamkeit ward verschrocken auf den Sprecher gelenkt, der eine seltsame, amorphe Gestalt aus Nebel zu sein schien. Seine gräuliche Gestalt waberte wie die Oberfläche des stillen Rheins, doch sie war dennoch furchterregend. Zu Lebzeiten mochte Hatto ein kleiner, wohlbeleibter Mann gewesen sein, die linke Seite seines Körpers wies dieses Aussehen noch immer auf, jedoch die rechte Körperhälfte glich einer fetten Ratte mit nassem, zottigen Fell. Sein Gesicht war eine grausig deformierte Masse, zur Hälfte Mensch, zur anderen mit der vorspringenden, krummen Schnauze eines Nagers. Zuweilen schien der Geist des Bischofs von Mainz über dem Wasser nahe unseres Kahns zu schweben, dann wieder mutete es mir an, als bestünde er selbst aus Wasser und bildete eine abnorme Springflut, die in Gestalt des Monstrums dem Rhein entstiegen war.
»Hatto, du weißt, weshalb ich zurückgekehrt bin«, sagte Lysann.
Arbogast trat derweil neben mich.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete der Geist hohl.
»Rattenfänger der Christen! Bestie!« fluchte Lysann.
Hatto lachte darauf, und es klang wie das Knirschen von Zähnen.
»Wer war der Erste, Hatto? Du mußt es wissen.«
»Der erste Blutzecher? Du solltest es besser wissen, Lysann.«
»Weich nicht aus.«
»Du bist es gewesen.«
»Das ist nicht wahr«, entfuhr es Lysann. Sie wirkte mit einem Mal verunsichert.
»Erinnerst du dich denn gar nicht, Tochter? Ich war es, der dich verfluchte, das Blut der Schädlinge zu trinken und für alle Ewigkeiten den Blutzoll einzufordern, indem du diese Plage mit deiner Flöte einst und sie in den Tod oder aber in eure Heimat führst. Nachdem mich der hungernde und ebenso lästige wie unnütze Pöbel zu meinen Leb- und Herrschaftszeiten verfluchte, nur weil ich sie dem Feuer opferte, um ihren ewigen Klagen zu entgehen, fraßen mich die Ratten und Mäuse an diesem vermaledeiten Ort. Und du, unselige Frucht einer Vergewaltigung an einer Mätze, deren ich mich wahrhaftig nicht entsinnen kann, wurdest auserkoren, meine Rache auszuüben.«
Nun hatte es Lysann wohl die Sprache verschlagen, denn sie keuchte schwer und vermochte nur den Kopf zu schütteln, als helfe eine schlichte Verneinung, die Wahrheit Lügen zu strafen. Nun kannte sie ihre Herkunft und die Form ihres Fluches, während uns deuchte, die Kinder von Hameln waren lediglich Opfer eines jahrhundertealten Banns geworden. Und noch bevor ich in der Lage war, all die neuen Fragen, die sich mir nun stellten, zu sammeln, begann Arbogast: »Doch weshalb verschleppte man einige nach Siebenbürgen, anstatt sie deiner Rache zu opfern?«
»Oh, sie wurden geopfert, du Wicht.« So verlachte Hatto meinen Bruder Arbogast. »Der Teufel selbst forderte von mir die Einlöse einer Schuld. Er wollte die Kinder der Nacht sammeln, damit er sie in ihre Heimat führen konnte. Zum blutenden Schoß der Erde... nach Siebenbürgen. Dort wurden einige Rattenfänger und andere blieben Opfer.«
»Du lügst doch. Den Teufel gibt es gar nicht.«
»Nur weil er sich dir nie gezeigt hat? Zweifelst du die Luft an, weil du sie nicht sehen kannst? Und selbst, wenn du den Teufel sehen könntest, würdest du ihn erkennen, wo du im Dunst und im Nebel auch nicht das Wasser begreifst? Ihr beide hättet nie werden dürfen, was ihr seid. Der eine stumm, der andere blind, geschaffen von einer, die taub gewesen ist, die weder den Warnungen noch den Normen Gehör leistete. Keiner von euch dürfte zur Zunft gehören. Denn selbst zusammen wäret ihr kein vollkommener Vampir.«
»Dann beenden wir es doch jetzt und hier«, antwortete Arbogast und es war nicht zu vermuten, was er damit meinen mochte. Lysann warf mir einen fragenden Blick zu. Und in eben diesem Moment ahnte ich, wie sehr mein Bruder möglicherweise ein Ende und den Frieden ersehnte und bereit war, alles dafür zu geben.
»Man sollte es beenden, wahrlich«, meinte Hatto, »doch wer vermag das schon?«
Da plötzlich machte Arbogast einige wenige Schritte auf die Reling zu, stürmte auf sie und sprang mit einem Hechtsprung in die Richtung über Bord, in der er die Geisterscheinung des Bischofs zu Mainz vermutete. Arbogasts Gehör war trefflich geschärft und ich wußte, daß er mehr zu hören imstande war als wir anderen. Und so hatte ihm Hattos Stimme auch die Richtung gewiesen.
Lysann stürmte nun ebenfalls an die Reling, und als ich es ihr gleichgetan, sagte sie: »Das wird er nicht überleben.« Im ersten Moment vermeinte ich, daß sie von Hatto gesprochen hatte, doch schnell dünkte mir, daß ihre Aussage auf meinen Bruder bezogen gewesen war. Und mir selbst war schon Sinn und Zweck von Arbogasts Angriff nicht ganz klar. War er wahrhaftig davon ausgegangen, er könne den ruhelosen Geist des Bischofs vernichten? Oder wollte er sich nur selbst befreien?
Als mein Bruder auf Hattos Geist stürzte, gingen Wellen durch dessen milchige Gestalt und mit einem Male wirkte er eher wie eine flüssige Figur. Seine Existenz schien nicht wie erwartet aus einem unwirklichen Nebel zu bestehen, sondern eine feste Konsistenz zu haben. Arbogast schrie auf, schaffte es aber tatsächlich, Hatto in die Fluten des Rheins zu drücken. Jener versuchte sich wie eine Wolke auszudünnen und der Umarmung Arbogasts zu entkommen, doch seinen Versuchen war nur leidlicher Erfolg beschieden. Er schaffte lediglich, seinen Oberkörper zu befreien. Der ungleiche Kampf der beiden Kreaturen wurde zudem noch dadurch erschwert, daß die dunklen Fluten des Rheins sie davontrugen, als wären sie bloß Treibgut.
Arbogast schrie, so daß ich bereit war, daraus eher Schmerzen als die Anstrengungen des Kampfes zu erkennen. Er mühte sich anscheinend vergebens, in den kalten Wogen des Flußlaufs Stand zu finden, während Hatto verbissen trachtete, zum Ufer und zum Mäuseturm zurückzukommen. Ich ahnte, daß es ihm Sicherheit verhieß.
»Er wird es nicht schaffen«, sagte Lysann grimmig. Und ich wollte es nicht glauben. Als ich sie ansah, schaute sie auch mich an ich werde ihren Blick nie vergessen. Ich bin mir sicher, in ihnen für nur jenen Moment erkannt zu haben, wie gut sie mir in Wahrheit gewesen war. Dieser Blick war starr und stur und stark wie ehedem, jedoch enthielt er auch vollkommene Hingabe und eine liebevolle Zärtlichkeit, in deren Genuß ich mir, seit ich sie kannte, zu kommen gewünscht hatte. Und noch ehe ich mich von der süßen Klebrigkeit dieses Anblicks zu lösen vermochte, nahm sie meine Hand und drückte mir die kleine Flöte hinein. Ich war wie erstarrt, sah Lysann wie ein Blitz auf die Reling springen, auf jener zum vorderen Teil des Schiffes entlangbalancieren, um die Distanz, die der Fluß bereits zwischen Arbogast und uns gebracht hatte, zu verringern, und alsdann mit einem Hechtsprung über Bord zu gehen.
Und wieder war ich es, der ob meiner inneren Schwere stehengeblieben war, während die anderen in ihrer Leichtigkeit gegangen waren.
Der Schock lähmte mich. Ich entsinne mich noch deutlich des innerlichen Zitterns, das mir fremd und zugleich beängstigend erschien. Ich blickte hinaus und sah das Grauen. Arbogast zappelte, als müsse er den Tod durch Ertrinken fürchten, und wurde dabei von Hatto, der sich noch immer mühte, zum Ufer und, wie ich jetzt sicher glaubte, zum Mäuseturm zu gelangen, immer wieder unter Wasser gedrückt. Während ich sah, daß Lysann sich ebenfalls anstrengte, zu den beiden zu schwimmen, vermochte ich auch auszumachen, daß mein Bruder ganz andere Schmerzen litt, als ich zuvor angenommen hatte. Das Wasser fraß wie Salzsäure an seinem Fleisch. Seine Beine mochte er bereits verloren haben und durch Hattos Angriffe zersetzte das Naß nun auch Arbogasts Oberkörper. Brust, Arme und Gesicht waren schon entstellt. Ich verzweifelte am eigenen Entsetzen, als ich die blanken Knochen aus den Schultern ragen sah. Hatto gewann immer mehr die Oberhand. Arbogasts Kräfte schienen nahezu erloschen. Lysann war nicht mehr weit von den beiden Kämpfenden entfernt. Ich erkannte, daß das Ufer am Mäuseturm fast erreicht war.
Hatto erhob sich aus den Fluten. An ihm hing wie ein makaberer Mantel der zur Hälfte skelettierte Körper meines Bruders, der aus seiner letzten, inneren Kraft heraus nicht darin versagte, den Geist am Entkommen zu hindern.
Alsdann erhob sich auch Lysann aus den Fluten des Rheins, und auch wenn das Wasser an ihr nicht gleichermaßen schnell seine schreckliche Wirkung tat, so war auch ihr Körper bereits zerfressen. Der Schock traf mich mit einem Schlag, der mich für einen Augenblick wegsehen ließ. Die Anspannung und der Schrecken hatten sich in mir aufgestaut und entluden sich nun in einem einzigen, mächtigen Stoß, der sich mir in die Brust rammte und mir das Herz zu spalten schien. Seit diesem Moment war mir bewußt, daß auch wir Vampire noch ein Herz besitzen. Das dunkle, tote Ding in unserer Brust war in der Lage, starke Empfindungen darzutun. Womöglich waren es nur Erinnerungen aus Lebzeiten, Reflektionen von Emotionen, doch sie ließen uns zumindest Schmerz empfinden, und auch wenn ich daran glauben mag, daß sie gleiches auch mit starker Freude vermögen, sollte mir dies nie gewahr werden.
Als sich Lysann aus den Fluten erhob und ich sah, wie sich Kleidung und das Fleisch in Fetzen von ihrem Körper schälten, leugne ich nicht, daß mir Tränen aus den Augen rannen, und ich wie ein Hund jaulte. Ich sah jedoch nur kurz weg, biß schnell die Zähne zusammen und blickte wieder hin, vielleicht in der stillen Hoffnung, mit dem Entsetzen auch den Mut zu finden, es den beiden gleichzutun und hinterherzuspringen, um mich auch dem endgültigen Tod zu übereignen.
Lysann holte Hatto ein, noch bevor dieser das Naß zu verlassen imstande gewesen wäre, klammerte sich an seinen Kopf und versuchte ihn wieder zurück in den Fluß zu zerren. Allein schien auch sie entkräftet und es wollte nicht recht gelingen.
»Maleachi!« schrie Lysann. Es schockte mich erneut, meinen Namen aus ihrem Munde zu hören und zu wissen, es würde das letzte Mal sein. »Die Ratten... ruf die Ratten!« Ihre Stimme klang dünn aus der Ferne zu mir herüber.
Zunächst wußte ich nicht, was sie gemeint hatte, so daß ich panisch wurde, dann aber fühlte ich den Schaft der Flöte in meiner Hand und weigerte mich zu glauben, daß Lysann mich angehalten hatte, auf ihr zu spielen. Ich wußte nicht, wozu die Kräfte des Kleinods imstande waren und was sie zu erreichen vermochten, so daß ich auch nicht erfaßte, es könne in dieser hoffnungslosen Lage einen Unterschied machen, ob ich mich nun dem Rhein übereignete oder auf einer kleinen, hölzernen Flöte spielte. Allein ich tat es.
Das Lied kannte ich und spielen vermochte ich ebenfalls, denn Lysann hatte es sowohl Arbogast als auch mich gelehrt, obgleich wir beide seinerzeit nicht gewußt hatten, was es ausmachte, ein Musikinstrument zu beherrschen. Zwar verzauberte uns das Können an sich, jedoch blieb die Magie der Musik zunächst kraftlos. Erst im reiferen Alter entdeckten wir die Kräfte der Klangwelt, nicht nur weil wir mittlerweile auch von der Kraft der Flöte und auf diese Weise auch von unserem eigenen Schicksal in Hameln erfahren hatten, sondern vielmehr da uns die Musik ein beschwingter Begleiter durch unser fremdartiges Dasein geworden war.
Nun spielte ich auf der kleinen Flöte mit der Inbrunst eines Tollgeistes, wiewohl hatte ich keinen Glauben daran, daß es etwas helfen mochte, und es war allein die Hoffnung, die mich trieb. Nachdem ich die Melodie einige Male gespielt hatte und mich ihrer und dem Fingersatz auf dem spärlichen Hölzchen sicher wußte, schaute ich während des Spiels zu Lysann, die vergeblich versuchte, Hatto zurück in den Rhein zu ziehen. Am rechten Rheinufer unterhalb der Burg Ehrenfels sah ich viele Soldaten mit Fackeln stehen, während zur Linken am Mäuseturm das Ringen um Hattos Schicksal fast entschieden schien. Arbogast glaubte ich im Wasser leblos liegen zu sehen, und auch wenn ich ahnte, er könne bereits endgültig tot sein, hoffte ich immer noch, die Magie der Flöte könne ihn am Leben halten.
Auch Lysanns Körper war dem Fraß des Wassers anheimgefallen und selbst aus der Entfernung erkannte ich, wie schlimm es um sie stand. Ihr rechtes Bein war kaum mehr als eine Stelze aus Knochen, ihr Hüftknochen ragte hell unter dem roten Gansbauch hervor.
Da plötzlich bewegten sich Schlieren am Ufer vor dem Mäuseturm, und wie sich aus dem Nichts Zirren bilden, isoliert, feder- und fadenartig, so wurden aus diesen Federwolken mit einem Male die schönen, faserigen Schleierwolken Zirrostrati, die mit einer Haloerscheinung schimmerten und schließlich zu Zirrokumuluswolken gediehen, deren Bällchen und Flocken sich zu menschlichen Gestalten ausformten. Es waren Geister, die das Mondlicht auf ihren schimmernden Körperballen fingen.
Und ich ward aufgewühlt, denn ich erkannte, daß ich sie wohl gerufen hatte mit dem Spiel der Flöte, die mir eben anmutete wie ein befremdliches Erbe, welches man von einem unbekannten Anverwandten zugestanden bekam. Ich bestaunte die Spukgestalten und schätzte zwei Dutzend. Die Geister der toten Zöllner, die im Mäuseturm stationiert gewesen waren und die der rachsüchtige Geist Hattos zu Tode erschreckt hatte, umringten nun ihren Peiniger.
Auch Hatto und Lysann hatten sie gesehen und hielten für einen Augenblick nur inne.
»Hinfort! Mäusepack! Bleibt weg! Ihr Ratten! Ihr nimmersattes Plagenvieh! Bleibt mir weg!« Auf diese Weise schrie der einstige Bischof zu Mainz panisch und wandte sich um. Als er erkannte, daß die Geister ihn umringten, ihn nicht vorbei, hin zur Sicherheit des Mäuseturms lassen wollten, da verfluchte er sie und lief zurück in den Rhein, weil es die einzige Richtung war, die ihm geblieben war. Vielleicht erhoffte er sich auf der anderen Uferseite ein Entkommen, doch ich wußte, daß dort die Zollner der Burg Ehrenfels lauerten, vom Spiel der Flöte ihrer Furcht beraubt und durchaus bereit und imstande, den Verfluchten im dunklen Fluß zu halten, bis er in ihm aufgegangen war. Lysann folgte Hatto müden, gebrechlichen Schrittes, ergriff schließlich den Geist und umarmte ihn, um mit ihm in die Fluten des Rheins zu fallen und darin zu vergehen.
Das fließende Wasser des Rheins würde das untote Leben verdünnen, bis daß es einfach, still und unauffällig vergangen war.
Ich spürte ein weiteres Stück meines alten Wesens sterben, als ich zu erfassen versuchte, daß Arbogast und Lysann für immer von meiner Seite gerissen waren, um einen Fluch zu brechen, der nun allein auf meinen Schultern lastete. Und nach einer mir endlosen Zeit, in der ich auf den Fluß spähte, von der verschworenen Hoffnung fehlgeleitet, mein Bruder oder Lysann würden ihren Kopf aus den Fluten strecken, um mich zur Rettung zu rufen, brach ich das Spiel an der Flöte ab. Nun war alles erfüllt vom Rauschen des Rheins und ich spürte, daß es der Klang der Emotionen war, der aus mir herausrann wie Blut. Es brachte Schmerzen, und ich würde deren in der folgenden Zeit noch viel erleiden.
Gewißlich liegt sehr wenig daran, ob wir Schmerz leiden oder nicht.
Mir bewies er, daß ich noch existierte. Zwar war ich allein und es gab kein mir verbundenes Leben mehr und das lebendige Band, welches uns drei geeint hatte, war getrennt, doch ich sah, daß meine Hingabe ward nicht geringer. Deutlich vermochte ich es zu sehen.
Ich wäre bereit gewesen, alle guten Tage, die mir je vergönnt gewesen, samt allen Verliebtheiten und Unbeschwertheiten hinzugeben, wenn ich dafür nur dieses Sehen hätte verewigen können. Es blendete die Augen, es verhärtete das Herz und auch die kindliche Zaghaftigkeit wurde gebrochen und am Ende war ich gar still, bescheiden und von furchtbarer Reife und Lebendigkeit.
Mit einem Ton auf der Flöte des Rattenfängers, der ich nun war und der seinem Gefängnis aus Stummheit auf diese Weise entrissen, holte ich die Besatzung des kleinen Schiffes aus ihrem Schlaf und befahl dem Kapitän, die Segel zu setzen und diesen verfluchten Ort eiligst zu verlassen. Und während die Segel bereits den Wind fingen und wir die Ratten am Rheinufer hinter uns ließen, da sah ich unsere Kindsmagd noch immer in sich zusammengesunken auf Deck stehen.
Die Decke war von ihren Schultern geglitten. Und als ich ihre Nacktheit erblickte, sehnte ich mich nach einer mütterlichen Umarmung, die etwas von meiner inneren Heimat mit sich trug. Ich ging zu ihr, nahm sie in den Arm, hielt ihren Kopf in meiner Hand, strich mit der anderen über die Wölbung ihrer linken Brust, die durch das Anschmiegen zur Seite gewichen war, und erbebte bei dieser gütigen, hingebungsvollen Liebkosung. Doch ich war längst kein Kind mehr, und so erlöste ich die Kindsmagd mit dem alles vernichtenden Kuß und füllte ihr Leben in das meinige.
05. Aug. 2006 - Marc-Alastor E.-E.
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