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Das Opfer der Sonnengöttin von Andrea Hoch
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Endlich war es geschafft. Müde, aber gut gelaunt tippte Beth das Wort Ende in die Tastatur ihres Laptops und lehnte sich zurück. Sie nahm die Brille ab und rieb sich die müden Augen. Unter ihrem Pseudonym Kimberly Jones stand sie ganz oben auf der Bestsellerliste. Ihre Horror- und Fantasybücher besaßen auch in Europa einen großen Bekanntheitsgrad. Aber jedes Jahr zwei Bücher herauszubringen, ging an die Substanz. Sie sollte endlich Urlaub nehmen, doch wieder einmal hatte sie sich von ihrer Verlegerin überreden lassen, einen Vertrag für das nächste Buch zu unterzeichnen. Seit gestern Nachmittag hatte sie unentwegt geschrieben, jetzt war es später Vormittag. Hungrig verschlang sie ein Sandwich und legte sich aufs Bett. Die Ruhe und Abgeschiedenheit ihres Wochenendhauses gaben ihr die notwendige Inspiration zu schreiben. Sie kam oft hier her. Einerseits wäre sie jetzt gerne nach Hause gefahren, doch zuerst musste sie ein paar Stunden schlafen. Am Nachmittag war Sonnenfinsternis, da wollte sie schon zu Hause sein. Hier in diesem Teil von Wisconsin erzählte man sich allerlei Schauergeschichten, egal, ob es sich um Sonnen- oder Mondfinsternis, um Neu- oder Vollmond handelte. Jeder der hier lebenden Menschen hatte angeblich schon einmal mit Vampiren, Werwölfen oder dergleichen zu tun gehabt.
Beth war abergläubisch. Vielleicht nicht ganz typisch für eine Horror-Autorin, aber wer wusste schon, ob nicht das ein oder andere Körnchen Wahrheit in einigen der Geschichten steckte. Sie gähnte herzhaft. Aberglaube hin oder her, ihr Bedürfnis war sehr weltlicher Natur. Nur ein paar Stunden Schlaf, dann wollte sie in ihre Stadtwohnung fahren und die Bewohner mit ihren Gruselgeschichten zurück lassen.
Beth wälzte sich hin und her, wurde von wirren Träumen geplagt. Als sie zum wiederholten Mal erwachte, stand sie genervt auf. Nun gut, dann fuhr sie eben gleich nach Hause. Sie verspeiste das letzte Sandwich, wusch die Kaffeetasse und glättete das Bettzeug. Wenn sie das nächste Mal kam, musste alles perfekt in Ordnung sein. Eine Stunde würde die Fahrt dauern. Sie verstaute ihre Reisetasche im Truck und blickte sich nachdenklich um. Die Sonne schien, aber irgendetwas war anders. Beth spürte etwas Bedrohliches, Finsteres, das sich unaufhaltsam auf sie zu bewegte. Hatte sie Wahnvorstellungen? Dumme Gans, schimpfte sie sich selbst. Die Sonne scheint. Was sollte denn schon sein?
Plötzlich wusste sie es.
Die Geräusche der Natur fehlten. Kein Vogelgezwitscher, keine anderen Tierlaute, wie man sie für gewöhnlich wahrnahm. Sie hörte nichts, einfach nichts. Nicht einmal ein Windhauch war zu spüren. Schlagartig wurde ihr unheimlich zumute. Schauermärchen der Einheimischen gaukelten durch ihren Kopf. Ihre Brille lag noch auf dem Tisch, die Haustür musste sie absperren, dann konnte es los gehen. Hastig drehte sie sich um und blieb wie angewurzelt stehen. Ein Bild von einem Mann stand in der offenen Haustür. Das war doch
Verdammt, wie hieß der Schauspieler doch gleich?
Dann war es also wahr, was Insider berichteten. Ein bekannter Schauspieler hatte sich am Half Moon Lake ein Haus gekauft. Beth war sicher, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Seine Hakennase und die dunklen Augen gaben seinem Gesicht etwas Animalisches. Das schwarze, bis über die Schultern reichende Haar hatte er sich wahrscheinlich für seinen nächsten Film wachsen lassen. Es ließ sein Gesicht weicher wirken. Beth dachte angestrengt nach, doch der Name fiel ihr nicht ein.
Schöner Tag heute, sagte nun dieses Prachtexemplar. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.
Beth winkte ab. Hallo, murmelte sie. Ich wollte gerade wegfahren.
Möchten Sie denn nicht die Sonnenfinsternis von hier genießen?
Nein, das hatte ich nicht vor, antwortete sie lächelnd.
Sie wollte nicht unhöflich erscheinen. Ich kann Ihnen leider nichts anbieten.
Das macht gar nichts. Ich habe alles was ich brauche.
Nun, wenn er das sagte, dann musste er in der Nähe wohnen.
Beth ging in Gedanken die Filme durch, die sie jemals gesehen hatte, doch der Name des Mannes fiel ihr partout nicht ein. Naja, war auch egal. Wie es schien, wollte er sich nicht vorstellen.
Um das peinliche Schweigen zu brechen, plauderte Beth einfach drauf los:.
Ich komme schon seit Jahren hier her. Nicht weit von hier liegt ein See, dort sind auch mehr Menschen anzutreffen. Viele werden sich von dort die Sonnenfinsternis ansehen.
Spüren Sie die Magie?, fragte er unvermittelt.
Beth starrte ihn an. Sie hatte noch nie Schauspieler kennen gelernt. Vielleicht waren sie alle ein wenig abgehoben. Er war schlank, braungebrannt, attraktiv. Ein Mann der Frauenherzen höher schlagen lässt. Doch Beth spürte noch etwas anderes, etwas das sie nicht einordnen konnte und das ihr Angst machte.
Sie können jetzt nicht fahren. Die Sonnenfinsternis setzt bald ein.
Beth blickte auf ihre Armbanduhr. Tatsächlich. In knapp einer Stunde würde es soweit sein. Sie wollte jedoch nicht mit diesem Fremden hier bleiben, mochte er Schauspieler sein oder nicht. Lächelnd schüttelte sie daher den Kopf.
Ich bleibe.
Oh Gott, was sagte sie da? Sie wollte ihre Beine bewegen, aber ihre Füße blieben wo sie waren. Was machte er mit ihr? Hypnotisierte er sie? Und dieses Lächeln. Plötzlich kam es ihr satanisch vor. Ein Teil ihres Gehirns befahl ihr wegzulaufen. Ich bleibe. Nein, sie wollte doch etwas anderes sagen. Sie musste sich konzentrieren. Das war unmöglich. Sie war schon immer willensstark gewesen. Gleich würde sie sich umdrehen und losfahren.
Er streckte die Hand nach ihr aus. Ihre Beine bewegten sich auf ihn zu, ohne dass sie es verhindern konnte. Einem winzigen Teil ihres Gehirns war es möglich zu denken, der andere Teil war auf diesen Mann fixiert. Ein Stromstoß glitt durch sie hindurch, als seine Hände sie berührten. Sie wollte laut schreien, ihm sagen, dass sie nach Hause musste.
Du kennst deine Berufung, Keelandra. Du kannst dich ihr nicht verweigern.
Jetzt war er total durch geknallt. Der war mit seinen Gedanken sicher in einem seiner Filme.
Beth versuchte sich loszureißen, doch leider geschah dies nur in ihren Gedanken. In Wirklichkeit folgte sie ihm willenlos, als er sie, ohne den Blick von ihr zu wenden, ins Haus führte.
Dein Haar leuchtet golden wie die Sonne. Du bist eine der sieben Jungfrauen. Deine Bestimmung ist es, die Welt zu retten.
Beth sei stark, reiß dich zusammen. Lauf weg, dachte ein Teil von ihr. Elektrisiert starrte sie auf die Kette, die unter seinem Hemd hervor lugte. Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr.
Nein, das war unmöglich, einfach zu utopisch.
Ihr Gehirn sträubte sich, ihr Körper hingegen sehnte sich nach seinen Berührungen. Langsam streifte er ihr ein Kleidungsstück nach dem anderen ab, bis sie nackt vor ihm stand.
Wir haben nicht mehr so viel Zeit, wie es sein sollte. Doch bevor du für immer zur Sonne gehst, zeige ich dir das Paradies. Ich habe dein Amulett mitgebracht. Er streifte die Kette über seinen Kopf und legte sie auf den Tisch.
Sanft drängte er sie zum Bett. Seine Hände und seine Zunge erkundeten jeden Zentimeter ihres Körpers, der sich ihm willig entgegen bäumte, während ein Teil von ihr sich verzweifelt dagegen wehrte. Doch hoffnungslos stand sie in seinem Bann.
Die sechs jungen Frauen trugen weiße Gewänder und verbeugten sich vor der Frau, die an den Pfahl gefesselt war. Ihre Amulette glänzten in der Sonne.
Keelandra, du bist die siebente Jungfrau der Sonnengöttin. Du bist auserwählt, die Welt vor der ewigen Nacht zu retten. Der Sprecher war ein großgewachsener Mann mit einer stark hervorstehenden Nase, aber trotzdem attraktiv. Sein Umhang war so schwarz wie sein schulterlanges Haar.
Beth schrie auf. So wenig wie Mond- und Sonnenfinsternis zur selben Zeit stattfinden konnten, so wenig konnte das hier geschehen. Bald würde sie aufwachen und über diesen Traum lachen. Doch es fühlte sich real an. Die Fesseln schnitten in ihre Gelenke, das Messer in der Hand des Schwarzhaarigen sah furchterregend aus. Mochte es verschiedene Nachtwesen geben, unheimliche Begegnungen, doch das hier war schlicht unmöglich. Das war ihre Geschichte, erfunden für Millionen von Lesern, die für ein paar Stunden in die Welt der Fantasie eintauchen wollten. Sie hatte die Figuren erschaffen, sie hatte die Handlung erfunden. In ihrem Roman opferte ein Magier eine der sieben Jungfrauen des Clans der Sonnengöttin, um die Welt vor ewiger Finsternis zu retten. Der Fremde in ihrem Haus, war der Magier aus ihrem Roman.
Ein Blick in die Gesichter der Frauen zeigte Beth, dass sie von ihnen keine Hilfe zu erwarten hatte. Tränen rannen über ihre Wangen.
Bitte, lass es nicht wahr werden. Es ist doch nur ein Traum, schluchzte sie. Hab Erbarmen. Die Angst ließ sie trotz der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut zittern. Gleich würde sie aus dem Alptraum erwachen, es konnte nicht anders sein.
Ein kalter Lufthauch zog über die Menschen hinweg. Der Sonnenball wurde kleiner, die Welt verdunkelte sich.
Keelandra, wir danken dir für dein Opfer. Die Sonnengöttin wird sich deiner annehmen.
Das Messer in der Hand des Mannes kam ihrem Herzen näher und näher.
Aus Beths Kehle löste sich ein markerschütternder Schrei.
Es war gespenstisch. Kein Laut zu hören, kein Lufthauch zu spüren, so als halte die Welt für einen Augenblick den Atem an. Dunkelheit erfüllte den Planeten Erde. Dann, nach einiger Zeit, schob sich Stück für Stück die Sonne wieder in den Vordergrund. Die Laute der Natur lösten die Stille ab.
Ein Truck stand vor dem Blockhaus. Im Inneren des Hauses herrschte eine beklemmende Atmosphäre.
Auf dem Tisch lagen eine Brille und ein Amulett. Es war fast so, wie immer.
29. Aug. 2009 - Andrea Hoch
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