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Die schwarze Witwe von Barbara Büchner
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Oh nein - bitte nicht!, dachte Inspektor Bronsky, als sich die Glastür der Wachstube öffnete und zusammen mit der Dunkelheit und der kalten Luft des Vorraums die unverkennbare Silhouette einer alten Frau hereinkam. Bitte nicht zu allem anderen Ärger jetzt auch noch ein altes Weib..., durchzuckte es ihn.
Er war ein stämmiger junger Mann, dessen etwas zu molliger Körper die Uniformjacke in Form preßte. Er war im allgemeinen gutmütig und hilfsbereit, wie ein Polizist sein soll, aber er tat sich schwer mit alten Leuten, und der Abend war ohnehin eklig genug. Draußen ging in schweren Schauern der Schneeregen nieder; die Kollegen, die zu einem Einsatz hinausmussten, kamen mit feuchter Kleidung und durchfroren zurück und hockten, statt wie sonst zu plaudern, mürrisch in den warmen Winkeln des Aufenthaltsraumes. Im Moment waren sie alle unterwegs, und wenn sie zurückkamen, würden sie völlig unansprechbar sein, weil es bereits über Mitternacht hinaus war.
Bronsky rieb sich das Auge, in dem er bei dem Gedanken an Mitternacht Sand gespürt hatte. Das andere Auge blickte durch die Wachstube und verifizierte, dass jeder vertraute Anblick noch da war: Die hölzerne Budel mit den Formularen und Merkblättern darauf, die hölzerne Sitzbank gegenüber (auf der sich die Raufer und Trunkenbolde und alle schlechten Menschen hinsetzen mussten) und das Tischchen mit den beiden hässlichen Fauteuils (an dem die guten Menschen Platz nehmen durften, die fremde Uhren und Ringe gefunden oder ihre eigenen verloren hatten). Sein Blick streifte das Terroristenplakat, auf dem die Kollegen wie beim Schiffchenversenken, dachte Bronsky pedantisch die Gesichter der Erschossenen und Gefassten auskreuzten. Wanderte über den "Hinweis für Hundebesitzer" und das Phantombild eines dringend gesuchten Mörders, das dem Mörder vermutlich nicht ähnlich sah. Die kalte Luft, die aus dem Vorzimmer hereindrang und über das alles hinwegstrich, roch nach Nässe und Abgasen und alter Frau.
"Machen Sie bitte die Tür zu", sagte Bronsky, und gleichzeitig dachte er: Merkwürdig das mit dem Geruch. Irgendwie rochen sie alle, auch die feinsten von ihnen. Rochen nach Drogerie und nach lange getragenen Pelzen und aus der Mode gekommenen Parfüms. Er stützte die Arme erwartungsvoll auf die Budel und bemühte sich, etwas anderes zu riechen als den eigentümlich schwülen und stickigen Geruch, der sie umgab.
"Was kann ich für Sie tun?", fragte er. Im selben Augenblick ärgerte er sich darüber. "Was kann ich für Sie tun?", fragten Verkäufer, nicht Polizisten. Andererseits wie die Frau aussah, hätte er es niemals fertiggebracht, einfach zu sagen: "Was gibts?"
Er betrachtete sie aufmerksam und ein wenig irritiert, wie sie langsam (wahrscheinlich hatte sie Wasser in den Beinen oder Arthritis in den Knien) quer durch die Wachstube auf ihn zukam und vor ihm stehenblieb. Sie wirkte exzentrisch, fast grotesk, aber sie war, dachte Bronsky, zweifellos eine Dame, wenn auch eine etwas verstaubte. Er schätzte sie zwischen sechzig und siebzig. Sie trug einen kostbaren, aber stark aus der Mode gekommenen schwarzen Pelzmantel, der sie vom Hals bis zu den Zehen verhüllte, und auf dem Kopf eine Art Duschhaube als Regenschutz. Im Neonlicht war ihr Gesicht weiß wie das eines Harlekins. Ihre Augenbrauen waren zwei nackte schwarze Striche auf der Haut, die den Stirnfühlern eines Insekts viel ähnlicher sahen als Augenbrauen. Als sie die Duschhaube abstreifte und das Wasser davon abschüttelte, kam darunter das Haar zum Vorschein: unglaublich lackschwarzes, zu einem kessen Pagenkopf frisiertes und unverkennbar falsches Haar. Der glänzend geschminkte Mund vervollständigte den Eindruck, den Bronsky von ihr hatte: Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. Nur dass es nicht Schneewittchen zu sein schien, die vor ihm stand, sondern eher die Stiefmutter.
"Worum handelt es sich?", fragte er, bemüht, den servilen Eindruck zu verwischen, den seine erste Frage hinterlassen haben mochte.
Sie stellte ihre Handtasche aufs Pult und musterte ihn aus Augen, die in diesem kalkigen Gesicht wie die Kohlestückchen im Gesicht eines Schneemanns wirkten. "Ich möchte eine Anzeige machen". Ihre Stimme war tief und selbstbewusst. Bronsky ertappte sich dabei, wie er die Uniformjacke über den Hüften glattstrich.
Er lächelte entgegenkommend, wie man es ihm eingedrillt hatte. Gleichzeitig knüllte er in Gedanken die Anzeige, die sie machen wollte, zusammen und warf sie in den Papierkorb. Die Frau wirkte intelligent, aber auch irgendwie wunderlich. Wahrscheinlich lärmten ihre Nachbarn, oder sie benahmen sich so verdächtig, dass man sie für Kinderverführer und Staatsfeinde halten musste.
"Sie müssen mir sagen, gegen wen und warum."
"Gegen wen, werden S i e feststellen müssen, Herr Inspektor, dazu ist die Polizei schließlich da." Für eine so alte Frau hatte sie eine erstaunlich wohlklingende, fast erotische Stimme; ein tiefer Ton schwang darin mit wie das Schnurren einer Maultrommel. "Und warum? Ich bin belästigt worden."
"Ich verstehe. Bitte geben Sie mir erst einmal Namen und Adresse an." Bronskys Lächeln vertiefte sich. Er zog eines der Formulare herbei, angelte nach einem Kugelschreiber und blickte die Frau erwartungsvoll an.
"Koprda", antwortete sie. "K-o-p-r-d-a. Elise. 67 Jahre alt. Witwe. Ich wohne keine zehn Minuten von hier - in der Sterngasse. Nr. 7. Das Haus mit dem blauen Gitterzaun."
"Sehr gut." Er ärgerte sich selbst, wenn er sich diesen Krankenpflegerton anschlagen hörte, aber es war eine von den dummen Gewohnheiten, die der Dienst mit sich brachte. Außerdem gab es nicht allzuviele, die ihre Aussagen so präzise wie Elise Koprda machten. Die meisten erzählten ihm, wenn er sie nach Namen und Adresse fragte, in allen Einzelheiten die Todeskrankheit ihres verblichenen Gatten.
"Ja", fragte er, "und was ist Ihnen nun geschehen?"
"Ich wurde belästigt", wiederholte sie steif, fast, als betrachtete sie es als zusätzliche Belästigung, dass sie mit ihm darüber sprechen sollte.
Belästigt! Was mochte jetzt kommen? Hatte ein Fremdarbeiter sie vermeintlich lüstern betrachtet, oder war ihr ein Junge mit dem Skateboard vor die Füße gefahren, oder hatte ein Stadtstreicher sie angebettelt? Bronsky warf unwillkürlich einen Blick auf den Aktenschrank hinter seinem Rücken. Es war unglaublich, mit welchen Anliegen manche von diesen alten Leuten zur Polizei kamen. Wenn sie sich den Psychiater nicht leisten konnten und dem Pfarrer nicht mehr glaubten, wandten sie sich ans Bezirkskommissariat. Manche kannte er bereits vom Sehen, vor allem diejenigen, die in Abständen in die Psychiatrie gebracht werden mussten. Aber die Frau hier war ihm fremd. Nun sie war noch verhältnismäßig jung. Die beste Zeit für Spleens und Schrullen waren die siebziger Jahre.
"Von wem belästigt?", fragte er geduldig.
"Nun von diesem Mann." Sie stieß schnaubend die Luft aus. In ihren Augen funkelte es wie das Katzengold in der Kohle. "Sie dürfen nicht glauben, ich wäre etwa schon senil, ich bin geistig noch sehr gut beisammen, und ich lese die Zeitung. Ich fand dieses Benehmen sofort verdächtig."
"Natürlich", stimmte Bronsky zu. "Welches Benehmen?"
"Die Art, wie er mich anredete. Und mir anbot, meine Tasche zu tragen."
"Ihre Einkaufstasche?"
"Natürlich meine Einkaufstasche!", erwiderte sie im barschen Ton einer Gouvernante. "So macht er es doch immer, oder etwa nicht?"
Bronsky nickte, ohne aufzusehen. Er dachte: Wir sollten riesengroße Plakate an allen Plakatwänden der Stadt anschlagen lassen. "Männer! Die Polizei warnt euch eindringlich davor, alten Damen über die Straße zu helfen oder ihnen die Tasche zu tragen. Lasst es bis auf weiteres bleiben bis wir diesen Irren gefasst haben. Zuwiderhandelnde tun es auf eigene Gefahr."
Natürlich, dachte er dann (etwas milder gstimmt), verständlich war es schon. Da saßen sie daheim, in den Zitadellen der alten Häuser, in ihren riesigen muffigen Wohnhöhlen, hörten mit halbtauben Ohren Radio und lasen mit halbblinden Augen die Zeitung und zitterten Tag und Nacht davor, dass der Mörder plötzlich vor i h r e r Tür stand. Angenehm war dieses Leben sicher nicht. Sie waren, dachte er aus seiner Polizistenerfahrung heraus, so leichte Beute ... so hilflos und wehrlos und so entsetzlich dumm.
"Beschreiben Sie mir den Mann, bitte", bat er freundlich. In solchen Situationen war es das Beste, die Nerven zu bewahren und zu Protokoll zu nehmen, was ankam. Nach den Beschreibungen, die die Polizei bis dahin erhalten hatte, war der Frauenwürger die reinste Chimäre ein leichenblasser, dunkelhäutiger, langhaariger Kahlkopf mit grotesken nichtssagenden Zügen, ein bieder und harmlos wirkender Rocker in auffallend unbestimmbarer Kleidung. Und ein paar Männer, die hilfsbereit hatten sein wollen, waren in Handschellen abgeführt worden und hatten sich geschworen, nie wieder hilfsbereit zu sein.
Elise Koprda beschrieb den Mann als hellblond und kraushaarig und auffallend hässlich. Bronsky fügte ihrer Beschreibung (nur in Gedanken) hinzu, dass zu seiner Physiognomie vermutlich auch ein stechender Blick und ein grässliches Grinsen gehörten.
Er behielt recht.
"Mir fiel sofort dieser Blick auf", sagte die alte Frau, fast triumphierend, stolz auf ihre Klugheit. "Ein unnatürlicher Blick. Und er lächelte auf eine mehr als merkwürdige Art. Eine Bestie, das fühlte ich sofort."
Bronsky sah auf. "Das fühlten Sie?"
Sie gab seinen Blick zurück. "So etwas fühle ich, jawohl. Er hatte alle Kennzeichen eines Verbrechertyps."
Einen Augenblick lang hatte Bronsky das Gefühl, als wehte ihm eiskalter Wind ins Gesicht. Er hatte in seinen Polizeidienstjahren Zeit genug gehabt, dieses Phänomen kennenzulernen den Hass alter Leute. Einen Hass, der anders war als der junger Menschen, der etwas fast Jenseitiges an sich hatte. Er wuchs aus Gebrechlichkeit und Schwäche und dem Wissen, nicht mehr genug Zeit und Kraft zu haben, um die Rache noch blühen zu sehen. Kinder konnten hassen und denken: Wenn ich einmal groß bin. Erwachsene konnten hassen und sagen: "Wenn ich die Gelegenheit bekomme..."
Aber die Alten wussten, wie winzig ihre Chance war, zur Rache zu kommen. Sie machten keine Pläne mehr. Sie hassten nach innen, mit einer kalten höllischen Wut, die sich unter ihrer Furchtsamkeit und Unterwürfigkeit ausbreitete wie ein Morast unter trügerischem Grün.
"Sie sagten dem Mann also..." Bronskys Kugelschreiber wanderte zur nächsten Spalte des Formulars.
"Ich sagte ihm, er solle sich trollen."
"Und das tat er?" Natürlich hatte er das getan, dachte der Inspektor. Vermutlich saß er jetzt in seinem Stammcafé oder zu Hause und sagte zu irgend jemandem: "Und das war das letzte Mal, dass ich so einer alten Schachtel anbiete, ihr zu helfen. Die hat mich glatt einen Verbrecher genannt! Ab jetzt können sie ihre Binkel selbst schleppen, und wenn ihnen das Kreuz dabei bricht."
"Zuerst ja", antwortete Elise Koprda auf seine Frage. Sie stand immer noch vor der hölzernen Schranke, wie sie in der ersten Minute dagestanden war, aufrecht, im fest zugeknöpften Pelzmantel, eine Hand auf dem Kragenknopf, die andere auf dem Bügel ihrer Handtasche, die auf der Budel stand. Etwas an ihrem Gehabe verriet Bronsky der ein erfahrener Polizist war , dass sich etwas in dieser Handtasche befand, das sie ihm in Kürze zeigen würde. Etwas, das ihm den Atem nehmen sollte. Er sah es deutlich an der Art, wie ihre Finger auf dem Bügel herumglitten und mit dem Verschluss spielten. Er kannte den Vorgang: Sie fühlte, dass er ihr nicht recht entgegenkam, und wehrte immer wieder die Versuchung ab, ihren Trumpf jetzt schon auszuspielen. Sie zwang sich selbst, zu warten, bis er seinen Unglauben oder seine Gleichgültigkeit deutlich verriet und dann würde sie die Tasche öffnen, dann käme unter Trompetengeschmetter und Paukengedonner das Beweisstück zum Vorschein, das ihn und alle skeptischen Polizisten der Welt ein für allemal überzeugen müsste ... wahrscheinlich ein Zettel mit einer hingekritzelten Adresse darauf. ("Dort wohnt er, gehen Sie dorthin und verhaften Sie ihn, dann werden Sie schon sehen!")
"Zuerst ging er weg", berichtete Elise Koprda weiter. "Aber dann merkte ich, dass er mir folgte. Genau genommen merkte ich es, als ich in die Drogerie ging ich bin leidenschaftliche Hobbyfotografin und kaufe einmal in der Woche neue Filme."
"Dort merkten Sie was?", fragte Inspektor Bronsky, der Angst bekam, sie könnte ihm bei dieser Gelegenheit alles über ihr Hobby erzählen.
"Dass er mir nachgegangen war. Er stand beim Zigarettenautomaten, mit dem Rücken zu mir, aber natürlich merkte ich, dass er sich auf mich konzentrierte."
"Ging er Ihnen noch weiter nach?" Bronsky war (wie seine Kollegen auch) nach Hunderten Falschmeldungen abgestumpft, aber jetzt machte sich doch ein kleines Gefühl bemerkbar ein Gefühl, als tupfte jemand mit einer sehr kalten Fingerspitze sein Steißbein an. Ein Gedanke, der ihn (wie seine Kollegen auch) zumindest im Unterbewussten ständig beschäftigt hatte, fuhr wieder ins Bewusste empor: Junge! Und wenn's diesmal doch wahr wäre? Einer wird ihn ja zuletzt fangen und warum sollte der eine nicht ich sein? Angenommen, sie hat recht gesehen, und das Schwein war hier im Bezirk unterwegs...
"Ja", sagte die alte Frau. "Er ist mir nachgegangen bis zur Wohnungstür. Er schlüpfte beim Haustor herein und blieb eine Treppe unter mir, und als ich gerade aufgesperrt hatte, rannte er die Stiegen herauf."
Aus dem kalten Tupfen auf Bronskys Rücken wurde plötzlich etwas wie ein in Eiswasser getauchter Umschlag.
Die Alte stand hier und lebte ... trotzdem wurde ihm übel bei dem bloßen Gedanken, was ihr hätte zustoßen können. Er hatte die polizeiinternen Berichte über die anderen Fälle gelesen, die Berichte, in denen detailliert geschildert war, was in der Presse dann mit "zahlreiche verschiedenartige Verletzungen" diskret umschrieben wurde. Der Mann sei wahnsinnig, sagten die Psychiater. Bronsky fand, dass es nur ein Wahnsinn des Hasses sein konnte, der einen Menschen dazu trieb, mit anderen Menschen solche Dinge anzustellen, wie sie in den gerichtsmedizinischen Protokollen beschrieben wurden.
Seine Stimme war plötzlich belegt, als er fragte: "Was hat ihn vertrieben? Er drang doch nicht in ihre Wohnung ein oder?"
"Doch", sagte sie. "Er stieß mich hinein, bevor ich schreien oder irgendetwas tun konnte. Er war flink wie ein Affe. Er hielt mir ein Messer vors Gesicht ein langes dünnes Messer. Er sagte..." Sie blickte zu Boden, und Bronsky sah, wie auf ihren Wangen ein schmutziges Rot unter der weißen Puderschicht aufglühte. "Er sagte scheußliche, gemeine, obszöne Dinge."
"Sagte er sie nur?", fragte Bronsky leise. "Oder..."
Sie antwortete antwortete erstaunlich gefasst: "Manche sagte er nur, und manche tat er. Ich werde nicht darüber sprechen." Sekundenlang schwieg sie, als wolle sie die Entschlossenheit des letzten Satzes auf ihn wirken lassen, dann fuhr sie fort: "Er hatte nicht viel Zeit, etwas zu tun. Ich war immer eine fromme Frau, deshalb half mir mein Namenspatron in der Not. Der Mann stürzte glitt auf einem Vorleger aus und stürzte genau an der Stelle, wo zwei Stufen vom Vorzimmer ins Esszimmer hinunterführen. Er schlug hin und blieb liegen."
Der Inspektor fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. "Bewusstlos?!"
"Ja. Ich ging hinunter, und im ersten Zorn dachte ich, ich wollte etwas Schweres nehmen einen Leuchter oder eine Statuette und ihn damit totschlagen. Dann überlegte ich es mir anders. Ich holte Reepschnur und fesselte ihn so gründlich, dass er sich nicht mehr befreien konnte."
Bronsky sah sie an, mit einem Gefühl, als sei er mehrmals hintereinander auf einer sehr langen und sehr steilen Achterbahn samt Looping gefahren. "Sie haben ihn gefesselt?"
"Ja."
"Und Sie sind sicher, dass er immer noch in Ihrer Wohnung liegt?" Er konnte es kaum glauben.
"Oh, da bin ich ganz sicher", sagte Elise Koprda.
Bronsky legte beide Hände flach auf die hölzerne Platte, um ihr Zittern zu verbergen. Es war phantastisch. Es war absurd. Diese feiste alte Katze! Andererseits ... so besonders viel gehörte auch wieder nicht dazu, einen bewusstlosen Mann zu fesseln. Aufs Revier bringen würde ihn jedenfalls Inspektor Bronsky. Und für den Pressebericht konnte man die Geschichte ja ein bisschen auffrisieren ... die alte Dame legte sicher nicht viel Wert darauf, groß in der Zeitung zu stehen.
Er wurde plötzlich sehr höflich und zuvorkommend (als strafe ihn das Gewissen schon heimlich für diesen Plan, sich den Ruhm zu erschleichen). "Sie müssen entschuldigen ... ich lasse Sie hier stehen, nach allem, was Sie durchgemacht haben... Bitte setzen wir uns doch."
Sie folgte ihm mit ihrem schwerfällig arthritischen Schritt zu dem Tischchen mit den beiden Fauteuils. Sie war beim Gehen sah man es deutlicher als beim Stehen eine dicke Frau. Bronsky sah sie an, und ein paar scheußlich obszöne Gedanken huschten durch seinen Kopf. Er zwang sich, an das Naheliegende und Bedeutsame zu denken. Er musste den Mann aufs Revier bringen, bevor die anderen zurückkamen, das war weit wichtiger als der Anblick einer alten Frau im Pelzmantel und die Erinnerung an gewisse übelkeiterregende Stellen in den gerichtsmedizinischen Protokollen.
Ein Risiko allerdings bestand: Da war immer noch die Möglichkeit, dass sie ihn, absichtlich oder aus Verrücktheit, zum Besten hielt. Da war vor allem noch eine Frage, die sie ihm erst beantworten musste, bevor er ihr Glauben schenkte. Er blickte zu ihr auf. Sie stand am Tisch und knöpfte eben ihren schweren Pelzmantel auf. "Ich möchte noch eines wissen, Frau Koprda. Wann hat sich das abgespielt, diese Begegnung?", fragte er, plötzlich wieder argwöhnisch. "Sie sagten, Sie waren einkaufen, als der Mann Sie zu verfolgen begann, also war es vor sechs Uhr, und jetzt haben wir fast ein Uhr morgens. Warum kommen Sie erst jetzt zur Polizei?"
Sie setzte sich mit einer unbeholfenen Bewegung nieder. "Ich konnte nicht früher", sagte sie. "Ich hatte noch so viel zu tun."
"Zu tun?" Du meine Güte!, dachte er, diese alte Kröte hatte doch hoffentlich nicht alle Spuren aufgeputzt, bevor sie hierhergekommen war? Wie sollte man dem Kerl etwas nachweisen, wenn ihre Wohnung jetzt am Ende blitzte und blinkte?
"Was zum Kuckuck hatten Sie zu tun?", rief er.
Die alte Frau richtete ihren kalten schwarzen Blick auf ihn. Sie sprach leise, und er war wieder erstaunt, wie wohlklingend ihre Stimme war und wie ruhig, in Anbetracht dessen, was sie zu sagen hatte. "Er sagte, er hasse solche wie mich. Nun, umgekehrt wird auch ein Schuh draus. Ich hasse solche wie ihn. Ich wollte erst zur Polizei gehen, aber dann dachte ich: Es war nicht die Polizei, die sich vor ihm fürchtete, es waren alte Frauen wie ich, die kaum noch wagten, auf die Bank oder zum Einkaufen zu gehen ... alte Frauen, die bei jedem Klopfen an der Türe erschraken, die wussten, dass e r es sein könnte, und dass ihnen niemand zu Hilfe kommen würde, dass man insgeheim über sie lachte und insgeheim fand, es sei ganz richtig so. Macht sie weg, was brauchen sie noch da herumzuhängen mit ihren großen Wohnungen und dicken Sparbüchern und hässlichen Runzelgesichtern; applaudiert dem Kerl, der sie euch vom Halse schafft..." Sie schwieg abrupt, als hätte sie ein Limit ihrer Kraft erreicht, und sagte leise: "Ich wollte nicht sofort die Polizei alarmieren. Ich dachte über alles nach ... was diesen alten Frauen durch den Kopf geht, wenn sie nachts nicht schlafen können, was mir selber durch den Kopf geht ... und... Nun, und dann habe ich alles getan, was wir uns in diesen Stunden schon ausgemalt haben." Sie öffnete ihre Handtasche und zog einen kleinen Plastikumschlag heraus. "Sie glauben mir ja wohl nicht ... aber Sie werden es gleich sehen. Sagte ich Ihnen nicht, ich bin begeisterte Hobbyfotografin? Ich habe auch eine Sofortbildkamera. Und ich habe jede einzelne Phase der Prozedur fotografiert."
Sie beugte sich vor und hielt ihm den Umschlag voller Fotos entgegen. Der Pelzmantel sprang auf und enthüllte, dass sie nichts weiter darunter trug als ein baumwollenes, geblümtes Unterkleid. Das Unterkleid war blutig nicht blutbespritzt, sondern vom Dekollete bis zum Spitzensaum von Blut starrend wie eine Schlächterschürze, und Bronsky war sofort klar, dass das nicht ihr eigenes Blut war.
20. Sep. 2009 - Barbara Büchner
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