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Schattenherz
von Andrea Gunschera

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

SIEBEN VERLAG
A. Bionda
4 Beiträge / 26 Kurzgeschichten vorhanden
Mark Freier Mark Freier
© http://www.freierstein.de

Prologstory zur Serie "CITY OF ANGELS


(Los Angeles, 1985)

„Töte ihn.“ Ihre Stimme klang wie schleifende Seide.
Alan stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete Katherinas Gesicht. Die marmorne Perfektion ihrer Züge faszinierte ihn noch immer, obwohl sie nicht mehr diese Saite in ihm zum Schwingen brachte, wie zu Beginn ihrer Affäre. Bevor sie begonnen hatten, einander zu benutzen.
„Warum ich?“, fragte er. „Schick einen deiner Schergen.“
Sie zog eine Linie über seine Haut, den Arm hinauf, bis hoch zur Wange. Ihre Finger fühlten sich kühl an. „Weil er zur Garde gehört. Er kennt meine Leute.“
Alan schob ihre Locken beiseite und beugte sich zu ihr hinab. Seine Lippen streiften ihre Kehle und er empfand eine fast boshafte Befriedigung, als sie sich versteifte. Sie war auf der Hut. Gut so.
Mit der Zunge zeichnete er ihre Kinnlinie nach, tastete zwischen ihre Lippen. Katherina entspannte sich wieder. Schwer ließ er sich auf ihr niedersinken, ein Knie zwischen ihren Schenkeln.
„Mich kennt er nicht?“
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Atem streifte seine Wange.
Alan hielt inne. „Es ist kein Geheimnis, dass du mit mir schläfst.“
„Er ist dir nicht gewachsen, Alan Schattenherz.“
„Er ist ein Bluttrinker.“
„Und wenn schon.“ Katherinas Hände strichen seine Hüften hinab. Ihre Nägel gruben sich in seine Hinterbacken. „Du willst dieses Buch, oder nicht? Töte ihn, und ich schenke es dir.“
Ihre Worte zerrissen den Moment und schürten seinen Ärger. Jegliche Lust in ihm erlosch. Mit einer heftigen Bewegung löste er sich von ihr und stand auf.
„Was ist?“ Aus schmalen Augen blickte sie zu ihm hoch.
„Ich lasse mich nicht erpressen.“ Alan griff nach seiner Jeans und dem Shirt.
„Oh doch“, gab sie zurück. „Das tust du.“ Sie streckte ein Bein aus, eine sinnliche Geste. „Sein Name ist Constantin.“
„Wo finde ich ihn?“ Groll brannte in seiner Kehle. Wenigstens lächelte sie nicht. Obwohl er sicher war, dass sie Mühe hatte, das Lächeln zu unterdrücken.
„Er hat einen Unterschlupf in East L.A. Üble Gegend.“ Ein Hauch Besorgnis färbte ihre Stimme. „Und sei vorsichtig. Er ist stark.“
Alan verzichtete auf eine Antwort. Sie verstand nicht, wie zynisch das aus ihrem Mund klang. Das lag nicht in ihrer Natur.

Szenentrenner


Alan verbarg den Dolch im Gürtel unter der Jacke und warf das Schwert auf den Rücksitz seines Wagens. Die Nacht zog auf. Violett und purpurfarben blähten sich Wolkenfetzen über den Hollywood Hills, davor die Türme von L.A. Downtown. Die Straße, die Katherina ihm genannt hatte, grenzte an ein Industriegebiet hinter der Union Station. Es war Gang-Territorium, umzingelt von Freeways und Betongräben. Kleine Holzhäuschen in verwahrlosten Gärten, die Farbe abgeblättert, Gitter vor den Fenstern.
Alan öffnete seinen Geist und tastete nach dem Mann. Eine Präsenz streifte ihn wie ein kalter Windhauch und verhallte wieder.
„Constantin“, murmelte er. „Constantin, wo steckst du, mein Freund?“
Er bremste und parkte am Straßenrand. Kalte Blicke blieben an ihm hängen, als er aus dem Wagen stieg. Ein paar Latinos auf der anderen Straßenseite starrten ihn an. Alan machte sich nicht die Mühe, das Schwert zu verbergen. Er warf die Wagentür zu und trat in den Garten.
Gedämpfte Stimmen drangen in seine Wahrnehmung. Ein Disput, der Schrei einer Frau, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag. Alan war nicht sicher, ob die Geräusche aus dem Haus vor ihm kamen oder aus einem der Nachbargebäude. Es spielte auch keine Rolle.
Mit drei Schritten erklomm er die Stufen zur Veranda und trat die Tür ein. Binnen eines Herzschlags tauchte er in eine Kakophonie aus Gebrüll und Schluchzen und wütender Gewalt. Ein hochgewachsener Mann schlug einer Frau die Faust ins Gesicht. Ihr Kopf flog zurück, Blut in den Haaren, die Augen weit offen vor Entsetzen. Ein zweiter Hieb brachte sie zu Fall. Das Wimmern riss abrupt ab. Ein Junge stürzte sich auf den Schläger, doch der schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt.
Alan atmete seine Präsenz ein und wusste, dass er Constantin gefunden hatte.
Stahl sang, als er das Schwert aus der Scheide zog.
Constantin fuhr herum, ihre Blicke verschränkten sich ineinander.
Alan spürte den Hunger des Mannes, pulsierend wie ein Hitzeschild. Den Hunger und die Wut.
„Was willst du?“, knurrte Constantin.
„Du mordest zu viel.“
„Schickt dich Katherina?“ Constantin legte den Kopf zurück und entblößte ein Raubtiergebiss. „Warum kommt die Chefin der Garde nicht selbst?“
„Weil sie Leute wie mich für die Drecksarbeit hat.“
Constantin stieß ein dröhnendes Lachen aus. „Du hast Sinn für Humor, Mann. Warum schenken wir uns nicht diesen Scheiß und ziehen gemeinsam um die Häuser? Gehen in die Clubs, suchen uns ein paar Mädchen?“
Alans Blick flog über das verwüstete Wohnzimmer. Der Körper der Frau lag zwischen den Trümmern eines Regals wie eine zerbrochene Puppe. Ein Stück entfernt regte sich der Junge.
Constantin machte eine Kopfbewegung zu der Frau hin. „Ich teile eigentlich nicht. Aber in deinem Fall würde ich eine Ausnahme machen.“
„Ich trinke kein Blut“, gab Alan zurück.
„Dein Pech.“ Der große Mann zuckte mit den Schultern. Halb wandte er sich ab, machte zwei Schritte und bückte sich nach der Frau. Sie leistete keinen Widerstand, als Constantin sie bei den Schultern packte. Alan zog das Schwert hoch in einem funkelnden Bogen. Er war nicht einmal überrascht, wie leichtfüßig Constantin dem Hieb auswich. Der Bluttrinker hatte gute Reflexe. Schwer sank der Körper der Frau zurück auf den Boden. Alan bezweifelte, dass noch Leben in ihr steckte.
„Das war ein Fehler!“ Constantin wich zurück und zog eine Pistole. Er war viel wendiger, als seine Größe vermuten ließ. Alan federte in die Knie, bevor der erste Schuss krachte, das Schwert flach vor sich, während er mit der anderen Hand nach dem Dolch langte. Die Kugeln fetzten Putz und Holzsplitter aus der Wand. Alan schnellte vor, ein rascher Hieb, die Pistole polterte zu Boden. Blut tränkte Constantins Shirt, den Arm hinauf bis zur Schulter. Alan setzte nach, doch dieses Mal entging Constantin der Klinge. Der Bluttrinker sprang zurück und schleuderte einen Stuhl nach Alan. Alan setzte ihm nach, quer durch den Raum. Constantin riss den Jungen hoch, drehte sich und hielt ihn wie einen lebenden Schild vor sich.
Blutgeruch hing in der Luft. Der Kopf des Jungen war ihm auf die Brust gesunken. Constantins Zähne schmiegten sich an den glatten Hals, durchbrachen aber nicht die Haut.
„Du willst doch kein Kind sterben lassen?“, murmelte er.
Alan veränderte den Griff um seinen Dolch. Der Junge bedeutete ihm nichts. Ein Ghetto-Kind, das wahrscheinlich vor Jahren schon begonnen hatte, Autos zu klauen und Schnapsläden zu überfallen. Die Lider des Jungen flatterten. Alan hob das Schwert ein wenig an.
Er spürte die Bewegung mehr, als dass er sie sah, fuhr instinktiv herum. Sein Schwert, in einem kraftvollen Schlag, schnitt durch Fell und Muskeln. Der Ruck schoss schmerzvoll seinen Arm hinauf, dann prallte der riesige Wolfshund gegen seine Brust und riss ihn von den Füßen. Alan stürzte auf den Tisch vor dem Sofa, Glas splitterte, ein heftiger Schmerz in seinem Rücken. Geifer traf ihn aus dem Rachen der Bestie und nahm ihm fast den Atem. Im Reflex ließ er das Schwert fallen und riss seinen Arm hoch, um das Tier abzuwehren. Seinen Dolch in der anderen Hand begrub er tief im Leib des Hundes. Das Knurren glitt ab in ein hohes Winseln, Krallen schabten über den Boden. Alan rammte den Arm zwischen die Zahnreihen, als der Hund nach seiner Kehle schnappte. Doch die Wucht des ersten Angriffs war gebrochen. Mit einem Ruck zerrte Alan den Dolch frei und landete einen weiteren Stich in die Seite, dann in den Hals der Bestie. Als sich die Kiefer um seinen Arm endlich lösten, stieß er den schweren Körper von sich. Der Gestank nach Blut wurde überwältigend.
Taumelnd richtete er sich auf.
Und starrte in die Mündung der Pistole, dahinter Constantins wutverzerrtes Gesicht. Der Schuss hallte ohrenbetäubend durch den Raum. Mit Verzögerung realisierte Alan, dass die Kugel ihn nicht getroffen hatte.
Constantin blinzelte und drehte sich um. Noch ein Schuss fiel. Der Bluttrinker schwankte und gab den Blick frei auf den Jungen, der an der Wand kniete und mit beiden Händen einen Revolver umklammert hielt.
Alan sprang. Er riss Constantin aus dem Gleichgewicht, bevor der seinerseits abdrücken konnte. Gemeinsam krachten sie zu Boden. Constantin rammte ihm die Pistole ins Gesicht, eine Kugel löste sich, ein Brennen. Warm rann ihm Blut über die Wange. Alan schüttelte den Kopf, um die Schlieren vor seinen Augen zu vertreiben.
Sie wälzten sich herum, während er Constantins Handgelenk mit der Waffe umklammerte. Der große Mann kämpfte wie ein Wahnsinniger, schien seine Wunden kaum zu spüren. Alan brachte die eigene Hand mit dem Dolch hoch, seine Finger glitschig vom Blut. Seine Muskeln brannten vor Anstrengung.
Constantin war stark.
Als sich endlich die Klinge ins Fleisch des Bluttrinkers senkte, ihm erst die Wange aufriss und danach die Kehle, legte Alan alle verbliebene Kraft in den Streich. Er verbreiterte die Wunde und Constantin keuchte, die Augen weiteten sich. Das Leben floss aus ihm heraus, die Macht, die Unsterblichkeit. Alan hielt weiter sein Handgelenk gepackt, immer weiter, bis die Pistole den kraftlos gewordenen Fingern entglitt, die Knie sich nicht länger in seinen Leib bohrten und der rasselnde Atem nur noch sein eigener war.
Benommen wälzte er sich unter dem Leichnam hervor und richtete sich auf. Jedes Zeitgefühl war ihm verloren gegangen. Er erinnerte sich nicht, ob es Stunden gewesen waren, die er mit dem Mann gerungen hatte oder nur wenige Sekunden. Das schäbige Wohnzimmer glich einem Schlachtfeld. Der Junge, hohläugig wie ein Geist, kniete noch immer vor der Wand, den Revolver zitternd in seinen Händen.
Alan bückte sich nach seinem Schwert. Überwältigende Leere spülte über ihn hinweg. „Ruf die Bullen“, sagte er, ohne den Jungen anzusehen. „Die kümmern sich um dich.“ In der Aufwärtsbewegung erfasste er den Körper der Frau. Ihr Kopf war in einem unmöglichen Winkel abgeknickt, die Augen leblos und weit offen.
Die Antwort kam so leise, dass er die Worte nicht verstand.
„Was?“ Sein Blick streifte die Pistole. „Und nimm die Waffe runter, die brauchst du nicht mehr.“
„Ich komme mit.“ Es war eine dünne Stimme, mit spanischem Akzent, der sich schwer über die Silben legte. Ghetto-Slang.
„Nein, tust du nicht.“ Alan fragte sich, ob die Frau mit dem gebrochenen Genick die Mutter des Jungen war. Nur für einen Herzschlag, dann vertrieb er den Gedanken. Ohne sich noch einmal umzublicken, stieg er über den Kadaver des Wolfshundes und trat hinaus ins Freie.

Szenentrenner


Katherina wirkte abwesend, als er ihr von Constantin erzählte, beinahe desinteressiert. So als habe er eine Lappalie für sie erledigt.
„Was ist mit dem Buch?“, fragte Alan.
Sie drehte sich nicht zu ihm um. Stand nur am Fenster und blickte hinab auf die Straße. Sonne fing sich in ihrem Haar und hüllte sie in einen goldenen Schleier. „Du hast ein Blutbad angerichtet.“
Er hätte schwören können, dass sie lächelte. „Die Frau war schon tot.“
„Er hatte ein Verhältnis mit ihr. Eine illegale Stripperin, die niemand vermisst. Das LAPD verbucht den Vorfall unter Gang-Rivalitäten. Die fragen einige Nachbarn und legen es dann zu den Akten.“
Alan dachte an den hohläugigen Jungen und fühlte einen Stich Verärgerung, weil er diesen Blick einfach nicht beiseitewischen konnte. „Das Buch“, wiederholte er.
Ihr Schweigen zog sich in die Länge.
„Es gibt noch etwas“, sagte sie schließlich, „um das du dich kümmern musst.“
Mit zwei Schritten war er bei ihr und zog sie herum, zwang sie, ihn anzusehen. Er packte ihre Arme fester als notwendig. Ihr Duft streifte seine Sinne, Sandelholz und Lilien. „Wir hatten eine Abmachung.“
„Nur noch eine Sache – “
„Versuch nicht, mich hinzuhalten.“
„Und was willst du tun?“ Ihre Stimme wurde schneidend. „Es dir mit dem Schwert holen? Der Weg des Kriegers?“
Er starrte sie an. Nicht der Anflug eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht. Und es reizte ihn. Es reizte ihn wirklich, sie rücklings gegen die Wand zu schleudern und ihr die Kehle aufzuschlitzen, solange sie zu benommen war, um sich zu wehren. Zugleich wusste er aber, dass er das nicht konnte. Da war zuviel, das sie verband. Nicht die flüchtige Lust, die sie einander gewährten. Das war keine Liebe zwischen ihnen, diese Illusion hatten sie längst aufgegeben. Doch die brauchte er auch nicht. Was sie zusammenschmiedete, waren gemeinsame Kämpfe, die Allianzen und Bündnisse in all den Jahren. Anstelle von Liebe gab es Respekt. Und Respekt war mehr als genug. Deshalb kämpfte er die Versuchung nieder, starrte Katherina an und wusste, dass sie in ihm las wie in einem offenen Buch.
Abrupt ließ er sie los.
„Glaubst du, ich weiß nicht, dass es für deinen Vater ist?“
„Es ist eine alte Legende! Katherina, das sind Ammenmärchen!“
Ihre Augen verengten sich. „Deshalb setzt du auch Himmel und Hölle in Bewegung.“
„Mein Vater ist davon besessen, aber das heißt nicht, dass es mehr ist als eine staubige Geschichte.“ Entnervt stieß er den Atem aus. „Komm schon, er hat eine Sammlung, die die Vatikanbibliotheken blass aussehen lässt. Glaubst du, dieses Buch macht auch nur den kleinsten Unterschied?“
Katherina strich sich das Haar zurück, eine seltsam verletzliche Geste. Der Zorn in seinem Inneren verdichtete sich. Sie manipulierte ihn schon wieder.
„Warum tust du das?“, fragte sie.
„Er ist mein Vater.“
„Und du bist sein folgsamer Sohn.“ Sie schnaubte. „Seit über dreihundert Jahren.“

Szenentrenner


Etwas stimmte nicht, als er Katherinas Haus verließ. Zuerst war er zu verärgert, um viel von seiner Umgebung wahrzunehmen. Doch er spürte eine Präsenz, und auf den letzten Metern zu seinem Wagen war er sich sicher, dass ihn jemand beobachtete.
Alan tastete nach dem Dolch unter seiner Jacke. Vielleicht waren es Freunde von Constantin. Vielleicht hatte jemand Alan erkannt, vergangene Nacht, als er den Bluttrinker getötet hatte.
Sein Körper schmerzte immer noch von den frisch verheilten Wunden. Die Heiltransformation hatte ihn Kraft gekostet und Katherinas Gleichgültigkeit machte ihn wütend.
Er stieg in den Wagen und musterte noch einen Moment die Umgebung. Doch er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Verkehr floss träge auf zwei Spuren, ein paar Gärtner beschnitten die Büsche auf dem Nachbargrundstück. Nur dieses vage Gefühl, beobachtet zu werden. Auf dem Freeway zurück nach Downtown behielt er den Rückspiegel im Blick, doch konnte kein Muster erkennen. Vielleicht war er einfach paranoid.
Der süßliche Gestank nach Kupfer und Blut, der immer noch im Wagen hing, verursachte ihm Kopfschmerzen. Alan ließ die Scheibe herunter. Warme Luft drückte ins Innere.
Katherinas Garde existierte, seit sich Alan erinnern konnte, eine Autorität, die die meisten der Schattenläufer akzeptierten. Die Garde verfolgte Renegaten in den eigenen Reihen, sie wachte darüber, dass die Existenz ihrer Brut nicht ins Bewusstsein der Menschen drang. Deshalb hatte Katherina ihn auch gedrängt, Constantin zu töten, nachdem der begonnen hatte, für seine Sucht nach menschlichem Blut offen zu morden. Doch mächtige Schattenläufer wie Alans Vater beugten sich nicht dem Willen der Garde.
Als die Glastürme von Downtown neben ihm auftauchten, fuhr er vom Freeway ab. Dichter Nachmittagsverkehr verstopfte die Straßen. Alan hatte den Gedanken an Constantins rachsüchtige Freunde beinahe wieder verdrängt, als er in die Tiefgarage des Apartmenthauses in der Figueroa Street rollte. Doch dann erfasste er den Wagen im Rückspiegel, der direkt hinter ihm die Einfahrt passierte.
Er nahm die Rampe hoch zur nächsten Ebene mit mehr Schwung, als gut für den Wagen war, schleuderte um die Kurve und beschleunigte die gerade Strecke an den parkenden Fahrzeugen entlang. Ein Stück entfernt glaubte er einen aufheulenden Motor zu hören. Das Schwert lag noch immer im Fußraum unter der Rücksitzbank. Alan erklomm eine weitere Rampe, und noch eine, fuhr hoch bis zur sechsten Plattform und parkte zwischen zwei Säulen. Er stieg aus, griff nach dem Schwert und lauschte.
Die Minuten zogen sich endlos, ohne dass etwas geschah.
Schließlich setzte er sich in Bewegung. Langsam, vorsichtig. Die Rampe hinab und weiter zur Treppe. Die Garage wirkte verlassen im trüben Licht.
Und dann stand da plötzlich der Junge.

Szenentrenner


Seine Jeans hingen ihm locker auf den mageren Hüften, darüber ein Linkin’ Park T-Shirt, das er schon am Vorabend getragen hatte.
„Was willst du hier?“, fragte Alan. Vor Überraschung war er mitten in der Auffahrt stehen geblieben. Das Schwert in seiner Hand fühlte sich wie ein Fremdkörper an.
„Ich schulde Ihnen was, Sir.“ Der Akzent machte die Silben schwer und kantig. „Weil Sie ihn umgelegt haben.“
„Du schuldest mir gar nichts.“
„Ich kann Dinge für Sie machen.“ Der Junge zuckte mit den Schultern. „Was Sie wollen. Wenn Sie was brauchen – “
„Verschwinde“, unterbrach ihn Alan. „Geh nach Hause.“
„Da kann ich nicht hin.“
„Oder in die Schule, oder – “
„Wegen der Cops. Ich muss ein paar Tage untertauchen.“ Das klang so befremdlich aus dem Mund dieses Jungen, dass Alan für einen Moment nicht wusste, was er erwidern sollte.
„Er hat meine Mutter umgebracht.“ Sie Stimme des Jungen wurde dünn. „Aber Sie sind nicht schuld. Früher oder später hätte er sie sowieso umgelegt. Sie haben ihn erwischt, und seinen scheiß Hund auch, und deshalb stehe ich jetzt in Ihrer Schuld, Sir.“ Er betrachtete für einen Moment den Revolver, den er offen im Hosenbund trug. „Haben Sie zufällig was zu essen da?“
Alan folgte seinem Blick. „Du solltest das Ding nicht so offen tragen.“ Der Junge war ein halbes Kind, vielleicht vierzehn Jahre alt. Er sollte überhaupt keine Waffen tragen. Alan setzte sich wieder in Bewegung, bis er dicht neben dem Jungen stand. Er schluckte das Schuldgefühl herunter, das sich in seiner Kehle regte. Der Junge ging ihn nichts an. Er war kein verdammter Sozialarbeiter. „Verschwinde endlich“, sagte er. „Und steck die verdammte Pistole weg, sonst kriegst du nur Ärger mit den Cops.“

Szenentrenner


Der Junge blieb hartnäckig. Alan sah ihn später am Nachmittag auf der Straße, auf dem Weg zum Convenience Store. Er hockte dort, auf der anderen Straßenseite, und schien in der Sonne zu dösen. Die Pistole war verschwunden, doch Alan vermutete, dass der Junge sie einfach nur unter dem T-Shirt versteckt hatte.
Eigentlich hatte Alan nur Wasser und eine Zeitung kaufen wollen, doch dann, fast widerwillig, packte er zwei Sandwiches in den Korb.
Auf dem Rückweg blieb er vor dem Jungen stehen, der sofort die Augen öffnete, als hätte er nur auf ihn gewartet. „Willst du ein Sandwich?“, fragte er.
Mit beiden Händen fing der Junge die Papiertüte und stand auf. „Kann ich mitkommen?“
Alan hob abwehrend die Hände.
„Ich meine“, der Junge warf einen Blick in die Tüte, „ich kann das hier nicht auf der Straße essen, okay? Ich bin kein Penner, Mann.“
In Alan kämpfte Belustigung mit Ärger. Der Kleine ging ihm auf die Nerven; andererseits hatte er spitzbübische Bauernschläue an sich, die Alan amüsant fand. „Wir können uns da vorn in den Park setzen.“
Der Junge stieß den Atem aus, als sei das das Langweiligste, was er jemals gehört hatte.
„Jetzt sei keine Diva.“ In plötzlich aufwallender Sentimentalität schlug Alan ihm auf die Schulter. „Ich habe dir gerade ein Sandwich gekauft. Du könntest ein bisschen mehr Dankbarkeit zeigen.“
Nebeneinander liefen sie die Straße hinunter, zwei Blocks bis zur Hope Street und tauchten unter die schattigen Bäume. Sie suchten sich einen Platz im Gras, zwischen kichernden Mädchen von der benachbarten Modeschule und einer mexikanischen Großfamilie.
„Wie heißt du überhaupt?“, fragte Alan.
„Marty.“
„Marty, ja?“ Alan streckte die Hand aus. „Ich bin Alan.“ Die Finger des Jungen fühlten sich kühl an und erstaunlich fest. „Wo hast du eigentlich die Pistole?“
Marty fasste nach dem Saum seines Linkin’ Park T-Shirts, aber Alan packte rasch seinen Arm. „Schon gut“, sagte er hastig.
Marty bestand nicht darauf, ihn zurück in sein Apartment zu begleiten. Zuerst war Alan erleichtert darüber. Doch später verspürte er leise Traurigkeit, als er am Fenster stand und hinab in die dämmrige Straßenschlucht blickte. Die Nacht zog herauf und er fragte sich, ob Marty bei Freunden übernachtete, oder ob er es wagte, im Haus seiner Mutter zu schlafen.

Szenentrenner


Zuerst haftete ihren Treffen etwas Zufälliges an, obwohl Alan wusste, dass Marty auf ihn wartete. Er traf ihn auf dem Weg zum Convenience Store, oder entdeckte ihn am Straßenrand, wenn er mit dem Auto unterwegs war. Unmerklich schlich sich der Junge in sein Leben.
Eines Morgens ertappte sich Alan bei der Frage, ob sich Marty für Baseball interessierte. Alle Jungs in seinem Alter mochten Baseball, oder nicht? Alan kaufte Karten für das Spiel am Wochenende und fuhr mit Marty ins Dodgers Stadion. Danach gingen sie bei Wendy’s essen.
„Es geht um Respekt, Mann.“
Alan blickte von seinem Teller auf. „Was?“, fragte er mit vollem Mund.
„Respekt, verstehst du?“ Marty wischte sich die Hände an den Jeans ab. „Ich will meine Schuld bei dir begleichen, damit du verstehst, dass ich dich respektiere.“
„Ich glaub’s dir auch so.“
„Warum lässt du mich dann nicht in dein Apartment? Denkst du, ich fass’ deine Sachen an?“
Verblüfft lehnte Alan sich zurück.
„Ich will dich nicht anschnorren, Mann. Nicht dass du denkst, ich suche ’nen Platz zum Bleiben. Ich hab ’nen Platz.“
Aber keine Familie, fügte Alan in Gedanken hinzu. Niemanden, der sich um dich kümmert. Der sich Sorgen macht, wenn du mal zwei Tage verschwindest.
Er wollte diese Freundschaft nicht. Er wollte nicht Martys Mentor sein, oder sein großer Bruder. Wenn er zuließ, dass Marty ihm vertraute, bürdete er sich eine Verantwortung auf, die ihn erdrücken würde. Er war der Falsche für einen Jungen wie Marty. Ein Söldner, der tötete, weil sein Vater es ihm befahl. Oder weil Katherina ihn erpresste. Aus fadenscheinigen Gründen. Weil es so leicht ging und weil er gut darin war.

Szenentrenner


Am Tag nach dem Spiel tauchte Marty nicht auf. Und auch nicht am darauf folgenden. Alan begann sich Sorgen zu machen. Er durchwanderte ziellos die Straßen in der Nachbarschaft, weil er hoffte, den Jungen irgendwo zu entdecken.
Am dritten Tag setzte er sich in den Wagen und fuhr zurück in die trostlose Gegend hinter der Union Station. Das Haus, in dem er Constantin getötet hatte, war verschlossen, Absperrband über die Stufen gespannt. Alan entdeckte ein Siegel an der Tür und spähte durch die Fensterscheiben ins Innere, ohne viel erkennen zu können.
Die Nachbarn öffneten nicht, als er klingelte.
Auf dem Rückweg spielte er mit dem Gedanken, Katherina anzurufen, und verwarf die Idee. Das war nicht die Art von Trost, die er brauchte. Die Tickets vom Dodgers Spiel lagen in der Mittelkonsole.
In der Nacht darauf schlief er schlecht. Er hatte das Gefühl, eine Chance vertan zu haben. Leichtfertig hatte er den Splitter weggeworfen, der in den Riss in seiner Seele passte. Schließlich weckte ihn das Hämmern an seiner Tür. Morgendunst filterte die Sonnenstrahlen.
Alan nahm seine Pistole vom Tisch und zog den Riegel zurück. Marty stand reglos und betrachtete einen Schmutzfleck am Türrahmen. „Hey“, murmelte er.
Die Erleichterung war so überwältigend, dass Alan nach Worten ringen musste. „Du bist wieder da“, stieß er hervor.
„Ich hab’ was für dich.“ Endlich blickte Marty ihn an. „Wenn du mich rein lässt, gebe ich’s dir.“
Alan stieß die Tür weiter auf, bis sie gegen die Wand schlug und machte eine einladende Handbewegung. „Willst du Kaffee?“, fragte er.
„Das heißt, ich kann reinkommen?“
Die Frage versetzte ihm einen kleinen Stich. Ein vages Schuldgefühl. Doch es dämpfte nicht die Euphorie und die Wärme, die ihn erfüllte.
„Klar.“ Er ging voraus in die Küche und öffnete den Kühlschrank. „Es gäbe auch noch Orangensaft.“ Als er sich wieder aufrichtete, sah er, dass der Junge ein Päckchen auf den Tisch legte.
„Ich dachte, dein Apartment ist größer“, sagte Marty.
„Tut mir leid, dich zu enttäuschen.“
„Schon okay.“ Ein Schulterzucken. „Willst du’s sehen?“
Ein Schauder überlief Alan, als er erkannte, was es war. Das Buch war klein und schmal und ohne jeden Zierrat. Der Einband bestand aus schlichtem Leder, NEPHILIM war in Großbuchstaben hineingeprägt.
„Freust du dich?“, fragte Marty. „Es ist das richtige, oder? Das, was du haben wolltest?“
Alan nickte. In seine Fassungslosigkeit mischte sich aufkeimender Zorn. Unglaublich, welches Risiko der Junge auf sich genommen haben musste –
„Sie hat keinen Respekt.“ Marty zog sein T-Shirt gerade. „Sie wollte dich aufs Kreuz legen.“
„Ich weiß.“ Mit zwei Schritten war Alan bei ihm und packte ihn an den Armen. „Wie hast du das gemacht? Woher weißt du überhaupt davon?“ Er konnte seinen Tonfall nicht mehr ruhig halten. „Bist du verrückt geworden?! Du hättest dabei draufgehen können! Hast du eine Ahnung, wen du da bestohlen hast?“
„Das ist kein Diebstahl, Mann!“ Trotz schwang in Martys Stimme. „Sie hat den Handel nicht eingehalten – “
„Hast du mich verstanden? Die hätten dich umlegen können, wenn sie dich erwischt hätten.“
„Aber das haben sie nicht.“ Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus. „Ich bin nämlich der Beste. Kein Mensch erwischt mich, okay?“
Kein Mensch vielleicht. Erschöpft ließ Alan los.
„Kann ich jetzt – “ Marty machte eine Armbewegung, die vage das Zimmer umfasste, „öfters herkommen? Ich bin nicht wie die – “ Was immer er hatte sagen wollen, er verbiss sich das Wort im letzten Moment. „Ich respektiere dich, Mann. Ich steh’ in deiner Schuld, ich kümmere mich um dich.“
„Klar.“ Alan musste lächeln. „Willst du jetzt einen Kaffee oder nicht?“
„Kaffee klingt gut. Kann ich jetzt – “
„Hier bleiben?“, vervollständigte Alan die Frage. Die Wärme in den Worten fühlte sich gut an. Und er dachte, dass es einen Versuch wert war, Martys Vertrauen nicht zu enttäuschen.

28. Sep. 2009 - Andrea Gunschera

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