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Startseite > Kurzgeschichten > Jörg Kleudgen > Düstere Phantastik > Runkel

Runkel
von Jörg Kleudgen

Jörg Kleudgen Jörg Kleudgen
© http://www.the-house-of-usher.de
'Meyrink glaubte, daß das Reich der Toten sich in das der Lebenden erstreckt, und daß unsere sichtbare Welt unablässig von der anderen, unsichtbaren durchdrungen wird.'
Jorge Luis Borges in seinem Vorwort zu 'Der Kardinal Napellus'

VON DEM ORT NAMENS RUNKEL hatten wir zum ersten Mal in Gustav Meyrinks Erzählung 'J.H. Obereits Besuch bei den Zeitegeln' gelesen. Claudia und ich hatten gemeinsam schon so viele geheimnisvolle Orte aufgesucht und unerklärliche Dinge gesehen: den Blutborn von Maifeld, den man zu Zeiten der Christianisierung im dortigen Münster unter einem monumentalen Taufbecken verborgen haben sollte, der seine Umgebung jedoch immer noch ungehindert mit üblen Alpdrücken vergiftete, oder die Fraukirch bei Thür, deren um 1664 aufgestelltes, vollplastisches Altarbild eine angeblich an bestimmten Tagen im Jahr bei Sonnenuntergang erwachende Vierteilungsszene zeigt und das von den Anwohnern der umliegenden Höfe wie von einer verschworenen Bruderschaft bewacht wird.
Doch Runkel war anders.
Claudia hatte den Namen zufällig auf einer Straßenkarte entdeckt, kurz nachdem wir gemeinsam die besagte Erzählung gelesen und uns von ihrer Aussage tief beeindruckt gezeigt hatten. War es möglich, daß Gustav Meyrink hier, fernab allen weltlichen Lebens auf eine kosmische Wahrheit gestoßen war. Er, der in München, Hamburg, Wien und Prag gelebt hatte?
'Man kann sich nichts Traumhafteres denken als jenes winzige Städtchen, das wie ein vergessenes Stück Mittelalter mit seinen krummen, totenstillen Gassen und dem grasbewachsenen buckligen Pflaster zu Füßen des Bergschlosses Runkelstein, dem Stammsatz der Fürsten von Wied, unbekümmert den gellenden Schrei der Zeit verschläft.' – so hatte er es beschrieben, und es war unmöglich, daß er nicht selber an diesem Ort gewesen war oder einen anderen gemeint hatte, denn all das fanden wir bald auf unserer Spurensuche genau so vor wie er es in seiner Erzählung dokumentiert.
Unser erster Eindruck war dieser: Runkel hatte den Fortlauf der Zeit vollkommen verschlafen. Zu beiden Seiten der Lahn gruppierten sich schiefe Fachwerkhäuser und äußerst geschmacklos und mit wenig Feingefühl integrierte Bauten aus den 50ern um jeweils eine zentral gelegene, erhöhte Burg.
War es am jenseitigen Ufer ein schlankes Renaissanceschloß, das luftig über der Stadt thronte, so beherrschte den diesseitigen, größeren Teil Runkels eine vom Alter geschwärzte Burgruine, die wie ein fauler Zahnstumpf auf einem zerklüfteten Fels saß.
Diese schwarze Feste mußte Meyrink wohl am stärksten beeindruckt haben. Sie übte einen augenscheinlich ungesunden Einfluß auf den gesamten Ort aus.
Die Häuser wirkten ungepflegt und größtenteils verlassen. Die Menschen bewegten sich eingeschüchtert in ihrer ausgeblichenen Kleidung durch die schmalen gepflasterten Straßen. So eng wie diese schien auch ihr Geist zu sein. Uns betrachteten sie neugierig aber verstohlen, als ob sie exotische Tiere sähen.
Wir parkten unseren Wagen auf einem Platz am Fuße des Burgberges, wo ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, daß dies auf eigene Gefahr geschehe. Der Fels, auf dem die Burg stand, war wohl morsch und gab von Zeit zu Zeit nach, so daß ständig mit Steinschlag gerechnet werden mußte.
In der Burg, so erfuhren wir später, oder besser gesagt, in einem geringen, noch intakten Teil derselben, residierte das dekadente Geschlecht der Grafen zu Wied.
Doch bevor wir uns ihr näherten, besannen wir uns, weshalb wird überhaupt hierher gekommen waren. Unser eigentliches Ziel nämlich war der in Meyrinks Geschichte erwähnte Friedhof. Wir vermuteten ihn in der Nähe der Kirche, die sich unterhalb der Burg an den Berghang duckte. Ein Weg dorthin war von der Hauptstraße aus ausgeschildert, und doch hatten wir Schwierigkeiten, uns in dem Labyrinth kleiner Stiegen und Gassen zurechtzufinden. Und so hätten wir den schlichten Bau – vermutlich handelte es sich um eine mittelalterliche Wehrkirche – beinahe verpaßt und wären in eine blind an der Pallasmauer der Burg endende Gasse geirrt.
Die Kirche machte einen vernachlässigten Eindruck und war verschlossen. Es gab keinen Hinweis darauf, wann und ob hier Messen gefeiert wurden. Einen Friedhof gab es nicht, wohl aber einige Grabplatten aus Muschelkalk, auf denen mittelalterliche Inschriften und Totenschädel, Stundengläser sowie Fledermausschwingen zu erkennen waren.
Diesen Ort konnte Meyrink nicht gemeint haben. Es mußte doch eine Stätte geben, an der die Bewohner Runkels ihre Toten zur ewigen Ruhe betteten.
Wir verfolgten den Weg ein kurzes Stück zurück und hielten uns dann den leicht ansteigenden Burgberg hinauf. Die Straße lief am Eingangstor der Burg vorüber und weitete sich hier einem kleinen Platz aus. Das Tor des imposanten Bauwerkes war ebenfalls verschlossen und vergittert, nur ein breiter, von Unkraut wie Brennesseln und ähnlichem bewachsener, nun trockengelegter Graben und eine brüchige Mauer, die das Anwesen umgab, konnten wir einsehen.
Ich erinnerte mich, daß mich die Ruine auf Anhieb an einen Zahnstumpf erinnert hatte. Und tatsächlich erschien mir irgend etwas daran krank. Das Mauerwerk war aus Schiefer gefügt. An etlichen Stellen klafften da Löcher, wo einst Holzbalken herausgestochen und Geländer, Balkons und Leiter gehalten hatten. Es gab keine Gliederung, keinen Bauplan, keinen Sinn in diesem Gebäude. Es war einfach nur da. Beherrschend thronte es über dem dahingewürfelten Ensemble windschiefer Fachwerkhäuser, die es umringten.
Wir folgten dem Verlauf der Mauer und versuchten etwas durch die staubigen und verrußten Fenster im Inneren der Burg zu erkennen, doch da war nur undurchdringliche Dunkelheit.
Schließlich gelangten wir am Parkplatz und unserem Auto an.
Wir waren zu weit gefahren, um jetzt aufzugeben. Auch wenn uns fror, wollten wir uns so leicht nicht geschlagen geben und beschlossen, unsere Suche nach dem Friedhof fortzusetzen.
Nicht weit vom Wagen entfernt bewegte sich mit sichtlicher Mühe eine ältere Dame auf dem Trottoir auf eine Brücke zu, die die Lahn überspannte und beide Teile Runkels miteinander verband.
Ich beeilte mich, zu ihr aufzuschließen, denn sie war der einzige Mensch weit und breit, den ich im Moment ausmachen konnte.
Sie erschrak, als ich sie ansprach und nach dem Friedhof fragte. Dann, als sie sich gefaßt hatte, entgegnete sie, sie sei gerade auf dem Weg dorthin und wies hinüber ans andere Ufer, wo ich nun auf einer Anhöhe die Silhouette einer modernen Kirche ausmachen konnte. Angesichts der herrschenden Kälte lud ich die Dame ein, uns auf dem Weg dorthin im Wagen Gesellschaft zu leisten.
Sie nahm das spontane Angebot erfreut an und begleitete mich zum Wagen, wo sie Claudia die Hand schüttelte und auf dem Vordersitz Platz nahm.
Ich hatte nun Zeit, sie genauer zu betrachten.
Äußerlich unterschied sie sich kaum von den anderen Bewohnern Runkels, die wir ja nur aus der Ferne gesehen hatten. Sie trug ein verwaschenes Kopftuch und einen schweren Stoffmantel von unbestimmter braun-beiger Farbe. Während sie Claudia mit einem Wortschwall übergoß, beobachtete ich ihre wenig ausdrucksstarke Mimik, die mich an die Kälte draußen erinnerte. Auch meine Gesichtszüge waren träge und erstarrt.
Was mir jedoch als recht denkwürdig erschien: die Frau trug einen aufdringlichen Geruch an sich, wie nach Grabkränzen und verwelkten Astern. So, als sei sie gerade vom Friedhof gekommen, wo sie sich an einem Grab zu schaffen gemacht hatte.
Der Wagen quälte sich eine steile Hangstraße hinauf, kam dann auf einem Schotterplatz zu stehen.
Wir dankten der Frau, die uns anbot, uns auf unserem Weg zu begleiten, und strebten dem Eingang entgegen, vorbei an der buckeligen, mit seltsam mosaikverzierten Fenstern versehenen Kirche.
Der Friedhof machte den Eindruck, erst vor kurzer Zeit errichtet worden zu sein. Am Rande der Stadt, auf einer Anhöhe über dem Fluß gelegen, umfaßte er ein rechteckiges, überschaubares Areal. Wider Erwarten fanden wir hier jedoch auch eine Reihe älterer Grabsteine, die etwa aus der Zeit stammten, da Meyrinks Großvater das Zeitliche gesegnet haben mochte.
'Auf einem dicht mit grünem Moos bewachsenen Grabstein stehen unter der verwitterten Jahreszahl, in ein Kreuz gefaßt und so frisch im Golde glänzend, als seien sie erst gestern gemeißelt worden, die Buchstaben: 'vivo'', las ich aus Meyrinks Geschichte vor, während unsere Schritte knirschend den Kies verdrängten, als wir an der niedrigen Umfassungsmauer entlang gingen.
Um es vorwegzunehmen: Es gab keinen Grabstein, auf den diese Beschreibung zugetroffen hätte. Wir fanden die gesuchten goldenen Lettern nicht.
Dafür aber bemerkte ich, daß die alte Dame, die wir mit hier herauf gebracht hatten, sich zufällig immer in unserer Nähe aufzuhalten schien. Hatte sie nicht etwa ein Grab zu pflegen, sondern derer mehrere? Und konnte es ein Zufall sein, daß sie sich gerade auf einer Seite einer Buchsbaumhecke zu schaffen machte, wenn wir auf der anderen die Inschriften der Grabsteine entzifferten.
Warum nur interessierte sie sich so sehr für unsere Suche, über deren Hintergrund ich ihr ein wenig erzählt hatte?
Rasch blickte sie in eine andere Richtung, als sie sich ertappt fühlte.
Unsere Suche führte zu keinem Ergebnis.
Vielleicht war Meyrinks Erzählung doch nur ein Ergebnis seiner reinen Phantasie, ohne jeden Anhaltspunkt. Vielleicht hatte er jenen bemerkenswerten Schriftzug an einem ganz anderen Ort ('... aber nur zweimal fand ich dieses 'vivo' wieder – einmal in Danzig, und einmal in Nürnberg.') gefunden und lediglich seine Geschichte in die düstere Atmosphäre Runkels verlegt.
Wir verließen den Friedhof. Von unserer Begleiterin war nun nichts mehr zu sehen. Vermutlich hatte sie sich nun doch der Grabpflege zugewandt.
Auf dem Weg zum Wagen blickte ich noch einmal zurück, und dabei sah ich: Die Umfassungsmauer des Friedhofs selbst bestand aus alten Grabsteinen. Mochte sein, daß der von uns gesuchte sich darunter befand! Doch wie hätte man ihn herausfinden sollen? Die Inschriften lagen aufeinander, miteinander vermörtelt, verschmolzen, bis die Einrichtung selbst dem Verfall zum Opfer fiel.

ENTTÄUSCHT UND DURCHGEFROREN kehrten wir auf die andere Flußseite zurück und beschlossen unser weiteres Vorgehen sorgfältig zu planen, also abzuwägen, ob wir unsere Suche abbrechen sollten.
Inmitten all der grauen, verfallenen Häuser mit ihren größtenteils von Rolläden verdeckten, geschlossenen Ladengeschäften stießen wir auf ein Hotel, vor dessen Eingang mit einer Tafel für vorzüglichen Kaffee und Kuchen geworben wurde. Der Gedanke an einen heißen Kaffee war zu verlockend, als daß wir ihm lange hätten widerstehen können, trotz aller Bedenken, die wir wegen der unwirtlichen Atmosphäre des Ortes hatten.
Jenseits der schweren Flügeltür lag ein nur spärlich beleuchteter Flur. Der Geruch abgestandenen Zigarettenrauchs lag unangenehm präsent in der Luft. Wenigstens war es hier nicht ganz so kalt wie draußen auf der Straße. Warm war es allerdings auch nicht gerade.
Linkerhand befand sich eine Tür mit der verwitterten Aufschrift 'Restaurant', geradeaus wies der Flur in die Tiefe des Gebäudes, doch zur Rechten blieb unser Blick am Kuchenbüfett hängen, wo Käsekuchen mit und ohne Mandarinen feilgeboten wurde.
Ich hatte einen bissigen Kommentar auf der Zunge, kam jedoch nicht dazu, ihn auszusprechen, denn wir hörten Schritte. Schon bog eine Frau um die hintere Gangecke. Als sie uns sah, verharrte sie auf der Stelle, und ich konnte nicht anders als fragen, ob das Café geöffnet sei. Ob sie wie wir nur ein Gast oder die Bedienung war, ging aus ihrer äußerlichen Erscheinung nicht hervor. Die Kleidung, die sie trug, war unmodern und seltsam farblos. Etwas anderes hätte ich an einem Ort wie diesen kaum erwartet, daher nahm ich es nur am Rande zur Kenntnis.
Sie nickte nur, ohne daß sich ihrem schmalen Mund, der in dem bleichen Gesicht kaum auffiel, auch nur ein Ton entrang.
Wir folgten ihr durch die Tür mit der Aufschrift 'Restaurant' und fanden uns in einer altmodisch und wenig stilvoll eingerichteten Gaststube wieder, die wie eine Improvisation wirkte. Hier atmeten wir dieselbe verrauchte Luft wie schon im Flur, doch es hatte sich noch ein anderer, übler Geruch untergemischt, süßlich wie nach Verwesung.
Ein Blick in Claudias Augen zeigte mir, daß wir am liebsten beide sofort wieder gegangen wären, doch die Frau stand hinter uns und versperrte die Tür.
Seufzend steuerte ich einen Tisch möglichst nahe am Fenster an. Da sich kein anderer Gast hier aufhielt, war es gleichgültig, welchen Tisch wir besetzten, und ich glaubte, mich besser fühlen zu können, wenn ich ins Freie blicken konnte.
Doch ich hatte mich geirrt. Ich mußte meinen Hals strecken und verdrehen, wenn ich ein Stück Himmel sehen wollte. Der nämlich wurde vollkommen vom Burgberg und der darauf fett wie eine gräßliche Kröte brütenden Ruine verdeckt.
Die Frau war kurz verschwunden und kehrte mit Kaffee und Kuchen zurück. Ich hatte nicht bestellt. Claudia... sie legte den Zeigefinger an die Lippen.
Schweigend nahm ich meinen Teller entgegen. Der Kuchen sah gar nicht übel aus, und der Kaffee war schwarz und heiß. Auf Milch verzichtete ich, als ich das unappetitlich verschmierte Kännchen auf dem Tablett bemerkte.
Die Frau beobachtete uns ungeniert, während wir mit einiger Mühe das Essen herunter schlangen. Ich fühlte mich unter dem schläfrig-mißgünstigen Blick nicht wohl und versuchte die Rede zwischen Claudia und mir auf ein möglichst erfreuliches Thema zu lenken. Ganz vergessen konnte ich die Anwesenheit der Bedienung jedoch nicht.
Da öffnete sich die Tür, und ich hoffe, es nahe Entsatz in Gestalt weiterer Gäste. Doch ich hatte mich geirrt. Der Mann, der da hereinkam war von Gesichtsausdruck, Kleidung und Gang der Frau so ähnlich, daß er keinen anderen Schluß zuließ, als daß die beiden ein Ehepaar waren.
Seine roten Haare standen wie Kupferdraht vom kantigen Schädel ab, kalbsäugig stierte er uns an und grüßte knapp, indem er alle Wörter eines Satzes zu einem einzigen Lautkonglomerat zusammenfaßt.
Dann sprach er mit der Frau, in einem breiten Dialekt, der seine Rede wie einen zähflüssigen Brei aus seinem Mund quellen ließ.
Ich atmete unwillkürlich auf, als er die Gaststube endlich wieder verließ.
Plötzlich hatte ich einen spontanen Einfall. Meyrink war doch Jude gewesen. War es da nicht naheliegend, daß er den Helden seiner Geschichte ebenfalls hatte einen jüdischen Friedhof aufsuchen lassen? Und wenn, ja, durften wir nicht dann annehmen, daß ihm als Vorbild desselben ein Judenfriedhof in oder bei Runkel gedient hatte?
Ich fragte die Serviererin, ob es einen solchen gäbe, und unerwarteter Weise geriet Leben in ihr bis dahin unbewegtes Gesicht. Ja, meinte sie, es gebe da einen, aber der sei nicht leicht zu finden, draußen vor den Mauern der Stadt, in einem verwilderten Wald gelegen.
Erst als ich zu erkennen gab, daß ich nicht lockerlassen würde, bevor sie nicht mit der Sprache herausgerückt war, gab sie seufzend eine vage Wegbeschreibung ab, nach der man alles und nichts hätte finden mögen.
Aber mich hatte nun erneut die Abenteuerlust gepackt und auch Claudias Augen flackerten vor Aufregung. Immerhin hatten wir nun eine Spur gefunden, eine ernst zunehmende, vielversprechende Spur!
Im Café hielt uns nichts. Wir zahlten den lächerlich geringen Betrag, den die Bedienung uns in Rechnung stellte - wovon mochten diese Leute überhaupt leben? – und waren froh, wieder in die klare Kälte hinaus zu können.
Im Freien hatte ich das dringende Bedürfnis, den Geruch loszuwerden und mich zu reinigen. Kuchen und Kaffee lagen mir schwer im Magen, und je mehr ich versuchte, nicht daran zu denken, desto hartnäckiger umkreisten meine Gedanken dieses Thema, so daß ich mich am Schluß hundeelend fühlte.

DER WEG ZUM JUDENFRIEDHOF war in der Tat nicht leicht zu finden. Am Ortsausgang zweigte rechts ein winziger Pfad in den Wald am Hang des Lahnufers ab. Diesen mußte die Frau gemeint haben. Umgestürzte Bäume hinderten uns immer wieder am Durchkommen. Es war ein ungeheurer, ein morscher Wald, zwischen Haufen fauligen Laubes handtellergroße Pilze verrotteten und die Bäume im leichtesten Windhauch schwerfällig ächzten.
Den Friedhof aber konnten wir nun gar nicht mehr verfehlen, denn es gab keine Abzweigung, und nach einem Marsch von gut halbstündiger Dauer gelangen wir an ein eingezäuntes Areal.
Jenseits des Maschendrahtes wuchsen wie mahnende Zeigefinger Grabsteine durchs Dickicht. Auf manchen von ihnen hatten unbekannte Besucher Kiesel und gefaltete Zettel zurückgelassen. Als wir nun aber am Tor im Zaun anlangten, fanden wir dieses verschlossen vor.
Zu ärgerlich! Wir hatten diesen umständlichen Weg doch nicht auf uns genommen, nur um daran zu scheitern. Auch in Claudias Gesicht las ich Enttäuschung. Ihr war mindestens genau soviel daran gelegen, die Hintergründe von Meyrinks Geschichte zu ergründen.
Wieder reichte ein rascher Blick, um sich zu verständigen, und schon setzte ich mit einem Sprung über den niedrigen Zaun.
Plötzlich war ich ganz alleine, Claudia nur ein winziger, schwarzer Schatten im entfernten Knäuel des alten Waldes. Ich winkte ihr zu und glaubte auf ihrem süßen Gesicht ein angespanntes Lächeln zu sehen.
Ich mußte mir selbst Mut machen, um von Stein zu Stein zu gehen. Die Angst, über einem Grab einzubrechen und bis zu den Knöcheln in totem Gebein und Moder zu versinken, wuchs, so irrational sie auch war, mit jedem Schritt den ich tat.
Ich bemühte mich, die Inschriften zu entziffern, von einem 'vivo' war da jedoch keine Spur. Was mochte Meyrink bloß dazu veranlaßt haben, seine Erzählung an diesem ganz und gar nicht lebenden Ort spielen zu lassen?
Ich war ein wenig erleichtert, aber auch enttäuscht, als ich jeden einzelnen Stein genau untersucht hatte – ohne Erfolg.
Da es bereits dunkelte, eilten wir uns auf dem Rückweg und blieben in unserer Hast immer wieder in vertrockneten Brombeerranken und über den Weg gespannten, abgestorbenen Efeuschlingen hängen. Nur knapp entging ich einmal einem Sturz den Abhang hinunter. Claudia schien wesentlich sicherer auf den Beinen.
Wir mußten mit dem Wagen über die Landstraße zurück zur Stadt. Was uns Sorgen bereitete, war die Tatsache, daß wir an diesem Tag unmöglich nach Hause zurückkehren konnten, denn für die lange Fahrt war es bereits zu spät geworden. Der Gedanke, in Runkel übernachten zu müssen, erschien uns sehr unangenehm, schlimmer noch war aber die Vorstellung, daß das Hotel, in dessen Café wir gesessen hatten, das einzige am Platz sein könnte.
Die Stadt machte nun einen noch verschlafeneren Eindruck. Düster brütete der Abend über den hohlen Mauern und schräggiebeligen, zinnengekrönten Katen. Aber hinter den meisten der kleinen Fenster brannte ein trostspendendes Licht. Wenigstens deutete dies darauf hin, daß auch die Bewohner Runkels das Dunkel fürchteten.
Unser Auto war das einzige, das sich durch die ausgestorbenen Straßen bewegte.
Als ich ein leuchtendes Schild bemerkte, stieß ich einen erstaunten Ruf aus und Claudia bremste so plötzlich, daß wir beide leicht nach vorn geschleudert wurden.
'Herberge zum Runden Tisch' hieß das kleine Hotel, das sich zwischen zwei höhere Giebel duckte. Es machte einen rückständigen aber doch gepflegten Eindruck, und wir waren uns rasch einig, daß wir hier unsere Nacht verbringen würden. Zuerst befürchteten wir, die Tür sei verschlossen, doch sie klemmte lediglich, und im kleinen Salon, der dem Empfang vorgelagert war, brannte eine einsame Kerze.
Unser Eintreten wurde durch helle Glocken angekündigt, und kaum standen wir an der Rezeption, näherte sich uns eine junge Frau mit langem, braunen Haar. Sie trug ein grobes, braunes Kleid und getrocknete Blumen im Haar. Von allen Bewohnern dieser Stadt schien die normalste zu sein. Freundlich erkundigte sie sich nach unserem Begehren, und es machte ihr wohl nicht das Geringste aus, daß wir nur diese einzige Nacht zu bleiben gedachten.
'Die meisten bleiben nicht länger!', meinte sie nur und zuckte mit den Schultern. 'Was gäbe es auch in Runkel schon großartig zu sehen!' Und führte uns eine schmale Treppe hinauf ins Obergeschoß, wo sich einige Türen an einen engen Gang anschlossen. Eine von ihnen führte zu unserem Zimmer, das weitaus geräumiger war als das Hotel von außen hätte erwarten lassen. Wenn man es vom Gang aus betrat, gelangte man zur linken ins kleine Bad, dessen sanitäre Einrichtungen allerdings vorsintflutlicher Natur waren, rechts über einen weiteren Gang an einem breiten Kleiderschrank und einem nicht viel weniger breiten Kamin vorbei ins eigentliche Zimmer, das immerhin ein Doppelbett und einen Tisch mit zwei Stühlen beherbergte.
Wir waren zufrieden und sagten dies auch.
Die Frau ließ uns alleine. Plötzlich waren wir unglaublich müde und ermattet. Und es gab ja auch keinen Grund mehr, das Hotel zu verlassen. Runkel bot gewiß keinerlei abendliche Unterhaltung. Selbst von diesem Zimmer aus konnte man die Burgruine erkennen, allerdings nur noch als unheilvoll schwarzem Schemen, den man hätte übersehen können, hätte er sich einem nicht schon tagsüber zu tief ins Gedächtnis gegraben.
Wir aßen eine Kleinigkeit von dem Proviant, den wir eigentlich für die Rückfahrt vorgesehen hatten und unterhielten uns über den merkwürdig vergangenen Tag, den wir nichts anderes getan hatten, als einem Gespenst hinterher zu laufen.
Als wir das Licht gelöscht hatten, meinte Claudia plötzlich: 'Es ist verrückt, aber ich habe mir eben vorgestellt, daß es unter Runkel noch eine andere Stadt gibt, eine 'Unterwelt'. Daß dieser Ort über ein unterirdisches Höhlen- und Gängesystem verfügt, in das die Einwohner des nachts hinabsteigen, um ihre wahre Identität wieder anzunehmen und ihren absonderlichen, unsagbaren Machenschaften nachzugehen. Hast Du in Runkel eigentlich alte Obstwiesen gesehen? Für mich sind das ehrwürdige, friedvolle Orte, an denen man sich geboren fühlt. Ich glaube, ich habe einige alte Obstbäume im Wald am alten Judenfriedhof gesehen, aber an mehr kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht haben die Juden hier den besten Platz erwischt. Vielleicht ist es in diesem Fall ein Vorteil, daß ihre Toten so weit außerhalb begraben sind.'
Wie exakt hatte sie in wenigen Worten all das ausgedrückt, was ich den ganzen Tag über empfunden hatte!
Ich konnte jedoch nicht mehr zu einer Antwort ansetzen, denn im Bett sitzend schraken wir gleichzeitig zusammen und ergriffen einander in einer reflexhaften Geste, um, einer den anderen festhaltend, einen notdürftigen Schutz zu schaffen.
Es war etwas gegen das Fenster geprallt, etwas G r o ß e s, zu groß, als daß es ein Rabe oder anderer Vogel hätte gewesen sein können, die wahrscheinlich bei Dunkelheit sowieso nicht flogen. Auch ein Flughund schied aus, obwohl... das, was wir sahen, als wir uns ans Fenster begaben, hätte man auf den ersten Blick für einen solchen halten können. Oder besser für einen ganzen Schwarm. Als wir zur Burg hinauf schauten, eilte etwas Schwarzes pfeilschnell über den von diffusem Mondlicht erhellten Himmel. Nein, die Burg selbst zerfaserte in fledermausartige Alpträume; angefangen beim oberen Rand, wo sich Dinge lösten, die an nasses, schwarzes Laub erinnerten. Sie klatschten gegen das mürbe Mauerwerk, rissen ganze Brocken heraus, die selbst zum Leben erwachten und sich erhoben, hinaus in die ganze Welt zu flattern. All jene Alpträume, die uns nachts ungebeten mit ihrem giftigen Odem den Geist vernebelten.
Diese Burg war zweifellos ein Ort, der sowohl in der jenseitigen als auch in der sogenannten diesseitigen Welt existierte. Und, sicher, es war zuerst die zu dämonischem Leben erwachte Festung, die unser Haar zu Berge stehen ließ, aber wesentlich beunruhigender war eine Entdeckung, die wir machten, als wir Hand in Hand ans Fensterbrett traten.
Da stand unter einer Laterne ein einsamer alter Mann mit weißem Haar, bartlos, die Züge scharf geschnitten. Er blickte, da war kein Zweifel möglich, zu uns herauf und hatte das Gesicht zu einer gräßlichen Grimasse verzerrt. In der Rechten hielt er einen Spazierstock mit Elfenbeingriff. Altmodisch gekleidet war er, fast in Biedermeiertracht, mit Vatermördern und schwarzseidner breiter Halsbinde, sah er aus wie ein Ahnenbild aus längst vergangener Zeit.
... zu seinem Meister. Ihrer aller Meister. Sie kamen. Alle! Eilten zu ihm... zu... Mephisto.

*

'Hast du eigentlich schon mal Ben gesehen?' fragte Serafina und sah ihre Freundin Sybille nachdenklich an.
'Ben? Ich kenne keinen Ben', ließ die Angesprochene unwillig verlauten. 'Ist das wieder einer deiner neuen Langmähnigen? Deiner Lederbehosten, die noch nie einen Friseur gesehen haben.'
Serafina stieß einen empörten Laut aus, der ihrer Freundin ein amüsiertes Lachen entlockte. 'Du brauchst dich gar nicht so aufzuplustern. Bei deinem Männerverschleiß liegt die Frage nahe. Du hast doch immer den gleichen Typ.'
Serafina ließ den nächsten empörten Schnaufer frei, der Sybille ebensowenig beeindruckte. 'Und? Ist es wieder mal die große Liebe?' fragte sie ironisch.
'Na, hör mal. Du stellst mich ja geradezu als männerverschlingenden Vamp dar.'
Sybille neigte den Kopf. 'So abwegig ist das ja wohl nicht.' Sie lachte und warf Serafina einen amüsierten Blick zu. 'Und bevor du jetzt wieder schnaufst. 'Was ist mit diesem Kerl?'
'Nicht Kerl, sondern Film... ich meine den Film.'
Sybille war sichtlich enttäuscht. 'Ach, du meinst den alten Streifen? Wer schaut sich denn noch solche uralten Schinken an?' schickte sie verächtlich hinterher.
'Hm...' Serafinas Redefluß schien plötzlich versiegt zu sein. 'Mein neuer Freund Tino.'
'Also doch ein Neuer!' Sybille seufzte. Ging das jetzt alles wieder los? Das Schwärmen, das Verliebtsein bis zum Abwinken und dann der abrupte Fall und das tiefe Loch. Gefolgt von Jammern und Wehklagen bis hin zum Verfluchen des angeblich starken Geschlechts und letztlich der Beteuerung nie wieder!
Bis zum nächsten Mal. Zum nächsten Mann.
Sybille kannte das alles. Hatte das schon unzählige Male mitgemacht. Miterlebt. Mitgelitten. Und war es endgültig leid.
'Und der Name läßt dieses Mal eine italienische Schmalzlocke befürchten.' Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie war in Eile. Sybille war eigentlich immer in Eile. Sie hatte nie Zeit – war die personifizierte Gehetztheit.
Serafina störte das schon eine geraume Weile. Richtige Gespräche oder uneingeschränkte Aufmerksamkeit konnte man von Sybille schon lange nicht mehr erwarten. Dabei standen sie sich nahe, waren beinahe wie Schwestern. Seit Sybille mit Serafinas Bruder Valentin verheiratet war. So waren sie nicht nur Freundinnen, sondern auch familiär verbunden.
'Nein, es ist keine italienische Schmalzlocke.' Sie lächelte verträumt. 'Er ist sogar sehr männlich... und... ja, er ist schön... auf seine Art.'
'Tzzz... schön... du übertreibst!'
Serafina schüttelte den Kopf. 'Nein, das ist er. Man muß nur genau hinsehen...' Sie stockte. 'Aber wer nimmt sich dafür heutzutage schon die Zeit?'
'Ob jemand schön ist oder nicht, sieht man doch auf einen Blick. Da muß man nicht genau hinsehen.' Sybille warf den nächsten hektischen Blick auf ihre Armbanduhr.
'Da irrst du dich aber gewaltig. Tino besitzt doppelte Schönheit. Er sieht gut aus... ja... aber seine wahre Schönheit kommt von innen. Er hat Präsenz, ist willensstark, kompromißlos, hat einen hohen Anspruch... an sich... und... andere.'
Sybille murmelte etwas vor sich hin. Etwas, das wenig schmeichelhaft für Serafina klang. Etwas wie Überspanntheit, wirres Zeug und Ähnliches. Bei dem nächsten Blick auf die Uhr besann sie sich. 'Was ist mit diesem Film?' brachte sie das Gespräch wieder auf den Punkt.
Serafina zögerte. 'Es ist weniger der Film... mehr die... Ratte.'
Sybille stieß einen angeekelten Laut aus.
'Irgendwie tut sie mir leid! Tut er mir leid. Ben, die Ratte. Er hat all seine natürliche Scheu, seine Instinkte über Bord geworfen, sich dem Jungen angeschlossen, und das war letztlich sein Untergang', fuhr Serafina fort.
'Du sprichst von einer RATTE!' Sybille spie das Wort förmlich aus. Legte all ihren Ekel für diese Kreaturen mit den listigen Augen und den langen nackten Schwänzen hinein.
'Aber sie hatte Intelligenz.'
'Sera, ich bitte dich! Das war ein Film! Hollywood läßt grüßen. Was ist denn da schon echt? Schon Realität?'
Serafina rang mit sich. Sie wußte nicht so recht, wie sie das, was sich in ihrem Hinterkopf formiert hatte, in Worte kleiden sollte. Das, was sie mit eigenen Augen gesehen, was sie erlebt hatte.
Doch hatte sie es tatsächlich erlebt?
Oder war sie überspannt?
Bildete sie sich das alles nur ein?
Sybille blickte schon wieder auf die Uhr. Serafina haßte das. Diese ewige Zeitknappheit. Diese Eile. Diese verfluchte Eile. Dabei wollte sie sich Sybille mitteilen. Ihr Innerstes öffnen.
'Bille, bitte! Schau nicht dauernd auf deine gottverdammte Uhr. Hör mir zu. Bitte!'
Sybille seufzte. Auch das kannte sie. Das Schmeicheln, das Umgarnen, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte. Serafina war Meisterin darin. Wenn sie ihre großen nachtschwarzen Augen unter den geschwungenen Brauen aufriß, konnte ihr niemand widerstehen. Blickte man jedoch einmal hinein, in diese dunklen Magnete, die sich in die Seele des Gegenübers fraßen, wollte man sich nicht mehr von ihnen lösen. Genausowenig wie von Serafina. Man wollte ihr verfallen, ihr ausgeliefert sein und ihr gehören. Weil man sich, sobald man sich aus dem Blickkontakt löste, kalt und verlassen fühlte. Um einen wesentlichen Teil der eigenen Seele beraubt, den sie mitnahm. Den sie in sich hineinsog. Sie war wie ein Suchtmittel, das abhängig machte. Mit ihren dunklen Rehaugen, die mit jener perfekten Mischung aus Unschuld und Verderbtheit blickten. Die heiß wie Höllenfeuer lodern, aber auch kalt und hart wie Onyx dreinblicken konnten. Die ein Spiegel ihrer Seele waren. In den man nur hineinblicken mußte, um zu wissen, in welcher Verfassung Serafina war.
Aber auch ihre Stimme wußte zu umgarnen und zu umschmeicheln. Dieses sanfte Timbre, in dem immer ein zartes, erotisches Zittern schwang. Diese Stimme, die durch Mark und Bein ging. Die nachhaltig wärmte und ebenso süchtig machte wie Serafinas Blick. Die seicht wie ein Sommerwindhauch umgarnte, aber auch schärfer als jedes Messer schnitt.
Diese Stimme, die wie nichts anderes perfekt Serafinas Zwitterwesen offenbarte: Heilige und Hure.
'Also gut.' Sybille blickt erneut auf ihre Uhr. 'Eine Viertelstunde habe ich noch Zeit. Du weißt...'
Serafina machte eine wegwerfende Handbewegung. Durch die unwillige Geste löste sich ihr aufgestecktes langes Haar und fiel wie ein schwarzer, seidiger Schleier über ihre Schultern.
'Ja, ich weiß, du bist vielbeschäftigt. Wie alle heutzutage.' Serafinas Augen blitzten wütend. 'Ich weiß! Time is money!' Sie zündete sich einen ihrer orientalisch duftenden Zigarillos an und blies den Rauch durch die Nase. Ihre Nasenflügel weiteten sich dabei, erinnerten an die geblähten Nüstern eines rassigen andalusischen Pferdes.
Sybille hielt den Atem an. Serafina war schon immer schön gewesen. Aber in den letzten Wochen hatte diese Schönheit ätherische Züge angenommen. War geradezu beängstigend entrückt. Beinahe nicht von dieser Welt.
Sibylle räusperte sich. 'Und was hast du mir so Wichtiges zu sagen?'
'Es hängt alles irgendwie zusammen. Der Film, Tino und die Ratte...' begann Serafina zögernd. Sie wußte selbst, wie aberwitzig das nun Folgende klang. 'Tino tauchte, kurz nachdem mir die Ratte im Keller über den Weg lief, auf...'
Sybille stieß einen spitzen Schrei aus. 'In deinem Keller gibt es diese gräßlichen Viecher auch?'
Serafina nickte gedankenversunken. 'Ja... und als ich eines Abends nach unten ging, lief mir diese besonders große über den Weg. Nein, sie blieb ganz ruhig sitzen... sah mich mit ihren Augen an... Augen, in denen deutlich Intelligenz leuchtete... menschliche Intelligenz...'
'Sera!'
Serafina beachtete den entsetzten Aufschrei der Freundin und Schwägerin nicht. Sie sprach wie in Gedanken weiter. 'Es war nichts Tierisches in ihnen, Bille... ich hätte es beinahe vergessen... aber dann tauchte Tino auf... und seine Augen... es ist etwas in ihnen, das mich an diese Ratte erinnert...'
'Sera!' Sybille sprang auf, nicht ohne zu versäumen, wieder einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. 'Was redest du da? Du hast wirklich zu viele Filme gesehen! Seit du den Typ mit der Videotheken-Kette hattest...' Sie beendete den Satz nicht. Aber ihr finsterer Gesichtsausdruck sprach Bände. Ihm war deutlich abzulesen, was sie von dem Thema hielt.
'Bille, geh jetzt bitte nicht... da ist noch etwas...'
Sybille sprang auf, warf sich ihren Rucksack über die Schulter. 'Ich habe genug gehört. Mit solch einem krausen Gerede verplempere ich nicht meine kostbare Zeit.'
Bevor Serafina etwas zu erwidern vermochte, war sie entschwunden. Die Haustür fiel leise ins Schloß. Serafina war wieder allein.

***

In der mitternächtlichen Dunkelheit erhoben sich zwei geisterhafte Gestalten. Bei ihrem Anblick fühlte sie augenblicklich ein Kribbeln in ihrem Unterleib und lustvolles Ziehen in ihren vollen Brüsten. Aber vor allem Durst... quälenden Durst in ihrer plötzlich staubtrockenen Kehle. Doch es gelüstete sie weder nach Wasser oder Wein.
Ihre Gier war anderer Natur.
Verlangte nach einem anderen Saft.
Die imposantere der beiden Gestalten floß langsam näher, blieb dann einige Meter vor ihr stehen. Die andere folgte ihr in beinahe demütigem Abstand. Mit einem kurzen Kopfnicken wurde ihr zu verstehen gegeben, näher zu treten.
Serafina leistete diesem Befehl widerspruchslos Folge.
Es war nicht die Annäherung verwandter Seelen. Es war das huldvolle Nähern einer Unkundigen an den Meister und seinen Eleven.
Sie bewegte sich mit vollkommener Grazie. In stolzer, aufrechter Haltung, aber mit weich wiegendem Hüftschwung, der erregender nicht hätte sein können. Mephistos Blick ruhte fasziniert auf ihr. Sie war so, wie Faustino sie beschrieben hatte. Mehr noch – schöner und femininer. Am erregendsten war die Marmorblässe ihrer Haut, die Mephisto allzu gerne liebkost hätte. Doch das mußte warten, Für sie hatte er erst einmal etwas anderes beschlossen. Etwas, das essenzieller war als die reine Lust des Fleisches. Sie war das Pfand des Paktes, der Faustino an ihn band.
Es würde andere Möglichkeiten geben, sie zu besitzen. Auf eine noch befriedigendere Art und Weise. Denn schließlich war sie das Mittel zum Zweck, um Faustino das zu lehren, was ihm noch zum Menschsein fehlte: die Triebhaftigkeit.
Erste Saatkörner hatte er schon in dessen Menschenleib gepflanzt.
Faustino wurde merklich unruhig neben ihm. Mephisto verzog geringschätzig den Mund. Sein Schüler mußte noch viel über die Menschen lernen. Sich zeitweise ihrer Gestalt zu bedienen, war längst nicht ausreichend. Er mußte auch seine Gefühle unter Kontrolle bringen.
Das Fiepen neben ihnen wurde lauter.
Unruhe lag plötzlich in der Luft.
Unruhe und Blutlust.
'Ruhig!' mahnte Mephisto. 'Noch ist es nicht soweit.'
Das Fiepen verklang augenblicklich. Nur die Irrlichter-Augen glommen noch in der Dunkelheit.
Serafina fühlte Beklommenheit in sich aufsteigen. Was trieb sie hierhin? In diese feuchte Dunkelheit tief unter der Stadt. Wieder spürte sie die Trockenheit in ihrer Kehle. Diesen aberwitzigen Durst. Diese schwelende Hitze in ihrem Körper, der geradezu nach Vereinigung schrie.
Auch das spürte er. Hätte sie liebend gern um ihre schlanke Taille gefaßt, sie an sich gezogen und mit seinen Händen den fraulichen Fluß ihrer Hüften und ihres Gesäßes verfolgt.
Mephisto begehrte sie.
Er, der sonst Jünglinge vorzog, die just zum Manne gewordenen Knaben, auf deren Wunderhörner er blies, wollte sich plötzlich in dieser warmen Frauenfleischlichkeit verlieren.
Aber sie hatte nur Blicke für Faustino, der, als sie nun so nah vor ihnen stand, neben Mephisto erstarrte. Der verschleierte Blick ihrer dunklen Augen streichelte ihn. Tasteten sein Gesicht, sein langes Haar und seinen schlanken Körper ab. Ihre besondere Art ihn anzusehen, verunsicherte ihn. Einige Atemzüge lang rang er mit sich. Wollte sie warnen und sie in ihre Welt zurückschicken. So lange es noch nicht zu spät war. So lange sie noch nicht eine von ihnen geworden war. Auch wenn das den Unwillen seines Meisters auf sich gezogen und somit den unwiderruflichen Verlust seiner eigenen Seele gekostet hätte.
Faustino war bereit, auch diesen Preis zu entrichten. Wie er bisher alles gezahlt hatte, seit er Mephisto gebeten hatte, ihm eine schöne – eine menschliche – Gestalt zu verleihen und ihm Serafina zu geben. Mehr noch: ihre Liebe.
Faustino dachte daran, wie Mephisto ihm erstmals erschienen war: in Gestalt eines Pudels, der beständig um seine Füße schlich. Der ihm durch die Nacht folgte. Sich als schwarzer Schatten erhob, mehr und mehr an Größe zunahm. Ihm dann in seiner wahren Gestalt erschien. Um ihn herum hunderte kleiner Nager, deren Augen rot funkelnd in der Dunkelheit der Nacht glommen. Die Ratten hatten Faustino mit Gesang in tiefen Schlaf gewiegt.
Als er wieder erwachte, brannte der Wunsch in ihm, sich an den Tiefen der Sinnlichkeit zu berauschen. Eine Sinnlichkeit, die nur eine einschloß: Serafina!
Faustino dachte mit Schaudern daran, daß er als Gegenleistung für Serafinas Liebe Mephisto in dessen Dunkelwelt folgen mußte. Er dachte an den Pakt, den sie eingegangen waren. Doch dieser bot auch eine andere Sichtweise. Schnell erfaßte er die Begrenztheit des menschlichen Wissens, des menschlichen Wesens. Auch das führte mehr und mehr dazu, daß er sich Mephistos Magie zuwandte. Immer wieder wurde ihm die Unvollkommenheit der Menschen schmerzlich bewußt. Unvollkommenheit, die er nur durch sein Doppelwesen überwinden konnte. Mephistopheles machte es ihm erst möglich, alle Höhen und Tiefen des Lebens zu erleben. Als Gegenleistung hierfür mußte Faustino ihm seine Seele versprechen. Dies schien ihm ein geringer Lohn. Faustino wußte, daß diesem Pakt eine Wette zwischen Gott und Mephisto vorangegangen war. Ein Teil davon war es, ihn alle Höhen und Tiefen der Sinnlichkeit durchleben zu lassen.
Sinnlichkeit, die er bereits ansatzweise verspürte, als er Serafina auf sich zukommen sah. Ihre bis in die Taille reichenden dunklen Locken wehten seicht im Wind. Sein Blick blieb an ihren Brüsten hängen, die sanft bei jedem Schritt wippten.
Unruhe bemächtigte sich seiner.
Mephisto spürte die Verunsicherung seines jungen Schülers. Wieder dachte er: Du mußt noch viel lernen! Allem voran, keine Gefühle und Zweifel zu zeigen. Und ihrer Herr zu werden. Er vollführte mit dem Kopf eine kurze Bewegung, die einem Befehl gleichkam. Das vor wenigen Minuten noch verstummte Fiepen erklang wieder, vereinte sich und schwoll in Sekunden zu einem einzigen schrillen Ton an, der in Serafinas Ohren schmerzte.
Mephisto sah mit einem maliziösen Lächeln, wie ihre wohlgeformte Gestalt zusammenzuckte. Sah, wie sich die Augen der jungen Frau vor Schreck weiteten, als sie das Heer der Ratten erblickte, das wie eine dunkle Wand auf sie zuwogte. Sie von den Füßen riß und seinen Durst an ihr stillte. So lange, bis ihr Schrei in ein leises Wimmern mündete und erstarb.

***

Serafina wachte durch ihren lauten Schrei auf und fragte sich im ersten Moment verwirrt, ob sie immer noch träumte. Eine Bewegung brachte sie endgültig in die Realität zurück. Ihr schwarzer Kater Mephisto landete mit einem unsanften Satz auf ihrem Laken. Im Maul trug er eine Ratte. Der Nager hing schlaff herab, war mit einem sauberen Genickbiß getötet worden. Da kannte Mephisto kein Erbarmen. Seine felide Seele bot keinen Platz für Grauzonen. Für ihn gab es nur Freund oder Feind. In dem Punkt glich er Serafina. Sie war auch kompromißlos. War sowohl wählerisch bei ihren Freunden, als auch rigoros mit ihren Feinden.
Mephisto machte einen weiteren Satz. Immer noch den baumelnden Rattenkadaver im Maul.
Serafina scheuchte den Kater von ihrem Bett. 'Raus mit dir, Mephisto! Igitt, bring das Vieh weg!'
Sie wedelte hektisch mit der Hand in Richtung Terrassentür. Mephisto räumte beleidigt das Feld. Gottlob ohne zu fauchen und den erlegten Nager fallenzulassen. Das hätte Serafina noch gefehlt – den kleinen Kadaver auf ihren Seidenlaken liegen zu haben.
Sie blickte dem Kater nach, der mit zwei großen Sätzen ins Freie entschwand, und schüttelte den Kopf. Mephisto, dieser samtpfotige Mörder mit Schnurrfaktor. Er jagte alles, was sich bewegte. War ein kätzischer Feldherr, der ganze Ratten- und Mäuseheere erlegte. Besonders seit sie in das alte Haus am Rande der Stadt gezogen war. Seitdem konnte er sich in den angrenzenden Gärten schadlos halten. Konnte seiner Jagdleidenschaft und seinen Machtgelüsten nachgehen und sich die Ratten unterwerfen. Leider hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr von Zeit zu Zeit stolz seine Beute zu präsentieren, um für seinen Einsatz gelobt zu werden.
Serafina schüttelte erneut den Kopf.
Kein Wunder, daß sie solch haarsträubende Träume hatte, die ihr den Schlaf raubten. Kein Wunder, daß ihr Mephisto und seine Rattenarmee erschien. Kein Wunder, daß ihre Nerven völlig blank lagen.
Serafina faßte sich an den Hals. Sie hatte immer noch das Gefühl, kurz vor dem Verdursten zu sein. Aber es war etwas hinzugekommen. Ein Gefühl der Mattigkeit. Der Mattigkeit und... Lust.
Ihr ganzer Körper fühlte sich verändert an. Als hätten ihn tausende Nadeln gestochen. Oder feine Zähne, durchzog es sie. Serafina zuckte zusammen. Da war eine neue Größe in ihr. Ein zweiter Charakter, der ihr Gedankenbausteine in das Hirn pflanzte, die sie zu einer anderen machten. Einer Frau, die das Gefühl hatte, im falschen Körper zu stecken. Einer Frau, die plötzlich das Bedürfnis hatte, das Blut anderer zu trinken. Damit dieses trockene Gefühl in ihrer Kehle und diese Unruhe in ihr endlich gestillt wurden.

***

Er stand so dicht neben ihr, daß er sie beinahe berühren konnte. Sein feingeschnittenes, markantes Gesicht zog sie magisch an. Serafina fühlte das Blut in ihren Unterleib schießen. Sie preßte sich zur Begrüßung an ihn und vergrub ihr Gesicht in seinem offenen Haar, das länger war als ihr eigenes und einen Duft an sich trug, der unbeschreiblich war – der sie geradezu berauschte. Ebenso wie die ekstatische Magerkeit seines Körpers sie in Wallungen versetzte. Diese Härte, die sich an ihr rieb... Serafina seufzte wohlig. Sie wollte ihm gehören – ganz und gar. Wollte ihm die Feuchtigkeit ihres Schoßes schenken. Ebenso ihre ungezügelte Gier. Ihre beinahe animalischen Triebe.
Beinahe?, zischte es in ihr.
Serafina zuckte zusammen. Sie wollte sie nicht. Diese imaginäre Stimme in ihr. Diese andere Wesenheit. Diese unmenschliche Wesenheit. Aber sie war dagegen machtlos... seit... ja, seit wann? Seit diesem Traum in dem ihr Mephisto erschienen war! Mehr noch verwirrte sie, was Faustino, Tino, wie sie ihn zärtlich nannte, mit ihm zu schaffen hatte. Was verband die beiden Männer?
Faustino umfingt sie und drückte ihren warmen Körper an sich. Sein Mund wanderte ihren Hals entlang. Seine Lippen waren weich und dennoch fordernd. Serafina gab einen leisen Laut der Erregung von sich. Die Art und Weise, in der seine Zunge über ihre Haut fuhr, 1öste eine Welle der Begierde in ihr aus. So stark, daß nicht nur Faustino sie empfand, sondern auch Mephisto, der wie ein heftiger Windhauch herbeifegte. Unbemerkt von dem eng umschlungenen Paar, das er aus einiger Entfernung beobachtete. Er sah, wie sich die Liebenden ihrer Kleidung entledigten, zu Boden sanken und sich ihre Leiber ineinander verwoben.
Sie nahmen nicht wahr, daß er sich ihnen näherte. Wie ein omnipotenter Schatten, der über sie kam. Sie ummantelte und in sie floß. Mit ihnen fühlte und liebte. Serafina spürte Faustinos Bewegungen in sich. Meinte zu spüren, daß er an Größe und Kraft zunahm. Ganz so, als ob er sich verdoppele.
Sie öffnete die Augen, die sie zuvor voll Wonne geschlossen hatte... und schrie auf, als sie das Wesen erblickte, das sie liebte. Es waren Mephistos Züge, die sich in die ihres Geliebten mischten. Doch mehr noch. Es waren auch die spitzen Züge eines Nagers... einer Ratte.
Sonderbarerweise schreckte es sie nicht so, wie es hätte sein müssen. Im Gegenteil, es steigerte ihre Lust, die in ihr ausuferte. Sie forttrug...
Mephisto teilte diesen Lustgewinn mit ihr. Er liebte nicht nur sie, sondern gleichzeitig auch Faustino. Genau DAS war es, wonach er immer gesucht hatte. Was ihn endlich erfüllte. Er war immer einsam gewesen. Ihn hatte immer die Sehnsucht, nach Zweisamkeit, nein, Dreisamkeit, getrieben. In Faustino und Serafina hatte er sie gefunden. Er wußte, daß es auch daran lag, daß Serafina nicht irgendeine Frau war. Sie hatte die Urkraft in sich, die auch ihn trieb. Die Kraft, die nur wenige Frauen in ihren Seelen und ihrem Schoß bargen.
Mephisto hörte ihr heiseres Keuchen, vergrub seine spitzen Zähne in ihrem Nacken, spürte die wellenartigen Orgasmen, die ihr Unterleib über seine und Faustinos Härte schickte und versprühte seinen dunklen Samen in sie.
'Du gehörst nun zu meiner Gefolgschaft', raunte er ihr zu. 'Wann immer ich dich rufe, wirst du diesem Ruf folgen. Mehr noch, du wirst Sirene meiner Armee sein. Wirst mir starke, schöne Jünglinge zuführen. Zu unser aller Lustgewinn.'
Er löste sich von den beiden ineinander verschmolzenen Gestalten.
Mit beinahe hochmütiger Miene ließ er von ihnen ab. 'Sie gehört nun dir...' Er blickte auf Faustino herab, der noch immer in sanfter Ermattung auf Serafinas dahingegossenem Körper ruhte. '... und mir', setzte er, für die beiden nicht vernehmlich, hinzu.

***

Diese Träume, die sie immer häufiger heimsuchten, verfolgten sie bald auch bis in den Tag hinein. Serafina dachte immer daran, wie Mephisto sie während des Aktes, kurz bevor er sich in ihr ergoß, in den Nacken gebissen hatte. Das erinnerte sie an ihren Kater, den sie einmal beim Liebesspiel mit einer Katze aus dem Nachbargarten beobachtet hatte. Der dieser einen ähnlichen Nackenbiß erteilt hatte.
Dennoch war es nicht zu vergleichen. Mephisto hatte sie nicht nur gebissen. Sie spürte noch immer seinen Mund auf sich. Wie er das Blut in sich aufnahm, das ihren Nacken hinablief. Wie er es ableckte und an der Wunde sog. Sich an ihrem Lebenssaft labte und ihn trank – in kleinen, gezielten Schlucken. Wie man einen kostbaren Wein genoß.
Bei der Erinnerung daran, spürte sie wieder diesen Durst und den Urdrang in sich aufsteigen. Sie mußte hinaus. Der Stimme in ihrem Kopf, in ihrer Seele und ihrem Blut nachgehen.
Sirene, Sirene, hallte es in ihr, bring sie zu mir. Gib mir schöne Jünglinge! Serafina konnte sich dem nicht entziehen. Nächtelang streifte sie durch die Dunkelheit, wurde immer ruheloser auf der Suche nach dem, was Mephisto von ihr forderte. Ihre atemberaubende Schönheit, die von Nacht zu Nacht zunahm, war ihr dabei eine Hilfe. Keiner der jungen Männer konnte sich ihr entziehen. Ihrem hypnotischen Blick, ihrem makellosen Körper und ihrer Erotik. Vor allem aber ihrer wilden Verderbtheit. Sie vermochte sie alle in ihren Bann zu ziehen und sie zu IHM zu locken. Manchmal gestattete Mephisto ihr, selbst einen der Jünglinge zu unterwerfen. Ihre Art zu lieben und zu töten glich eher dem einer schwarzen Witwe als der von Mephistos Gefolgschaft. Ihr Akt und Todesbiß war schnell und lautlos.
Die Veränderung, die mit ihr vorging, war nicht nur innerlich. Auch äußerlich war sie unverkennbar.
Das blieb auch Sybille nicht verborgen.
'Wie siehst du denn aus?' entfuhr es ihr, als sie Serafina besuchte. Wenngleich ihre Besuche immer mehr Stippvisiten ähnelten. 'In letzter Zeit rennst du in einem Quasimodo-Outfit herum, das einer Geisterbahnfigur alle Ehre macht.'
'Ich kann ja nicht mein Leben lang in Organza gehüllt durch die Gegend schweben.'
Sybille ergriff Serafinas Ärmel. 'Zwischen Organza und dem da liegt aber ein gewaltiger Unterschied.' Sybille wußte das Oberteil, das Serafina trug, nicht zu bezeichnen. Es war ein schwarzes zipfeliges Etwas, das den Blick auf Serafinas Bauchnabel über der ebenfalls schwarzen Lederhose freiließ. Das Material war unbeschreiblich. Ein samtartiges Gewebe, das Sybille an das Fell eines Tieres erinnerte. Sie ließ die Hand sinken, die auf Serafinas Arm geruht hatte. Aus irgendeinem Grund war ihr die Berührung des sonderbaren Gewebes unangenehm. Es fühlte sich so merkwürdig lebendig an und lag so eng wie eine zweite Haut an Serafinas Körper an, als wäre es irgendwie mit ihr verbunden.
Sybille musterte Serafina.
Deren Gesicht war schmaler geworden. Und in den Augen schimmerte ein fiebriger Glanz. Sybilles Blick blieb an den langen, spitz gefeilten Fingernägeln haften.
Serafina blieb die Musterung nicht verborgen. 'Bist du bald fertig?' fragte sie eine Spur zu unfreundlich für ihre Verhältnisse. Ganz so, als habe sie etwas zu verbergen.
Sybille musterte sie argwöhnisch. 'Du hast dich sehr verändert. Seit du diesen neuen Kerl hast, bist du nicht mehr du selbst.' Sie sprach damit aus, was sie schon geraume Zeit dachte. Seit sie Serafina beobachtete – sie mit Argusaugen betrachtete. Auch wenn sie sich eingestehen mußte, daß sie ihr nicht sehr viel von eben jener Zeit geschenkt hatte.
Serafinas Reaktion war völlig anders als Sybille erwartet hatte. Sie reagierte nicht schroff oder abweisend, sondern legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Dabei entblößte sie eine Reihe nadelspitzer Zähne. Sybille lief ein kalter Schauer über den Rücken. Das war nicht mehr die Serafina, die sie kannte. Selbst das Lachen war anders. Es erinnerte nicht mehr an den warmen Ton, sondern war... von einer seelenlosen Kälte.
Serafina spürte das Unbehagen der Schwägerin. Roch den Angstschweiß, der aus Sybilles Poren strömte, als sich Serafina ihr zuwandte und sie den rötlichen Schimmer in deren Augen sah.

***

Er sah seine drei eiligen Gesellen heraneilen – seine Todesboten. Faustino war einer von ihnen. Wenn sie kamen, wußte Mephisto, daß Unheil drohte.
'Ihre Schwägerin wird allmählich mißtrauisch! Sie ist uns auf der Spur.'
Mephisto wußte, ohne daß er ihren Namen aussprach, von wem die Rede war. Faustino kannte kein anderes Thema mehr. Seit er menschlich geworden war. Seitdem er Serafinas Liebe besaß. Mephisto fühlte, daß sie von Tag zu Tag wuchs. Spürte es, wenn sie ihm seine Lustknaben zuführte und er Serafina zusammen mit seinem Auserkorenen liebte. Dann fühlte nicht nur ihre geistige, sondern auch körperliche Abwesenheit, wenn sie zurück in ihre Welt ging. Zurück zu Faustino! Das machte ihn wütend, auf eine gefährliche Art und Weise. Er duldete es nicht, daß man sich ihm widersetzte. Mehr noch, ihn zu einem Statisten degradierte. Er versuchte Einfluß auf Serafinas Geist zu nehmen. Doch das mißlang, denn der war beseelt von einem: Faustino.
Mephisto betrachtete die drei Gesellen. Bei Faustinos Begleitern war die Verwandlung noch nicht abgeschlossen. Sie waren eine groteske Mischung aus Ratte und Mensch. Ihre Gestalten boten schon keine animalischen Merkmale mehr. Dafür ihre Gesichter noch umso mehr. Sie waren grotesk vergrößerte Rattenschädel mit menschlichen Augen.
Doch das war nebensächlich. Mephisto bedeuteten diese Kreaturen nichts. Keiner von ihnen. Außer Faustino... und... Serafina.
'Dann bring sie mir. Es ist ohnehin wieder an der Zeit.' Er stimmte ein schauriges Lachen an. 'Du weißt, mein Heer der Nacht ist immer durstig.'
Faustino stieß einen Laut aus, der deutlich zeigte, daß ihm der Befehl seines Meisters mißfiel. 'Gibt es keine andere Möglichkeit?' wagte er anzumerken.
'Du hast dich verändert. Bist menschlich geworden, allzu menschlich!' stieß Mephisto verächtlich hervor. 'Du vergißt in letzter Zeit allzu oft, daß du einer von uns bist!' Er warf Faustino einen kühlen Blick zu. 'Du bist träge und selbstzufrieden geworden. Aber du weißt, hier gelten nur die Ruhelosen! Es wird Zeit, daß du dich auf unseren Pakt besinnst. Ich habe meinen Teil eingehalten. Nun ist es an dir, es mir nachzutun. Also bring sie mir!'
Faustino fröstelte bei dem Tonfall. Der duldete keinen Widerspruch und fällte das Todesurteil über Sybille.

***

Serafina verscheuchte den Gedanken an ihn und alles, was mit ihm zu tun hatte. Diese Gier. Dieses Sehnen. Dieses bodenlose Nichts, das sie oft hinabzog. Sie war besessen von Faustino und seinem dunklen Herrn. Beide beschäftigten sie gleichermaßen. Das war ihr fremd. Sie hatte sich nie zwei Männern gleichzeitig hingegeben. Ihr Herz war noch nie für zwei entflammt. Faustino war all das, was sie sich immer schon gewünscht hatte. Er war anders als alle anderen. Seine dunkle Seele, seine düstere Ausstrahlung, aber vor allem seine Präsenz. Dennoch konnte er auch zärtlich sein – weich und sensibel. So sanft, daß sie zu vergehen drohte. Neben ihm verblaßte alles, wurde nebensächlich und entbehrlich. Er war wie ein Suchtmittel, das sie anzog, gefügig und abhängig machte. Über allem aber schwebte seine dunkle Gottheit Mephisto, dem alle dienten. Somit auch sie. Ihm war sie auf wilde, urtümliche Weise verfallen. Er nährte ihre Wollust, ihre Triebe. Serafina konnte die Jünglinge nicht mehr zählen, die sie ihm zugeführt und somit ins Verderben getrieben hatte. In den stillen Momenten drückte sie diese Last. Dann sprach das in ihr, was einmal ihr Gewissen gewesen war. Aber es flackerte nur ein kümmerlicher Rest dessen auf. Zu stark war die andere, die neue Seite – die andere Seele – in ihr. Aber auch die Ängste, die mit alledem zusammenhingen. Die sie wie ein Netz gefangen hielten. Wie der Blutdurst, der sie immer befiel, wenn sie sich ihrer neuen Triebhaftigkeit hingab. Der Durst, der unstillbar war. Der immer stärker in ihr wurde. Sie liebte die pulsierende Wärme. Wenn sie sich wie eine Kanalratte in einen der Hälse verbiß, den ihr der Jüngling, den sie erwählt hatte, allzu bereitwillig entgegenstreckte. Während ihr Schoß seine Hitze über seine Männlichkeit verströmte. Ihre Zähne jedoch gruben sich in die Halsschlagader, die ihr den lebensverlängernden Saft darbot. Er war so warm... so süß... so kostbar... so unentbehrlich... wie er zum abnehmenden Klang des Herzens in ihren Mund floß, sie in Wellen der Ekstase versetze... sie bis auf den Gipfel trieb... weiter und weiter... nach der Melodie des Lebens... der des Todes... die das Blut sang... das Blut vereint mit der Stimme der Sinne... der Lust... der Leidenschaft... die Musik, die sie erfüllte... die leise in ihr erklang... anschwoll... immer höher... immer lauter.... immer schneller... bis... bis sie brach... so wie die Augen ihrer Opfer... ihre Herzen... ihre Seelen...

***

Mephisto spürte stechende Eifersucht in sich. Eifersucht und Haß. Sie durfte auf Dauer nur ihm gehören. Niemals einem seiner Jünger. Selbst Faustino nicht. Mephisto hatte sie lange genug beobachtet. Sie leidenschaftlich genug geliebt. Hatte lange genug auf sie gewartet. Sie war perfekt – für ihn geschaffen. Sie war die geborene Seelenzuführerin. Die fleischgewordene Lust. Doch sie war durch seinen Pakt mit Faustino auch an diesen gebunden, somit das Pfand, das er ihm zu überlassen hatte. Zumindest in gewisser Weise.
Mephisto spürte Unruhe in sich. Er wußte, daß sie bald wiederkommen würde. Mit neuen Jünglingen, die ihr in die Welt der Dunkelheit, der Welt des ewigen Blutes folgten. Dieses Mal würde es anders sein. Dieses Mal würde das Fleisch und das Blut noch unruhiger pulsieren und einen ganz besonderen Zoll fordern. Und sie mußte ihn erbringen. Sonst würde sie vergehen und zu Staub zerfallen. Wie all die anderen, die sich ihm verweigert hatten. Doch er wußte, daß sie das nicht wollte.
Serafina wollte leben!
Wollte lieben... um jeden Preis!
Sie würde ihn zahlen.
Kaltherzig mit der Seele einer Königin
SEINER Königin.

***

Sybille tastete sich durch die Dunkelheit. Sie wußte nicht, in welche Finsternis sie hastete. Wußte nur, daß sie Serafina finden mußte. Die Geschichte, mit der Tino aufgewartet hatte, war so aberwitzig, so abgehoben, daß sie schon wieder wahr sein konnte. Sie entbehrte zwar jeglicher Logik, aber gerade aus dem Grunde kam sie Sybille wiederum nicht völlig abwegig vor. Schließlich hatte sie die Veränderung, die mit Serafina vorgegangen war, zur Kenntnis genommen. Aber sie hatte sie bisher nicht einordnen... nicht deuten können. Jetzt aber bekam alles ein anderes Bild. Erhielt es einen Sinn. Einen furchtbaren Sinn. Sie dachte daran, was ihr Serafina erzählt hatte. Über die Ratte im Keller. Über Tino. Über deren Augen. Es gab tatsächlich einen Zusammenhang, eine Brücke, die sich spannte. Über Tag und Nacht. Gut und Böse. Himmel und Hölle. Leben und Tod. Blut und Liebe. Letztere war das Bindeglied zwischen allem, war die süße, sündige, verführerische Frucht, eingewoben in den blutigen Mantel der Unsterblichkeit.
Doch da war ein Name, der immer wieder fiel. Der Welten zum Stillstand brachte und Naturgesetze aufhob. Der Wesen schuf, wie sie gottloser nicht sein konnten.
Mephisto.
Der Leibhaftige. Der Böse mit dem morbiden Charme. Jenem Charme, dem nun auch Serafina endgültig verfallen war. Mehr noch, dem sie Nahrung bot, indem sie Seelenfängerin für ihn spielte.
Sybille stöhnte.
War Serafina noch zu retten?
War ihre Seele noch nicht verloren?
So wie all die anderen, die sie der dunklen Macht, der ekstatischen Omnipotenz zugeführt hatte. Sybille wußte nun, daß es eine dunkle Gottheit gab, die Serafina in ihren Fängen hatte. Die sie mit maliziöser Gerissenheit um den verruchten Finger wickelte, um sie zum Lockmittel für seine Zwecke zu mißbrauchen.
Sybille plagten Schuldgefühle, die doppelzüngiger nicht sein konnten.
Warum hatte sie Serafina so wenig Gehör geschenkt? Ihr so wenig Zeit gewidmet? Das war das Manko... die Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Es war ein Frevel ihrer Zeit. Begangen an denen, die man liebte. Doch war sie nicht schuldlos?, versuchte sie zu schachern. War nicht ein jeder unter dem Joch der Eile gefangen? Den Fängen der Triebhaftigkeit? Beides abzulegen, galt ihr Sinnen und Trachten. Ein irres Lachen bemächtigte sich ihrer. Das nicht nur ihre Kehle, sondern auch ihr Herz heraufkroch, beides erlahmen und verstummen ließ. Angst breitete sich in ihr aus. Angst zu versagen, zu spät zu kommen und ebenfalls hilflos den Mächten des Blutes ausgeliefert zu sein, wenn sie sich hinab in die Katakomben begab. Sie hatte von dem satanischen Dämon gehört, der Leiber und Seelen erfüllte. Der Tier zu Mensch, Mensch zu Tier machte. Der seelenlose Kreaturen schuf und in dieser Dunkelwelt sein Unwesen trieb.
Ein kümmerlicher Rest Trotz regte sich in Sybille. Sie würde dem widerstehen, würde dem mutig entgegentreten und unerschütterlich in ihrem Streben nach Gutem sein.
Sie würde Serafina zurückholen... in die lichte Welt.
Mit Gottes Hilfe.

***

'Komm zu mir, meine Schöne!'
Die Stimme umschmeichelte und durchzog sie. Ließ sie sanft erbeben. Serafina kannte diese Sehnsucht. Diesen Phantomschmerz, wenn er nicht in ihr war – in ihrer Seele und ihrem Schoß. Keine Güte, keine wohltuende Ruhe konnte dieses Sehnen stillen, konnte diese dunkle Kraft bannen. Sie wollte zu ihm. Wollte sich ihm und den Seinen hingeben. Die Musik ihrer Wunderhörner erklingen lassen, die in ihr aufbrandeten, jubilierten und in heftigen Wellen abebbten.
Sie fieberte ihm entgegen und war durstiger denn je. Ihr Sehnen und Trachten schrie nach absoluter Vereinigung.
Der dunkle Schatten kam näher. Fuhr in sie ein. Endlich! Er erfüllte sie gänzlich und ließ sie unter seinem Ansturm erzittern.
'Mephisto!' flüsterte sie mit jenem Timbre in der Stimme, das ihre Erregung verriet. Er liebte ihn. Diesen weichen Unterton, der ihn wie ein Windhauch streichelte, mit ihrer Lust mehr und mehr aufbrandete, brach und in einem Flüstern endete.
Er bewegte sich in ihr. Füllte sie gänzlich... und dennoch waren sie nicht allein.
'Faustino!' entrang sich plötzlich ihren Lippen. Beinahe scheu, verlegen, als habe er sie bei etwas Verbotenem ertappt.
Dieses sehnsüchtige Flackern in ihrer Stimme weckte Mephistos Zorn. Seine Bewegungen in ihr wurden heftiger, bestimmender und brutaler. Ganz so, als wolle er ihre Erinnerung an Faustino auslöschen.
'Vergiß ihn. Vergiß ihn!' stieß er bei jedem weiteren Ansturm auf ihren Schoß hervor. Doch ihr gelang es nicht, Faustino aus ihrer Seele zu verbannen. Ebenso wenig, wie sie es vermochte Mephisto Einhalt zu gebieten. Sie wußte, sie beging Verrat an dem, den sie liebte. Aber sie war schwach – ihr Fleisch war schwach. Schwach und doch so erfüllt.
Mephistos Lächeln war kalt und maliziös, als er sein Gesicht in Serafinas Haar vergrub und unentwegt in ihren zarten Hals biß, während sein Wunderhorn zur finalen Musik anschwoll, und er dunkel-heiser zwischen ihren schwindenden Sinnen, ihrer erlahmenden Liebe für Faustino flüsterte: 'Vergiß ihn und folge nur mir. Verweile... meine Schönheit!'

***

Sybille lauschte in die Dunkelheit.
Da war sie wieder... die Melodie, die sie vorantrieb. Die in ihr war – in ihrem Herz, ihrer Seele, ihrem Schoß und Blut. Woher sie kam, vermochte Sybille nicht zu benennen. Sie war überall... um sie herum.. tief in ihr drin. Die dunkle Kraft, die an ihrer Seele zog. Der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Sie war einlullend und betörend. So sehr, daß sie ihr erliegen wollte. Erliegen mußte. Es war ein Zwang, der mit jedem Herzschlag wuchs.
Dann sah sie sie. Die beiden Leiber, die sich im Klang der Musik wanden. Mit jeder Tonfolge auf- und abglitten. Sich immer wilder aufbäumten.
Sybille spürte Verlangen auch in ihrem Schoß. Sie wollte teilhaben an alledem.
Die beiden vereinten Gestalten verwandelten sich. Eine dritte kam hinzu, formierte sich aus dem Nichts. Sybille meinte Tino zu erkennen. Doch ein Schrei entbrannte ihrer Kehle. Ihrer Seele. Tinos nackte Gestalt war zwar noch menschlich, aber sein Gesicht nicht mehr. Seine rot glühenden Augen leuchteten unselig in der Dunkelheit. Er stieß wütende, schrille Pfeiflaute aus, die sich in die Tonfolgen mischten, die immer lauter wurden und ihre Harmonie verloren. Es war kein Gleichklang mehr. Eher ein gegeneinander Anspielen. Sybille starrte Tino an. Oder das, was noch von ihm übriggeblieben war. Er war mit einem Satz bei den beiden Gestalten. Kam über sie... in sie. Serafina stieß einen lustvollen Laut aus, als sich ihre beiden Liebhaber ihrer bemächtigten.
Sie wurden eine perfekte Dreisamkeit.
Sybille wollte sich regen, auf die Liebenden zutreten. Doch die Musik hielt sie... bannte sie... bildete einen Schutzwall um die drei Leiber. Sybilles Augen weiteten sich, als sie die Verwandlung erblickte, die sich vor ihr vollzog. Auch Mephistos Züge formten sich neu – in einen gewaltigen Rattenschädel. Zwischen den beiden animalischen Wesenheiten schimmerte Serafinas helle Weiblichkeit. Die beiden Rattenböcke beugten sich über ihren wohlgeformten Frauenkörper. Machten ihn sich untertan und verbissen sich immer und immer wieder in ihm. Serafinas Stimme wurde schriller. Unmenschlicher. Und mit jeder Attacke, mit jeder heftigen Liebesbewegung in ihr verlor auch sie ihre alte Gestalt. Auf dem Gipfel der Erfüllung wurde sie zu einer harmonischen Mischung aus Rättin und Frau.
Wurde sie zu Mephistos Königin.

***

Sybille wußte nicht, wie lange sie regungslos dagestanden hatte. Die Bilder vor Augen, die sie an ihrem Verstand zweifeln ließen.
Sie dachte an den Moment, als die Musik ihren Höhepunkt erreicht hatte und abrupt abbrach. Als endlich wieder Stille eingetreten war, verschwanden die drei Gestalten. Von einer Sekunde auf die andere. Nur Serafinas Blut, das auf dem kalten Boden der Katakombe schimmerte zeugte noch von der gewaltigen Vereinigung.
Und nun endlich löste sich die Erstarrung in Sybille. Sie schrie. Schrie all ihre Angst, ihren Unglauben und ihren Zorn heraus. Wahnsinn griff nach den ersten Zellen ihres Hirns. Tastete sich vor, breitete sich efeugleich aus und ergriff schmarotzerhaft Besitz.
Sie taumelte an die Stelle, an der Serafina ihren letzten Blutstropfen verloren hatte, ging in die Knie und fuhr mit den Händen in hektischen Bewegungen durch das blutige Naß. Außer Sinnen roch sie an ihren Händen und leckte das Blut von ihnen ab.
Wirre Wortfetzen drangen dabei von ihren Lippen. Psalmgleiche Wortgebilde, die sie aus den Tiefen ihres Herzens holte.
Ein hämisches Lachen ließ sie herumfahren.
Sybille erstaunte es längst nicht mehr, als sie Serafina erblickte.
Dieses wunderschöne Antlitz, das ihr weiß wie Porzellan in der Dunkelheit entgegenstrahlte. Sybille streckte die Rechte aus, wollte die seltsam rosigen Wangen berühren und schrie auf, als sich Serafinas Augen veränderten.
Sie rot und tückisch anblitzten.
Auch Serafinas Gesicht veränderte sich. Wurde spitzer. Haariger. Ein furchterregendes Gebiß beherrschte das, was einst ihr Mund gewesen war. Dieser wunderschöne, geschwungene Mund, der nun der Rachen eines der Nager war, die Sybille verabscheute.
Sybille schrie erneut. Der panische Klang ihrer Stimme drang in verzerrten Echos zur ihr herüber.
Serafina oder das Wesen, das einmal Serafina gewesen war, trat auf sie zu.
Sybille taumelte einige Schritte zurück. Ihr Rücken schlug hart gegen die feuchte Felswand der unterirdischen Katakombe. Die Rättin, anders konnte sie sie nicht nennen, machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Streckte die Krallenhände nach ihr aus.
Sybille betete zu ihrem Gott. Zu SEINER Dreifaltigkeit, doch sie fühlte sich seltsam allein und verlassen. Es blieb still in ihr. 'Komm!' lockte Serafina. 'Es wird dir gefallen. In diesem unendlichen Reich. ER wird dir gefallen. Dir ewiges Leben schenken und dich Wonnen lehren, die du nie für möglich gehalten hast.'
Sybille konnte sich dem schmeichelnden Klang nicht entziehen, der den ersten Tönen jener Musik glich, die sie schon zuvor vernommen hatte. Sehnsucht entflammte in ihr. Sehnsucht dazuzugehören. Über Grenzen hinaus.
Sie machte den ersten Schritt...
... auf Serafina zu...
... in die Dunkelwelt...
Hinter Serafina erwuchs ein dunkler Schatten. Der nicht männlicher, nicht verlockender hätte sein können.
Sybille machte den nächsten Schritt, der nicht mehr zögernd, sondern fest und bewußt gesetzt war. Etwas Helles, Warmes zog sich bedauernd aus ihr zurück. Etwas Lichtes, das aus ihr herausfloß und von der Dunkelheit verschluckt wurde. Sybilles Blut klopfte heftig in ihren Schläfen, rauschte erwartungsvoll in ihren Adern und pulsierte ihm entgegen.
Und dann hörte sie sie... die Rattenarmee, die er wieder zusammengerufen hatte, auf sich zueilen. Sah die Jünglinge mit ihren Irrlichter-Augen. Hörte ihr erregtes Fiepen... wie immer, wenn es an der Zeit war ihren Blutdurst zu stillen... ein neues Mitglied ihrer Gesellschaft willkommen zu heißen.

05. Aug. 2006 - Jörg Kleudgen

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