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Loslassen
von Thorsten Schweikard

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

SUN QUEST
U. Zietsch
5 Beiträge / 3 Kurzgeschichten vorhanden
Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/

Eine Story zur Serie "SunQuest"



Sarlis zerrte am rechten Vorderrad der Kutsche, unter das Plonte geraten war. Der kleine Laufvogel hatte großes Glück gehabt. Er steckte genau zwischen Nabe und Radkranz fest. Zwei Klauenspannen maß die Distanz, die ihn davor bewahrt hatte, erschlagen zu werden.
Endlich, nach weiterem Ziehen und Drücken gab das Rad nach und Plonte war frei. Er zirpte freudig und umtänzelte seine Herrin.
»Jetzt werden wir die Reise wohl zu Fuß fortsetzen müssen, oder was meinst du?« Die Adeptin tätschelte den Hutar. Er verfügte über genügend Intelligenz, ihre Worte zu verstehen und wippte zustimmend mit dem Kopf. Dann pfiff er, etwas hatte sein Interesse erregt – die Leiche des Kutschers. Der Vogel hüpfte zu dem Toten und pickte nach der silbernen Medaille, die den von einer Schrotladung durchschlagenen Brustharnisch zierte.
»Lass das!«, befahl Sarlis scharf. Sogleich ließ der Vogel von dem Leichnam ab und zwitscherte schuldbewusst.
Die Adeptin hielt sich am Kutschbock fest und hievte sich hoch. Plötzlicher Schwindel erfasste sie. Für einen Moment fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren, aber sie konnte sich halten.
Sie ließ ihren Blick schweifen.
Kein Leben mehr um sie herum. Die Passagiere der umgestürzten Kutsche waren entweder herausgeschleudert worden oder lagen zusammengesunken im Wrack. Zwei Menschenfrauen, drei Männer, zwei Uriani. Das Gesicht einer Frau zeigte immer noch Erstaunen, ihr rechter Arm war ausgestreckt, wies auf den reglosen Körper ihres Partners, der mit verrenkten Gliedern und gebrochenem Genick direkt vor ihr lag. Als würde sie sich noch im Tod an unvollendete Lebenspläne klammern.
Und da waren die Leichen der Jäger, ein halbes Dutzend echsenartiger Kuntar, Artgenossen von Sarlis. Damit erschöpften sich jedoch die Gemeinsamkeiten. Bei den schwarz Uniformierten handelte es sich um grausame Krieger: Kriggets!
Nicht nur Intelligenzwesen hatte es getroffen. Die Reittiere der Kriggets waren ebenso verendet wie die vier Lhasas, welche die Kutsche gezogen hatten. Genauso wenig hatte das Phänomen vor Pflanzen Halt gemacht. In einem Umkreis von zehn Mannslängen waren das Gras gelb geworden, die Farne, das Laub der Bäume. Ein Blatt wehte Sarlis vor die Füße. Sie bückte sich, um es aufzuheben, aber es zerfiel bei Berührung.
»Bei den Göttern …«, sagte sie in die Stille hinein. »Selektivität war nie eine einfache Aufgabe. Aber das … Kann es dafür irgendeine sinnvolle Erklärung geben?«
Die Adeptin brummte skeptisch und stupste einen der Kriggets mit dem Fuß an. Es knackte vernehmlich im Hüftbereich des Toten, als einer der morsch gewordenen Knochen barst. Auch hier trat der Zerfall bereits ungewöhnlich früh ein.
»Wenn es einen guten Zeitpunkt gibt, das Loslassen zu verfluchen, dann jetzt!«, bemerkte Sarlis und blickte hilflos zu Plonte, der neugierig zwischen den Leichen herumstolzierte. »Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?«

Szenentrenner


Hätte sich das Unheil vermeiden lassen? Freilich. Sarlis hätte sich schlicht von der Gilde nicht nach Redunn-Lia schicken lassen sollen, mit dem Auftrag herauszufinden, warum der Kontakt dorthin gänzlich abgerissen war. So hätte die Adeptin niemals erfahren, dass die Stadt von Kriggets erobert worden war, die plünderten, Kinder entführten und Widerstand brutal niederschlugen. Sie hätte auf diese Weise auch vermieden, entdeckt zu werden und fliehen zu müssen. Ihr Reittier hätte unterwegs nicht gelahmt und sie wäre niemals auf die Idee gekommen, die zufällig vorbeikommende Kutsche zu stoppen, um nach Burundun mitgenommen zu werden.
Eine im Prinzip recht simple Vermeidungsstrategie – vorausgesetzt man verfügte über hellseherische Fähigkeiten. Da Sarlis dergleichen nicht beherrschte, war die Kette von Ereignissen unaufhaltsam in Gang gesetzt worden, sobald sie Redunn-Lia erreichte. Einschließlich des Jagdkommandos, das man offenbar hinter ihr hergeschickt hatte, sie einholte und die Reisegesellschaft ohne Vorwarnung attackierte. Sie hatten keine Chance gehabt.
Dennoch hatten die Kriggets sträflichen Leichtsinn walten lassen. Sich mit einer Gegnerin wie Sarlis messen zu müssen, schienen sie nicht im Rahmen der Möglichkeiten gesehen zu haben. Allzu forsch hatten sie sich dem Wrack genähert, im Glauben, ihrer Beute bereits sicher zu sein.
Sarlis hatte den Überschlag der führerlosen Kutsche nahezu schadlos überstanden. Die Kriggets bezahlten für ihren Angriff, als die Psimagie der Adeptin ausbrach – ihre Gabe, Lebewesen den Tod zu bringen. Allerdings lief es nicht ganz so wie beabsichtigt. Sarlis war keine Zeit geblieben, sich ausreichend zu konzentrieren. Sie hatte im Eifer des Gefechts zu stark losgelassen und alles in ihrer Umgebung mit ausgelöscht.
Nur Plonte hatte es überlebt, Hutar waren immun gegen das Loslassen.
Sarlis musterte erneut die Leichen der Kriggets. Ob sie von ELIUM stammten? Immer wieder geisterte der Begriff durch das Bewusstsein der Adeptin. Schon in der Vergangenheit hatte er für Gefahr gestanden. War geschehen, wovor die Gilde der Wissensträger sich mehr als alles andere fürchtete? War der Gigant aus dem dunklen Land Gadeth erwacht?
Die Toten konnten ihr keine Antwort mehr darauf geben.
Dennoch musste die Gilde umgehend vor einer möglichen Gefahr durch ELIUM gewarnt werden. Ohne Transportmittel würde dieses Unterfangen jedoch mehr Zeit in Anspruch nehmen, als sich Sarlis erlauben konnte.
Sie schob die fruchtlosen Überlegungen beiseite. Sie diente der Gilde seit einer gefühlten Ewigkeit und ihr war bewusst, dass sich das selbstverschuldete Missgeschick dadurch nicht rückgängig machen ließ. Ihr falsches Handeln sich und der Gilde gegenüber zu rechtfertigen musste auf später verschoben werden. Nur rasches Handeln konnte weitere Opfer vermeiden. Es galt, so schnell wie möglich Burundun zu erreichen.
Sie trat einen Schritt von der Kutsche weg. Sofort kehrte das Schwindelgefühl zurück. Sie verharrte einen Moment in der Hoffnung, es würde vergehen. Aber es verging nicht, es wurde schlimmer.
»Etwas stimmt mit mir nicht«, murmelte sie.
Sie zog ihren Dolch. Er blieb am Futteral hängen. »Tollpatsch!« Sie zerrte an der Waffe. Dann lag sie sicher in ihrer Echsenhand. Sarlis setzte die Klinge am Arm an und ritzte ihn. Blut troff aus der Wunde, sammelte sich, rann über die Schuppen und … verfestigte sich in Windeseile. Zu schnell, um dem natürlichen Gerinnungsprozess zu unterliegen. Der Dolch entglitt Sarlis und fiel ins tote Gras.
Schwäche und heftige Übelkeit griffen nach ihr. Ehe sie sich versah, strauchelte sie, stolperte über das Gewehr eines der Kriggets und fand sich auf der Erde wieder. Grashalme zerfielen beim Aufprall zu Staub, der vom Wind in kleinen Wolken weggeweht wurde.
Mit brutaler Deutlichkeit wurde Sarlis bewusst, dass ihre Stunde geschlagen hatte.
»Sieht so aus, als ginge es mir ziemlich schlecht«, erklärte sie dem herbeigehüpften Hutar mit zittriger Stimme. Sie rollte sich zusammen und schrie ihr Leid hinaus, während Plonte eine klagende Melodie pfiff.

Szenentrenner


Als Sarlis wieder zu sich fand, tauchte das federbesetzte Haupt des Hutar in ihrem Gesichtsfeld auf. Er klapperte besorgt mit dem Schnabel.
»Schon gut«, beruhigte sie ihn. »Manche Dinge sind leider notwendig. Diese Lektion enthalten sie einem bei der Gilde allerdings vor.«
Sie fühlte etwas Kaltes in ihrer Hand und griff zu. Ein Apfel. Plonte musste irgendwo einen Baum gefunden haben, der gerade Früchte trug.
Sie versuchte ein anerkennendes Runzeln der Stirn. Es gelang nur mit Mühe. Sie fühlte sich elend und konnte die Tatsache nicht länger ignorieren, dass sie von dem unkontrollierten Ausbruch ihrer Psimagie nicht verschont worden war. »Das ist lieb von dir. Aber ich befürchte, das ist nicht mehr hilfreich. Ich werde mein Ungeschick wohl ebenfalls mit dem Leben bezahlen.«
Das Tier verstand diese Worte sehr genau. Es spreizte die Stummelflügel und keckerte ablehnend.
»So leid es mir tut, aber unsere Wege trennen sich hier. Du bist ab jetzt auf dich allein gestellt. Es gibt nur noch eine Sache, die du für mich tun musst.« Sarlis wählte mit Absicht einen harten Tonfall, denn Plonte konnte sehr widerspenstig sein. Doch er musste unbedingt gehorchen, das war ihre letzte Chance, wenigstens den Auftrag noch zu erfüllen. Sie ließ den Apfel los und versuchte sich aufzurichten. Erst nach einer Weile konnte sie sitzen. Sie verharrte erschöpft, während ihr Begleiter sie mit schräg gelegtem Kopf unverwandt anstarrte und ab und zu mit dem Schnabel klapperte.
»Bist du bereit, etwas für mich zu tun?«
Plonte wippte mit dem Kopf, allerdings mit sichtlichem Widerwillen.
Die Adeptin griff nach ihrem Brustbeutel und leerte ihn aus. Sie suchte nach dem Pergament, das sie während ihrer Beobachtungen in Redunn-Lia angefertigt hatte. Sie adressierte es an den Archivvorsteher Mun, steckte es in den Beutel und verschloss diesen sorgfältig.
»Achte genau auf meine Worte.« Sie sprach langsam und eindringlich. »Du musst dich nach Burundun durchschlagen. Finde einen Archivwächter. Überbringe ihm meine Aufzeichnungen! Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Bibliothekare erfahren, was in Redunn-Lia vor sich geht. Hast du mich verstanden, Plonte?«
Der Vogel stand geraume Zeit mit offenem Schnabel da, so als müsse er das Gehörte erst rekapitulieren. Schließlich zirpte er, senkte den Kopf und stelzte zu Sarlis. Sie streifte ihm die Brusttasche über den Hals, legte sie über seinen Rücken und schlang den Tragegurt mehrmals vorsichtig um den Bauch, sodass Plonte weder in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, noch die Tasche unterwegs verlieren konnte. Anschließend wies sie ihm die Richtung, in die er sich wenden musste, um nach Burundun zu gelangen.
»Und jetzt lauf! Lass dich von niemandem aufhalten! Halte dich von anderen fern!« Sie stockte kurz. »Sieh zu, dass du durchkommst, mein kleiner treuer Freund!« Sie streichelte über das Gefieder des Vogels, der ihr Wegbegleiter gewesen war, seit er aus dem Ei schlüpfte. Sie hatte sich seiner angenommen, nachdem seine Eltern den frisch Geschlüpften aus dem Nest gestoßen hatten.
Dann wandte sich Sarlis von ihm ab und schloss die Augen. Eine unmissverständliche Geste, dass alles gesagt war und sie sich in ihrer Entscheidung nicht umstimmen ließ. Sie reagierte weder auf sein bettelndes Fiepen noch die sachten Schnabelstupser, widmete ihm auch keine Aufmerksamkeit, als sie das Scharren seiner Füße hörte. Es wurde leiser, stoppte, ertönte wieder. Als es endgültig verklang, erschallte aus der Ferne klagendes Zwitschern.
Auch das verstummte bald. Plonte war fort.

Szenentrenner


Das Laub fiel in Massen. Ein Ast brach. Die Welt zerfiel, aber das wärmende Licht der Sonnen brach sich Bahn durch die kahler werdenden Baumkronen.
Sarlis lag auf dem Rücken. Ihre Lebenskraft schwand. Sie fühlte den nahenden Tod.
Aber eines wollte sie noch tun.
Unter größter Willensanstrengung wälzte sie sich auf den Bauch, wuchtete sich hoch und stützte sich auf Hände und Knie. Mühsam schleppte sie sich vorwärts, Schritt um Schritt, sackte zusammen, richtete sich wieder auf, kroch weiter. Mit letzter Kraft zog sie sich aus der Zone der Leblosigkeit, hinein ins Grün, dorthin, wo das Laub nicht fiel, wo die Farne dufteten und die Stauden der Zapfenbüsche in voller Blütenpracht standen. Dorthin, wo sie loslassen durfte.

26. Okt. 2009 - Thorsten Schweikard

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