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Startseite > Kurzgeschichten > Rainer Innreiter > Düstere Phantastik > Stille Tage, stille Nächte

Stille Tage, stille Nächte
von Rainer Innreiter

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Mit offenem Mund stand das Mädchen da und bestaunte das Wunder: Ein dünner Lichtstrahl hatte die Wolkendecke auf unerklärliche Weise durchbohrt und bildete einen hellen Lichtkegel in der trostlosen Landschaft. Doch so unvermittelt der Sonnenstrahl aufgetaucht war, so rasch musste er der Gewalt der dichten Aschewolken weichen. Brigitte wartete noch einige Minuten, ob sich das Mirakel wiederholen würde.
Aber unerbittlich hingen die monströsen, grauen Wolken wie Schlachtschiffe in der Luft, heimtückisch alles Leben auf Erden mordend. Zögernd verließ Brigitte ihren Unterschlupf, eine Garage, die noch stehen geblieben war. Das elektrische Tor funktionierte natürlich nicht mehr auf Knopfdruck. Doch dank einer Kurbel konnte man es manuell von innen schließen. Eine Notwendigkeit, da die Ratten in letzter Zeit aggressiver wurden. Sie hatten instinktiv bemerkt, dass sie die neuen Herrscher des Festlandes geworden waren, nachdem ihr tödlichster Feind das Fegefeuer über die Welt gelegt und sich selber vernichtet hatte.
Vorsichtig spähte Brigitte nach den Nagern. Kalte, staubige Windstöße stoben wie das verhaltene Echo der entfesselten Urgewalten vor mehreren Monaten über das verdorrte Land. Ihre nackten Füße eilten über die erstorbenen Äcker, wo einstmals die Ähren riesiger Weizenfelder im Takt des Windes sanft hin- und her geschwungen waren. Ein paar Baumstümpfe zeugten von glücklicheren Tagen. Tage, als das Leben in üppigen Variationen selbst die kleinste Nische besetzt hatte.
Wie still es geworden ist, ging es Brigitte einmal mehr durch den Kopf. Kein Laut erfüllte die strahlenverseuchte Luft.
Seit Wochen hatte sie keinen lebenden Menschen mehr gesehen. Ihre Eltern waren vermutlich an ihren Arbeitsplätzen in der Stadt getötet worden und von ihrem Bruder, der in München studierte, hatte sie auch nichts mehr gehört.
Wie auch?
Die Infrastruktur war mit einem Schlag zusammengebrochen. Ab und zu versuchte sie mit einem Weltempfänger, den sie in einem der Nachbarhäuser gefunden hatte, Radiostationen zu erreichen.
Vergeblich.
Allein. Sie war allein gelassen in einer toten Welt.
Ein quiekendes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken blickte sie sich um. Eine Ratte, so groß wie ein junges Kätzchen, lief über den schwarzen Acker. Wie versteinert blieb Brigitte stehen. Gott sei Dank, die Ratte kümmerte sich keinen Deut um sie! Mit zitternden Gliedern lief Brigitte weiter, bis sie den Supermarkt erreichte.
Erschöpft blieb sie auf dem Parkplatz stehen. In den Parkbuchten drängten sich von einer dicken Ascheschicht bedeckte Autos nebeneinander, auf Fahrer wartend, die niemals kommen würden. Obwohl sie wusste, dass sie ihre Lungen nur weiter mit dem Staub des Todes füllte atmete Brigitte tief ein, ehe sie das Gebäude durch den Eingang betrat, dessen Kunststofftüren durch den Druck der Explosion zersprungen waren.
Im vorderen Teil des Marktes herrschte totales Chaos: Die Regale waren durch die Wucht der Detonation wie Papierhüte umgefegt worden und hatten ihren Inhalt wahllos über den Boden verteilt. Vorsichtig stieg Brigitte über Hundertschaften an Dosen, zerplatzten Beuteln mit Fertigprodukten und Senftuben hinweg, um zu den hinteren Regalreihen zu gelangen, wo sie sich seit Wochen mit Essbarem versorgte. In einer riesigen, eingetrockneten, stinkenden Tomatenmarkpfütze hinterließ sie einen Fußabdruck.
Auch hier war die Stille geradezu gespenstisch. Früher hatte man das Gemurmel der Menschen vernommen, das Surren der Tiefkühltruhen, die gerade wegen ihrer Unaufdringlichkeit nervige Hintergrundmusik, das leise ratt-ratt der Ventilatoren im Sommer, das protestierende Gebrüll von kleinen Kindern, deren Wünsche von ihren Eltern einfach ignoriert wurden. Brigitte lächelte bei dem Gedanken an Menschen. Lebende Menschen.
Das Obst und Gemüse war natürlich längst verfault, aber die meisten abgepackten Lebensmittel konnte sie noch ruhigen Gewissens essen, zudem die Kälte den kleinen Supermarkt in eine riesige Kühlhalle verwandelt hatte.
In den Spiegeln der Obsttheke, die das Angebot auf einfache, aber effektive Weise größer erscheinen lassen sollten, erblickte sie ihre ausgezehrte Gestalt. Fast das gesamte Kopfhaar und die Augenbrauen hatte sie bereits verloren. Überall im Gesicht und an den nackten Armen hatte sie braune Flecken, als würde sie verfaulen wie ein Apfel. Ihre dünnen Lippen kräuselten sich zu einem wehmütigen Lächeln. Die Zahnlücken wurden immer größer. Aber diesmal würden keine neuen, kräftigeren Zähne nachrücken.
Sie zuckte mit den Achseln und wandte sich ab, um aus den Regalen Lebensmittel zu nehmen. Am nächsten Tag würde sie mit einem Fahrrad wiederkommen, das irgend jemand am Straßenrand stehen gelassen hatte, und damit Mineralwasserflaschen nach Hause transportieren. Die meisten Glasflaschen hatten die Katastrophe nicht überstanden. Eine Plastikflasche jedoch hielt fast jeglicher Unbill stand.
Sie hatte Durst und öffnete eine Coladose. Als sie den Verschlussring mit dem Daumennagel weit genug nach oben lupfen wollte um mit dem Finger drunter zu kommen, brach der Nagel ab. Im ersten Augenblick starrte sie den Daumen verblüfft an; dann fing sie zu lachen an. Ihr Bauch schmerzte und im Hals bildete sich ein dicker Kloß, aber sie konnte sich nicht mehr beruhigen und lachte und lachte…
Die Dose fiel ihr aus den Händen und krachte mit einem dumpfen Geräusch auf den Linoleumboden auf. Als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, beugte sie sich nach vorne, um die die Dose aufzuheben. Dabei verlor sie fast das Gleichgewicht und stützte sich mühsam mit den Händen an dem Regal auf. Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft und sie erbrach sich auf eine Palette Diät-Schokoriegel. Keuchend atmete sie die kühle Luft ein und wischte mit dem rechten Handrücken zähe Speichelfäden weg.
Es kostete sie enorme Kraft, sich wieder aufzurichten. Das Gefühl des Schwindels wurde wieder stärker. Vielleicht sollte sie sich besser nach Hause begeben und schlafen? Ungeschickt, als wäre sie ein Kleinkind, das erst die Fähigkeit des Gehens erlernen musste, tappte sie den dunklen, weiß gekalkten Gang entlang.
„Mami!“, rief sie stöhnend.
Aber sie wusste, dass niemand kommen und sie umsorgen würde. Niemand würde sie tröstend in die Arme nehmen, ihr Medikamente gegen das Fieber verabreichen, Kamillentee mit Honig zubereiten, ihr sanft über die Stirn streichen und sie küssen.
Ihr Atem ging jetzt rasselnd und sie blieb neben einem Regal stehen, in welchem Haushaltswaren feilgeboten worden waren. Mit den Händen strich sie sich durch das nicht mehr vorhandene, einstmals dichte lange Haar, das sie altmodisch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, früher, als noch Dinosaurier die Welt beherrschten, wie es ihr schien. Sie blickte aus dem Fenster. Ruinen, Schlackehaufen, Straßen, deren Asphalt sich wie in Todeszuckungen aufgebäumt hatte und zu bizarren Gebilden mutiert war. Autos, die auf ihren Dächern lagen. Ein Kinderwagen lehnte an einer eingestürzten Hausmauer. Und über all dem Inferno thronten schwarze, undurchdringliche Aschewolken, die das Licht der Hoffnung auf einen Neubeginn raubten und alles Leben unter sich erstickten.
Irgendwo hörte sie das Gezeter von Ratten, die sich vermutlich um etwas Essbares stritten. In aller Geduld hatten diese Tiere ihren großen Tag im Untergrund erwartet. Und waren reich belohnt worden – mit der Herrschaft über das Land. Die Tage des Dunkels und des Versteckens waren für sie endgültig vorbei. Ihre Heerscharen würden das Fleisch der letzten Menschen von den Knochen reißen und verschlingen.
Brigitte schluckte. Ihr Hals war trocken und schmerzte fürchterlich. Sie sah auf die andere Seite. Ein digitaler Wecker zeigte, von einer Batterie gespeist, tapfer die Uhrzeit an. Es war kurz nach 1 Uhr Nachmittag. Plötzlich musste Brigitte husten. Bluttropfen spritzten gegen das Plastikgehäuse des Weckers. Das Datum zeigte den 24. Dezember an. Brigitte rang sich noch mal ein Lächeln ab.
„Öhliche Eihnachten“, krächzte sie, hustete erneut, verlor den Halt und fiel der Länge nach zu Boden. Bevor sie das Bewusstsein verlor, fühlte sie etwas tröstend Warmes, kuschelig Pelziges ihren Arm entlangstreichen.

20. Dez. 2009 - Rainer Innreiter

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