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Das Weihnachtslicht von Fabienne Siegmund
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Du musst einen Kürbisgeist finden.
Das waren die Worte gewesen, die Lucky Lucy mir zugeflüstert hatte. Lucy mit ihren braunen Locken, zu der dieser Name gar nicht passen wollte. Aber so hieß sie. Und ich liebte Lucky Lucy.
Einen Kürbisgeist? Spott hatte sich ungewollt in meine Stimme geschlichen.
Ja, fauchte sie.
Aber wir haben Dezember, warf ich ein. Lucy schenkte mir einen entnervten Blick, der besagte, dass sie dies wusste. Kürbisgeister lebten nur in der Nacht zu Halloween, wenn in ausgehöhlten Kürbissen Gesichter zum Leben erwachten. Im Dezember gab es nur Weihnachten, das heißt das gab es nicht, und genau das war Lucys Problem. Sicher, die Einkaufsstraßen waren mit Lichterketten geschmückt, in den Schaufenstern glitzerten Weihnachtsbaumkugeln und vieles mehr. Aber es war nicht richtig. Es fühlte sich nicht wie Weihnachten an. Es war nicht kalt. Die Luft roch nicht nach Zimt, Anis und Lebkuchen. Keine feierliche Stimmung kam auf, wenn Little Drummerboy oder Silent Night durch Lautsprecher hallten. In den Herzen der Menschen war keine Weihnacht. Lucky Lucy wusste das, sie hatte es vom ersten Moment an gespürt. Es ist nicht richtig, sagte sie, blass und starr vor Schreck. Es brennt kein Weihnachtslicht. Es fehlt. Ganz fest hatte sie mich angesehen und gesagt: Du musst das Licht zurückbringen, Andy. Und ich hatte genickt, obwohl ich kein Wort von dem verstand, was sie gesagt hatte. Aber ich liebte sie.
Was soll ich tun?, fragte ich, und Lucy tat, was sie immer tat, wenn sie auf eine Frage keine Antwort wusste. Sie holte einen Stapel Karten aus ihrer Jacke. Die große Arkana aus dem Tarot. Ich habe sie gefunden, hatte sie gesagt, und Sie geben mir alle Antworten. Sie fächerte die Karten auf und ließ mich eine ziehen. Es war ein Spiel zwischen uns, an das sie glaubte und ich nicht. Obwohl Lucy nicht müde wurde, mir zu sagen, wie oft die Karten Recht gehabt hatten.
Ich zog. Der Wagen. Ich würde also gehen. Was, wenn ich es nicht schaffe? Eine Frage, die ich immer stellte. Eine Absicherung. Vielleicht würde die Karte sagen, dass es ganz egal wäre, was ich tat. Tat sie natürlich nicht. Karten sind nicht so. Ich nahm eine zweite.
Lucky Lucys Augen weiteten sich vor Entsetzen. Der Turm. In ihren Augen die schlimmste aller Karten, weil sie für Zerstörung stand. Der Tod machte ihr keine Angst. Es geht nur etwas zu Ende, und etwas Neues beginnt, flüsterte sie. Aber den Turm den fürchtete sie.
Ich gehe, sagte ich, und dann ging ich. Lucy folgte mir nicht und ich war froh darüber. Sie ließ mich zu ihrem Helden werden, der alles gut machen würde. Dazu waren Helden da.
Plötzlich kamen doch Schritte hinter mir her, und als ich mich umdrehte, lief Lucy auf mich zu. Hier, rief sie, nimm die Karten mit. Sie werden dir helfen. Und schon drückte sie mir den Stapel in die Hand und hauchte mir einen warmen Kuss auf die Wange. Dann wandte sie sich ab. Ich aber machte mich auf die Suche nach einem Kürbisgeist.
Ein Mann lief vor mir durch die Nacht, sein Gang war schwerfällig. Als er meine Schritte hörte, drehte er sich um und wisperte: Die Kürbisgeister sind dort, wo Halloween schläft, mein Junge. Dann stieß er ein ersticktes Lachen aus und wankte fort. Verwundert lief ich weiter. Woher wusste der Mann von meiner Suche? Und wo schlief Halloween? Für einen Moment überlegte ich die Karten zu fragen, aber sie konnten wohl kaum Ortsnamen in London zur Antwort geben. Doch als ich weiterging, wusste ich, wo Halloween schlief. Ich brauchte eine Gärtnerei. Lucy hatte mir mal von einer erzählt, die nicht mehr war als ein Hinterhof. Ich lief schnell und kletterte über eine Mauer, hinter der mich ein kleines Paradies aus buntem Grün erwartete, sorgsam verborgen unter schützendem Glas von vielen kleinen Gewächshäusern. Vorsichtig ließ ich mich in den Garten gleiten und sah mich um. Ich zündete ein Sturmfeuerzeug an, das ich mal gefunden hatte. In einem der Glashäuser schimmerte es im Schein der Flamme orange und als ich eine Fensterplatte vorsichtig hochschwingen ließ, sah ich Kürbisse. Keiner von ihnen hatte ein Gesicht und alle waren noch sehr klein aber es gab für mich keinen Zweifel, dass ich den Ort gefunden hatte, an dem Halloween schlief. Schnell schnappte ich mir einen faustgroßen, orange leuchtenden Kürbis, schloss das Fenster wieder und verließ den Garten. Dann rannte ich, bis ich die Themse sah und mein Blick auf Big Ben fiel. Erst dort hielt ich an. Mit meinem Taschenmesser höhlte ich den Kürbis aus, gab ihm ein Gesicht. Als ich zufrieden war, nahm ich abermals mein Feuerzeug und stellte es in den Kürbis, wo es unruhig flackerte. Dann wartete ich. Hoffte, dass ich einen Kürbisgeist gefunden hatte. Irgendwann erfüllte ein Rauschen die Luft und die Züge des Kürbisgesichtes begannen, sich zu bewegen. Eine unwirsche Stimme erklang: Es ist der falsche Tag.
Die Feuerzeugflamme begann wild zu flackern und drohte auszugehen, da sagte ich eilig: Ich brauche Hilfe. Die Flamme stand still. Was willst du? Heute ist nicht Halloween, oder? Ich dürfte gar nicht hier sein.
Ich nickte, dann erzählte ich dem Kürbisgeist von dem seltsamen Dezember, von Lucky Lucy und ihrer Vermutung, das Weihnachtslicht wäre fort. Der Kürbis schwieg. Nach einer halben Ewigkeit antwortete er schließlich: Du musst in der Vergangenheit finden, was in der Gegenwart fehlt, damit die Zukunft sein kann. Und kaum waren diese Worte verklungen, flackerte die Feuerzeugflamme. Ich flüsterte einen Abschiedsgruß, ich wusste nicht warum, und als ich geendet hatte, war der Kürbis wieder nur ein Kürbis. Ich fischte nach dem Feuerzeug und steckte es in die Tasche.
Du musst in der Vergangenheit finden, was in der Gegenwart fehlt so hatte sich der Kürbis ausgedrückt. Ich wünschte, Lucy wäre hier, sie hätte diese Worte bestimmt verstanden. Unwillkürlich griff ich an meine Jackentasche. Sie war hier! Ich hatte ihre Karten. Rasch zog ich sie hervor, fächerte sie auf und nahm eine aus der Mitte.
Die Liebenden.
Mit einem Lächeln steckte ich die Karten wieder ein. Ich wusste, wo ich weitersuchen musste. An dem Ort, an dem ich Lucky Lucy zum ersten Mal getroffen hatte.
St. Pauls Kuppel schimmerte im Mondlicht. Hier war ich Lucky Lucy begegnet, erst vor ein paar Tagen, die mir vorkamen, als wären sie mein ganzes Leben. Sie stand vor der Tür. Wir hatten uns einander vorgestellt und Lucy hatte gesagt: Ich wollte eine Kerze anzünden. Das mache ich an jedem ersten Dezember. Damit Weihnachten beginnt. Aber die Kirche ist zu. Schon in diesem Moment hatte ich sie geliebt.
Aber das war jetzt egal. Ich stand vor St. Pauls, mit einer erloschenen Kürbislaterne in der Hand und wartete. Etwas würde geschehen. Und schon im nächsten Moment tauchte oben an der Tür ein Bild von Lucy auf. Ihr Gesicht war blass. Ich selbst war nicht da, auch wenn ich genau wusste, dass es der Tag war, an dem wir uns getroffen hatten. Ich sprang auf Lucky Lucy zu, doch sie sah mich nicht. Ein kalter Hauch streifte mich. Ich musste an die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens denken. Der Geist der vergangenen Weihnacht. Ich hörte, wie das Bild von Lucy murmelte: Die Tür war zu. Ich komme nicht rein. Es ist vorbei. Dann verschwand ihre Gestalt und ich begriff. Lucy hatte das Weihnachtslicht nicht angezündet.
Mit raschen Schritten lief ich die Stufen zur Tür hoch und rüttelte an der Klinke. Sie war verschlossen. Ich zog die Karten hervor, zog eine.
Der Mond.
Mit grimmiger Entschlossenheit nahm ich die Entscheidung zur Kenntnis. Ich musste hinein. Mein Taschenmesser öffnete mir die Tür, die ich leise öffnete. Ich bekreuzigte mich in eine Kirche brach man nicht alle Tage ein. Dann schlich ich zu den Opferkerzen. Wie immer brannten viele, aber die brennenden Lichter interessierten mich nicht. Ich eilte zu der Kiste mit den neuen Kerzen und nahm eine heraus. Ich wollte mich schon auf den Weg machen, die Kathedrale wieder zu verlassen, da vernahm ich eine leise Stimme: Sie hat keine angezündet.
Erschrocken drehte ich mich um, doch ich konnte nichts entdecken. Aber wieder sagte jemand: Sie war einfach nicht hier. Ein kalter Hauch berührte mich an der Wange und ich blickte mich erschrocken um. Ein Mann stand neben mir. Alt. Grau durchschimmernd. Wieder schoss mir Dickens durch den Kopf der Geist der gegenwärtigen Weihnacht eben.
Der Geist schenkte mir ein Lächeln. Wie ist dein Name?, fragte er.
Andy, antwortete ich, und fragte: Kann Lucy das Licht noch anzünden?
Selbstverständlich. Noch ist es nicht zu spät. Erst am Sechsten ist es vorbei.
Ich strahlte. Wenn ich nicht irrte, hatte ich in der Vergangenheit gefunden, was in der Gegenwart fehlte und die Zukunft brauchte. Lucy musste nur das Licht anzünden.
Weißt du, wo sie ist?, fragte ich den Geist. Irgendwie ahnte ich, dass er es wusste.
Geh zum Auge von London. Mehr kann ich dir nicht sagen. Und schon schwand er und ich verließ St. Pauls, rannte zurück zur Themse, überquerte die Brücke am Westminster Palace laufend und rannte weiter, bis ich vor dem Riesenrad stand, das die Welt Londons Eye nannte. Wenn es nach Dickens ging, würde ich den Geist der zukünftigen Weihnacht treffen. Geschichten folgen schließlich immer einem Muster. Und das Leben war nichts anderes als eine davon.
Tatsächlich regte sich am Ufer eine Gestalt. Kam langsam auf mich zu. Kein Geist. Lucky Lucy. Stumm hielt ich ihr Kerze und Feuerzeug hin. Lucy schüttelte den Kopf, schenkte mir ein trauriges Lächeln das Erste, dass sie mir jemals schenkte Ich kann es nicht mehr. Ihr Lächeln verlor sich in der Nacht.
Doch, du kannst. Bis zum Sechsten ist noch Zeit. Der Geist hat es mir gesagt.
Sie schüttelte den Kopf. Mein Zauber ist verloren. Ich habe die Kürbisgeister nicht gehen sehen. Sie gingen ohne einen Gruß, und so habe ich keinen Zauber mehr.
Warum hast du sie nicht gesehen?, fragte ich.
Lucky Lucy zuckte mit den Schultern. Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.
Ich dachte daran, dass ich den Kürbisgeist verabschiedet hatte.
Warum hast du nichts gesagt?, fragte ich.
Weil ich Angst hatte. Wenn man Dingen einen Namen gibt, werden sie wahr. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich das Weihnachtslicht verloren hatte, obwohl ich wusste, dass es geschehen war, als ich nicht in die Kirche kam. Sonst ging es immer. Sie sah mich traurig an.
Wie wird es weitergehen?, flüsterte ich.
Zieh eine Karte.
Ich tat, wie geheißen.
Der Tod.
Siehst du, flüsterte Lucky Lucy, etwas Neues beginnt.
Aber es endet etwas Altes.
Lucky Lucy, zu der der Name immer noch nicht passte, sah zum Wasser hinab. Dann küsste sie mich so unvermittelt, dass ich ihre Wärme erst auf meinen Lippen spürte, als sie sich schon von mir gelöst hatte. Als ich über sie hinweg sah, erkannte ich einen Mann, der zuvor nicht da gewesen war. Er trug Bluejeans und eine schwarze Lederjacke. Stechend blaue Augen suchten Lucys Blick.
Ich muss jetzt gehen, flüsterte sie und ich wusste, dass der Mann, wenn es nach Dickens ging, der Geist der zukünftigen Weihnacht war. Der, der mir Lucy wegnahm.
Zünde das Licht an, Andy, wisperte sie.
Warte!, rief ich und stellte eine letzte törichte Frage: Warum heißt du Lucky Lucy? Ich habe dich nie glücklich gesehen.
Lucy schenkte mir ein leises Lächeln. Ich war glücklich, bis ich das Weihnachtslicht verlor.
Aber warum musst du gehen?
Wieder verschwand Lucys Lächeln und ich bereute, etwas gesagt zu haben. Sie sah mich an und ich verstand. Wenn man das Weihnachtslicht verlor, war man selbst verloren.
Dann trat sie zu dem Mann in Lederjacke und Bluejeans und beide verschwanden im Nebel. Ich blieb einfach dort, einen kleinen Kürbis und eine Kerze in der Hand. Wusste nicht, was ich tun sollte. Zog eine Karte, an die ich auf einmal glaubte. Das Rad des Schicksals.
Das Leben ging weiter. Ich sah auf die Uhr. 23:57 am 5. Dezember. Es war noch nicht zu spät. Mit dem Sturmfeuerzeug zündete ich die Kerze an. Die Luft roch plötzlich nach Zimt und Anis.
05. Dez. 2009 - Fabienne Siegmund
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