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Blutsbrüder
von Sabine Ludwigs

Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
Gelacht hatten meine Eltern über die Bräuche auf dem Land. Gelacht und den Kopf geschüttelt über solchen Aberglauben.
Das Lachen ist ihnen zwischenzeitlich im Hals stecken geblieben und an unserer Tür hängt – wie überall im Ort - ein Kranz aus Weißdorn, Knoblauch und wildem Thymian. Auch verlässt mit Einbruch der Dunkelheit niemand mehr das Haus.
Heute ist mir klar, dass jede Seele in diesem verdammten Nest Bescheid wusste. Trotzdem hat uns niemand gewarnt.
Nicht einmal Mika.

Mika.
Unsere erste Begegnung nach dieser Sache im Wald war einfach grauenhaft! Ich werde nie vergessen, wie er flüsterte: „Ich kann es hören, Sem.“
„Was?“
„Dein Blut. Es rauscht ganz leise. Ein wenig davon fließt auch in mir.“
Das stimmt.
Wir sind Blutsbrüder
Wahrscheinlich hatten wir es in einem Film gesehen oder irgendwo gelesen. Jedenfalls hockten wir am letzten Freitag im Oktober an der Flussbiegung und schlossen Blutsbrüderschaft.
Ich biss die Zähne zusammen, als ich mir mit meinem Schweizer Taschenmesser – ein rotes Victorinox mit dem weißen Kreuz darauf und mein ganzer Stolz – in den linken Unterarm schnitt. Es tat nicht besonders weh, also gab ich Mika das Messer, und er machte es mir nach.
Wir pressten die Wunden aneinander, während wir unseren Eid sprachen:
„Vereint knien wir hier zur Dämmerstund´,
zu schließen mit unserem Blut den Bund,
wir schwören, nie auseinanderzugehen,
ganz gleich was geschieht, zueinander zu stehen.“

Es hatte etwas von Winnetou und Old Shatterhand. Wenigstens bis zu dem Moment, als Mika rief: „Es wird ja schon dunkel. Komm, wir müssen los!“
Wir nahmen den Trampelpfad, der durch die kniehohe Wiese in den Wald führte. Unter den Bäumen war es zwar schon wesentlich dunkler, aber der Weg kürzte die Strecke nach Hause beinahe um die Hälfte ab.
Wir kamen an der abgestorbenen Buche vorbei, zwischen deren Wurzeln man die Leiche des Dorfsäufers gefunden hatte. „Bleich wie Schweineschmalz, eiskalt und so tot wie der Baum“, erzählte Mika mit Grabesstimme. „Alle haben ihn Steinhäger genannt. Das war sein Lieblingsschnaps, und seither geht Steinhäger durstig um.“
„Halt die Klappe!“ Langsam wurde mir unheimlich und ich war froh, als Mika tatsächlich schwieg.
Die Schatten vertieften sich. Wir stolperten mehr, als dass wir gingen. Ich bedauerte gerade, dass wir nicht die Landstraße genommen hatten, da schrie etwas hinter uns. Es klang wie der schrille Ruf eines Raubvogels und wir fuhren gleichzeitig herum.
Nichts zu sehen.
„Unheimlich“, wisperte ich. „Da kann man beinahe Schiss vor deinem Steinhäger kriegen.“
Mika lachte unsicher. „Sei nicht blöd!“, meinte er schroff. „Leg lieber einen Zahn zu.“
Wir setzten uns wieder in Bewegung, liefen schweigend nebeneinander her. Trockene Blätter raschelten unter unseren Füßen und die ganze Zeit über gärte dieses Gefühl, dass jemand hinter uns war.
„Noch zehn Minuten, höchstens fünfzehn“, dachte ich, „dann kommen wir zur Straße. Da stehen Laternen. Wir werden von einem Lichtfleck zum nächsten rennen, lachen und angeben, dass wir keine Angst ...“
In diesem Augenblick kreischte Mika.

„Steinhäger“, gellte er. „O Gott, ich sehe ihn! ER KOMMT!“
Für eine schreckliche Sekunde blieb mir das Herz stehen, als hätte die Mechanik versagt. Mein Körper warf sich ohne mein Dazutun herum, wollte fliehen und hätte es getan, wenn Mika sich nicht an mich geklammert hätte. Dicht aneinandergedrängt versuchten wir leiser zu atmen. Wir lauschten. Unsere Blicke sirrten umher wie Pfeile, die jemand in die Nacht schoss.
„Da ist niemand“, sagte ich schließlich.
Mika fing an zu heulen. „Aber ich habe seine Augen gesehen!“
„Jetzt ist er jedenfalls weg. Außerdem“, ich schüttelte ihn ab, „gibt es so was nicht.“
Schulter an Schulter setzten wir unseren Weg fort. Mir zitterten die Knie, als Mika leise sagte: „Er beobachtet uns.“
„Hör auf damit!“
„Ich schwör´s!“ Mika weinte wieder. „Jesus! Ich kann es fühlen!“
Darauf wusste ich nichts zu erwidern – denn das Sträuben meiner Nackenhärchen verriet auch mir, dass wir nicht allein waren. Ich spürte die versteckten Blicke so deutlich wie eine eisige Berührung zwischen den Schulterblättern.

Eine unheilvolle Lautlosigkeit breitete sich aus, als hätte jemand alle Töne verschluckt. Da lag ein Geruch in der Luft, ein Gestank, der mich an wilde Tiere denken ließ, an die Hölle, Dinge und Wesen, an die niemand glaubt und die trotzdem existieren und sich in der Dunkelheit verstecken.
Bis ihre Zeit gekommen ist.
Und sie hervorkriechen.
Um dich zu holen und zu tun, was immer sie tun.
Auf einmal hörten wir es.
Flapp, flapp.
Es klang wie die frisch gewaschenen Laken meiner Mutter, wenn sie zum Trocknen auf der Leine im Garten hingen.
Flapp, flapp, flapp.
Oder wie ein Mantel, der im Wind flatterte.
Flapp, flapp.
Oder wie Flügel. Mächtige Schwingen, die näher kamen.
Ich würgte nur ein Wort hervor: „Lauf!“
Stattdessen umfassten seine Hände meine. Mikas blauen Augen wurden groß und rund. Sie quollen ein wenig aus den Höhlen, als er auf irgendwas hinter mir starrte.
Ein Luftzug wehte.
Tannennadeln knirschten.
Langsam, unendlich langsam, drehte ich den Kopf.
Schaute über die Schulter.
Und schrie.

„Wo wart ihr?“
„Was ist passiert?“
„Wem seid ihr begegnet?“
Die Fragen der Polizei, von meinen und Mikas Eltern prasselten auf mich ein. Dazwischen ihr Drängen: „Denk nach, Sem!“ Sie regten sich auf, sie weinten, aber ich konnte nur wiederholen, was ich bereits gesagt hatte: dass wir durch den Wald gegangen waren – hier wurde Mikas Vater jedes Mal aschgrau – dass Mika von Steinhäger erzählt hatte und wir Angst bekamen.
„Und dann?“
„Ich weiß es nicht mehr! Ich erinnere mich nur noch, dass ich schrie. Und rannte. Alles wurde dunkel, so dunkel, wie ich es noch nie erlebt habe. Als Nächstes lag ich am Straßenrand, wo mein Vater mich fand.“
Das war alles!
Jede andere Erinnerung war einfach verschwunden.
Genau wie Mika.

In der Nacht darauf konnte ich nicht einschlafen. Ich starrte durch die Finsternis an die Decke und wühlte in meinen Erinnerungen, bis mich ein Geräusch aufhorchen ließ. Ein verstohlenes Klopfen an der Fensterscheibe. Langsam setzte ich mich auf und wandte den Kopf.
„Mika!“, schrie ich, doch meine Freunde zerstob im gleichen Augenblick.
Es war Mika, ja, aber er hatte sich verändert, auf eine Art, die mir das blanke Grauen einjagte.
In der Helligkeit des Mondes sah ich, dass von seiner Bräune nichts übrig war. Die Haut wirkte kalt und bleich wie Raureif, dessen ungeachtet färbten rosa Schatten seine Wangen. Die Lippen glichen roten Sicheln und seine blonden Locken, die ihm zerzaust in die Stirn fielen, verliehen ihm eine überirdische Anmut.
Zuerst glaubte ich, seine Augen seien schwarz. Dann erkannte ich, dass es ein tiefdunkles Purpur war. Sie leuchteten, wenn die Netzhaut das Licht reflektierte, wie bei vielen nachtaktiven Wesen.
Und nachtaktiv war Mika jetzt, so viel begriff ich, und auch, warum mein Vater nach einem langen Gespräch mit Mikas Eltern mein Fenster mit einem abschließbaren Riegel versehen hatte – denn Mika lächelte und entblößte dabei schneeweiße Zähne.
Lang und spitz wie die Fänge eines Raubtiers.

Meine Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Das Geräusch erinnerte mich an Murmeln, die sacht gegeneinander stießen.
Obwohl Mika flüsterte, klang es, als stünde er direkt neben mir: „Ich kann es hören, Sem.“
„Was?“, krächzte ich.
„Dein Blut. Es rauscht ganz leise. Ein wenig davon fließt auch in mir.“
Er trommelte mit überlangen Fingern gegen die Scheibe. Ich sah Dreckränder unter seinen Nägeln.
„Komm schon, Sem, lass mich rein. Ich friere.“
Mika rieb seine Hände, als wollte er sie wärmen. Sein Wispern drang durch sämtliche Ritzen und Spalten geradewegs in mich hinein.
„Du bist mein bester Freund!“ Das Leuchten seiner Augen erlosch für den Bruchteil einer Sekunde, als er blinzelte. Er legte die Stirn gegen das Glas, das weder unter der Berührung noch durch Atemluft beschlug. „Wir sind Blutsbrüder.“ Mit engelsgleicher Stimme wiederholte er eindringlich unseren Schwur:
„Vereint knien wir hier zur Dämmerstund´,
zu schließen mit unserem Blut den Bund,
wir schwören, nie auseinanderzugehen,
ganz gleich was geschieht, zueinander zu stehen.“

Ich spürte, dass ich nickte und aus dem Bett stieg. Ich stolperte über meine Schuhe, fing mich wieder und bewegte mich zum Fenster.
„Sieh mich an.“ Mikas Stimme, leise, beinahe zärtlich, lullte meinen Verstand ein. „Sieh mich an.“
Ich tat es und wusste ganz tief in meinem Innern, dass ich einen Fehler beging.
Mikas Augen saugten sich an meinen fest, ich drohte in ihren Tiefen zu versinken wie in glühender Lava, und es war genau das, was ich wollte. Wenn man in solche Krater schaut, ganz tief hinein, empfindet man keine Furcht mehr, und als ich auf Mikas wunderbares Geflüster hörte, begriff ich, dass alles ganz einfach war.
„Lass mich rein und alles kommt in Ordnung, Sem!“
Ohne Zögern hob ich die Hände und zerrte am Fenstergriff, der sich wegen des Riegels aber nicht bewegen ließ. Ich rüttelte stärker, und als Mika „Nun mach schon!“ raunte, nahm ich mein Taschenmesser zur Hilfe. Schließlich fiel der Riegel klirrend auf die Fensterbank.
Ich atmete stoßweiße. Schweigend starrten wir einander an. Ich hörte meinen Herzschlag, er dröhnte mir in den Ohren.
Einmal.
Zweimal.
Beim dritten Schlag öffnete ich.

Das Fenster schwang auf.
Zwischen uns nichts als Leere, dann fragte Mika: „Worauf zum Teufel wartest du? Du musst mich HEREINBITTEN.“
Okay. Keine große Sache, das hatte ich in den letzten Wochen beinahe jeden Tag gemacht, wollte es auch jetzt tun, einfach sagen: „Komm rein, Kumpel!“ Danach könnten wir wieder zusammen sein. Als Blutsbrüder!
Ich sprach es laut aus: „Blutsbrüder!“
Wahrscheinlich war es dieses Wort, das die Schwaden in meinem Hirn langsam aufzulösen begann.
Ich blinzelte.
„Sem!“ Mika beugte sich beschwörend vor, und plötzlich sickerte durch meine Finger, die noch immer das Taschenmesser umklammerten, ein Strahlen.
Ich öffnete die Faust.
Ein silbriges Gleißen ging von dem griechischen Kreuz auf dem roten Kunststoffgriff aus, bündelte sich und raste wie ein Geschoss aus Quecksilber in Mikas Brust.
Es roch nach verschmortem Fleisch, und Mikas Schrei ging übergangslos in ein Wimmern über. Er hob abwehrend die Hände. Sein T-Shirt war verbrannt, die Haut darunter mit Schmauch überzogen. Die Gier in seinem Frostgesicht schmolz, tropfte herunter, verwandelte sich in Qual. Seine Oberlippe glitt zurück, entblößte wächsernes Zahnfleisch und das gebleckte Gebiss.
„Tu. Es. Weg“, keuchte er. „Wir sind doch Blutsbrüder!“
Da fing ich an zu weinen. Leise, aufrichtig und tieftraurig. Aber ich nahm das Victorinox nicht fort.
Das Glühen in Mikas Augen erstarb. Zögernd wich er zurück. Eine Weile hörte ich noch seine Schritte. Dann nichts mehr.

Das ist jetzt fünf Jahre her. Wir haben Mika nie gefunden - aber er hockt häufig nachts vor meinem Fenster und späht herein, bis das erste Grau des Morgens in den Himmel kriecht und ihn vertreibt.
Kein Mensch mehr.
Für immer ein Junge.
Mein Blutsbruder.

30. Okt. 2009 - Sabine Ludwigs

Bereits veröffentlicht in:

GANZ SCHÖN BISSIG ... - VAMPIRGESCHICHTEN
F. Henz (Hrsg.)
Anthologie - Horror-Stories - Schreiblust-Verlag - Jun. 2009

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