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Die Muhme
von Eva Markert

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Am Vorabend des Totentages beging das Dorf sein alljährliches Kürbisfest. Im rotgolden flammenden Licht der untergehenden Sonne waren die Einwohner auf dem Dorfanger zusammengekommen. Jede Familie hatte einen Kürbis mitgebracht. Die Männer legten die gelb und orange leuchtenden Früchte auf einem großen Tisch in der Mitte des Platzes ab. Die Frauen boten Kürbissuppe, Kürbiskuchen und Kürbiswein an, doch kaum jemand aß oder trank davon. Leise Musik spielte, aber niemand tanzte, sodass die Flöten und Trommeln schließlich schwiegen. Gedämpfte Stimmen waren zu hören, doch nirgendwo klang Lachen auf. Immer wieder warfen die Menschen ängstliche Blicke auf den mit Kürbissen überladenen Tisch.
Schließlich trat der Dorfälteste vor und die Leute verstummten.
Er hielt ein schwarzes Tuch in die Höhe. „Lasst uns beginnen.“
Jemand verband ihm die Augen. Eilige Hände nahmen die Kürbisse hoch und legten sie an anderer Stelle nieder.
„Ich werde nun das Los ziehen.“
Die dumpfe Stille vertiefte sich.
Der Dorfälteste tastete sich um den Tisch herum. Seine Finger berührten die Kürbisse, hoben sich wieder, wanderten weiter. Schließlich blieb er stehen. Seine Hände, die über einem gelben Kürbis schwebten, sanken langsam herab. „Wer diesen Kürbis mitgebracht hat, wird das Opfer bringen, damit wir im nächsten Jahr keinen Mangel zu leiden brauchen“, rief er.
„Ich würde lieber hungern …“, rief eine Frau dazwischen.
„Scht!“, brachte man sie zum Schweigen.
Der Dorfälteste nahm den Kürbis.
Ein Schrei ertönte und jemand brach in lautes Weinen aus.
„Wir werden reich von der Muhme belohnt werden“, fuhr der Dorfälteste fort. „Garben über Garben, Korn, so viel unsere Scheunen fassen können.“ Er riss sich die Binde von den Augen und hielt die Frucht über seinen Kopf. „Wes Kürbis dies ist, möge vortreten!“
Ein schluchzendes Mädchen und seine Eltern lösten sich aus der Menge.
Bodo wurde bleich. „Gundis“, flüsterte er tonlos.
Mit ernstem Gesicht reichte der Dorfälteste dem Vater ein Messer.
Der Mann nahm es, setzte sich auf den Boden und begann, den gelben Kürbis auszuhöhlen.
Gundis klammerte sich an ihre weinende Mutter.
Mitleidig und gleichzeitig voll Erleichterung, weil der Kelch an ihnen vorübergegangen war, sahen die Dorfbewohner zu, wie der Vater ein Gesicht in den Kürbis schnitt und eine Kerze in der Mitte befestigte. In der Nacht würde dieser Kürbiskopf im Hauseingang leuchten und der Muhme den Weg weisen, wenn sie kam, um die jüngste Tochter der Familie zu holen.
Niemand wusste, was mit ihr geschehen würde, denn noch nie war ein Mädchen zurückgekehrt.

Szenentrenner


So hatte es sich im Jahr zuvor zugetragen. Beim diesjährigen Kürbisfest jedoch war alles anders.
„Halt!“, rief eine laute Stimme, als man dem Dorfältesten die Augenbinde umlegen wollte.
Alle wandten sich um.
Ein junger Mann mit langen blonden Locken zwängte sich nach vorn. Er trug einen großen, orangeroten Kürbis unter dem Arm. „Ich werde gehen.“
Stimmen wurden laut. „Bodo? Du?“
„Ich werde mich verkleiden. Ich muss wissen, was mit den Jungfrauen geschieht, die uns die Muhme Jahr für Jahr nimmt. Vor allem will ich erfahren, was aus meiner Gundis geworden ist. Wahrlich, bei allen guten Geistern, ich sage euch: Ich werde es herausfinden und die Muhme besiegen!“
„Mein Junge …“, begann seine Mutter.
„Niemand kann mich davon abhalten“, fiel er ihr ins Wort.
„Er mag es versuchen“, meinten die einen.
„Er wird die Muhme verärgern“, wandten die anderen besorgt ein.
Ohne sich weiter um die Leute zu scheren, begann der junge Mann seinen Kürbis auszuhöhlen.
Stockdunkel war es in dieser Nacht auf den Straßen. Nur in der Wohnstube des Hauses, vor dem das Kürbisgesicht leuchtete, brannte Licht. Dort wartete Bodo auf die Muhme. Er hatte seine Haare zu einem dicken Zopf geflochten und trug ein weites, weißes Gewand, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde.
Er musste eingenickt sein, denn er schrak hoch, als ihn jemand zart an der Schulter berührte. Eine stattliche Frau mit einem hohen Hut stand vor ihm.
„Steh auf, Mädchen“, befahl sie, „und lass dich anschauen.“
Bodo gehorchte.
Sie bedeutete ihm, dass er sich einmal um sich selbst drehen sollte.
„Du gefällst mir“, sagte sie schließlich. „Du bist schlank und kräftig zugleich.“ Sie strich ihm über den Kopf. „Und du hast wunderschöne Haare.“ Ein Lächeln milderte für einen Augenblick ihre strengen Züge. „Vielleicht habe ich in dir endlich die richtige Gespielin gefunden.“
Sie nahm ihn bei der Hand, legte zwei Finger an ihren magischen Hut, und ehe er es sich versah, standen sie vor den dicken Mauern eines Palastes.
„Oh, es wird schön mit dir sein“, raunte die Muhme ihm ins Ohr. Ihre Fingerspitzen streichelten sein Gesicht. „Deine Haut ist glatt und straff. Es wird mir gefallen, meine Wange an deine zu schmiegen.“ Ihre Hände wanderten in die weiten Ärmel seines Gewandes. „Und du hast Kraft. Komm schnell, ich kann es kaum noch erwarten.“
An dem halbrunden Eingangstor erwartete sie eine große, schmutzigbraune Ratte mit struppigem Fell.
„Meine ergebene Dienerin“, stellte die Muhme sie vor. „Sie wird auch ein Auge auf dich haben. Doch berühre sie niemals, unter keinen Umständen. Und komme ihr nicht zu nah. Hast du verstanden?“
Bodo nickte. Misstrauisch funkelte die Ratte ihn an. Ihm wurde unbehaglich unter ihrem feindseligen Blick.
Die Muhme zog ihn in den Palast. Staunend blickte sich Bodo in der riesigen Eingangshalle um. Marmorne Säulen, Statuen weiblicher Figuren aus feinstem Alabaster, die Wände über und über mit Bildnissen junger Frauen bedeckt.
Die Muhme drückte ihn an sich. „Gefällt es dir?“
„Ja, sehr“, wisperte er mit verstellter Stimme.
„Dort wird auch bald dein Portrait hängen. Siehst du?“ Mit einem Finger zeigte sie auf eine leere Stelle neben einem Gemälde, das ein schwarzgelocktes Mädchen in einem tiefroten Kleid zeigte.
„Ich kenne sie! Das ist Gundis, die Tochter unserer Nachbarn.“
„Sie kam letztes Jahr zu mir.“
„Und wo ist sie jetzt?“
„Glaub mir, mein schönes Kind, es ist besser, wenn du nicht zu viele Fragen stellst. Ich führe dich nun in dein Gemach.“ Sie zog ihn eine geschwungene Treppe hinauf, und die Ratte folgte ihnen.
Bodo stockte der Atem, als er den Raum betrat. Samt, Seide und Gold, wohin er auch blickte, ein gewaltiges Himmelbett, Spiegel an den Wänden und Kleiderschränke voll kostbarer Gewänder. Auf einer Kommode stand ein Kästchen, das überquoll von Perlen und anderem Geschmeide.
„Du wirst meine Lust in die höchsten Höhen treiben“, raunte die Muhme. Sie schloss die Augen, öffnete ihre vollen Lippen und presste sie inbrünstig auf seinen Mund. Mit den Händen fuhr sie über seinen Oberkörper. „Du bist noch sehr jung. Mmm, genau so mag ich es.“ Sie löste sich von ihm. „Ruhe noch ein wenig, ich komme bald zurück. Folge mir, Rättin.“
Bodo streckte sich auf dem Bett aus und versank fast in den wolkenweichen Kissen. Er wollte nachdenken, doch er war zu müde und seine Gedanken verwirrten sich. Fast hätte der Schlaf ihn übermannt, da öffnete sich die Tür.
„Ich bin es“, klang die raue Stimme der Muhme zu ihm herüber.
Er richtete sich auf.
Ihr Gewand und ihren magischen Hut hatte sie abgelegt. Nur in ein spinnwebfeines Nachtgewand gehüllt, wallte sie auf ihn zu. „Ich will bei dir liegen.“
Bodo überlief es siedend heiß. Gehorsam rückte er ein Stück beiseite.
Mit einem Seufzer sank sie neben ihn. „Und nun entkleide mich“, murmelte sie.
Zaghaft schob Bodo ihr Hemd bis zu den kräftigen Oberschenkeln hinauf. Weiter wagte er sich nicht vor. Die Muhme stieß einen unzufriedenen Laut aus, setzte sich und zog das Hemd mit einem Ruck über ihren Kopf.
Bodos Kehle wurde eng. Er schluckte. Nie zuvor hatte er eine entblößte Frau gesehen und der Anblick der Muhme berauschte ihn. Sie war schön. Mehr noch: Sie war die personifizierte Sinnlichkeit.
„Und nun du.“
Er erschrak. Stumm starrte er sie an.
„Nicht so schüchtern, meine Schöne!“ In ihrer Stimme schwang leise Ungeduld mit. „Zeige mir, wie du unter deinem Gewand aussiehst.“
Zögernd löste Bodo den Gürtel.
Sie beobachtete ihn mit glühenden Augen, ihre Hände strichen unablässig über ihren Leib. „Schneller“, gebot sie, „entledige dich deines Gewandes.“
Er wusste sich keinen anderen Rat und tat, was sie verlangte.
Ein wilder Schrei ließ ihn zusammenfahren. „Du bist ja ein Mann!“
„So … muss es doch sein“, stammelte er.
„Der Teufel soll dich holen!“
Die Ratte erschien. Mit glitzernden Augen schaute sie zwischen Bodo und ihrer Herrin hin und her.
Die Muhme sprang auf und warf sich ihr Nachtgewand über. „Dafür wirst du mit dem Tode sühnen“, kreischte sie. Sie riss ihn hoch, packte ihn bei den Schultern und schob ihn vor sich her durch die Eingangshalle und eine enge Wendeltreppe hinunter.
Aufgeregt trippelte die Ratte hinterher.
„Du sollst enden wie alle die anderen, derer ich überdrüssig wurde.“
Sie öffnete einen Bretterverschlag, stieß Bodo hinein und hängte ein eisernes Schloss davor. Laut fluchend eilte sie davon.
Die Ratte blieb. Sie beäugte ihn unablässig, ihre feinen Barthaare zitterten.
Bodo blickte sich in dem dunklen Verlies um. Durch ein vergittertes Fenster konnte er ein paar schwache Lichtpünktchen am Himmel erkennen. Vorsichtig tastete er sich vorwärts, bis sein Fuß an etwas stieß. Er erschauerte, ohne zu wissen, warum.
Plötzlich kam der Mond hinter einer Wolke hervor und goss sein bleiches Licht in den Kerker.
Nun sah Bodo, wogegen er gestoßen war. Er stöhnte auf. Vor ihm an der Wand lehnte ein in Lumpen gekleidetes Skelett. Unbarmherzig leuchtete der Mond den Kerker aus, der angefüllt war mit menschlichen Überresten. Aus einer Ecke starrten ihn Augenhöhlen an. Schwarze Locken fielen an dem Schädel herunter auf den Stoff eines tiefroten Kleides. „Gundis.“ Lautlos formten seine Lippen ihren Namen. Er ließ sich auf den Boden sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Ich wurde um meine Gespielin betrogen!“ Die Wutschreie der Muhme hallten noch immer durch das Gemäuer.
Die Ratte huschte davon.
Bodo begann nachzudenken. Nach einer Weile trat er an den Lattenrost. „Muhme!“, schrie er. „Komm herunter. Wenn du mich freilässt, werde ich dir helfen.“
Es wurde still. Kurz darauf hörte er Schritte die Wendeltreppe herunterkommen. Das Gesicht der Muhme war hassverzerrt.
„Meine Schwester …“, begann Bodo. „Sie ist das schönste Mädchen im Dorf. Schon viele haben um ihre Hand angehalten, doch sie hat alle abgewiesen. Sie mag Männer nicht. Ich kann dich zu ihr bringen. Sie liebt mich über alles, und ich bin sicher, dass sie an meiner statt mit dir gehen wird. Sie ist gewiss die richtige Gespielin für dich.“
„Ich habe gelobt, nur einmal im Jahr ins Dorf zu kommen, um mir eine Jungfrau zu holen“, wandte die Muhme ein. „So lautet die Abmachung und so ist es seit Jahr und Tag und Ewigkeit gewesen.“
„Aber in diesem Jahr hast du noch keine Jungfrau bekommen – denn bin ich nicht ein Mann?“
Die Muhme zögerte noch immer, doch in ihren Augen glomm es. Schließlich steckte sie die Hand in die Tasche ihres Gewandes und holte den Schlüssel hervor.
Die Ratte stieß einen schrillen Pfeifton aus und piepste durchdringend, als sich das quietschende Schloss öffnete.
Im selben Augenblick warf sich Bodo gegen den Lattenrost. Er schlug der Muhme den magischen Hut vom Kopf, entriss ihr den Schlüssel, stieß sie ins Verlies und verschloss es mit fliegenden Fingern.
Die Muhme schrie: „Du hast mich erneut getäuscht!“, und stampfte mit dem Fuß auf.
Bodo lächelte. „Das ist richtig. Ich habe nämlich keine Schwester. Und du wirst in diesem Kerker umkommen, genau wie deine Opfer.“ Damit wandte er sich zum Gehen.
„Das wirst du mir büßen!“ Die Muhme rüttelte an dem Lattenrost. „Ihr alle werdet es mir büßen! Sterben sollt ihr, einen grässlichen Tod.“ Ihre Stimme überschlug sich.
Das Keifen schallte weit in den nächtlichen Wald hinaus, den Bodo durchqueren musste, um den Weg nach Hause zu finden.

Szenentrenner


Wenige Tage später wurde im Dorf ein großes Fest veranstaltet. Die Bewohner feierten Bodos glückliche Heimkehr und die Befreiung von der Muhme. Es gab reichlich zu essen, Wein floss in Strömen, es wurde getanzt, geredet und gelacht. Nur Kürbisse suchte man vergebens.
Nachts, als alle in tiefem Schlummer lagen, huschte eine große, schmutzigbraune Ratte die Dorfstraße entlang. Ab und zu richtete sie sich auf, schnüffelte und hatte bald das Haus gefunden, in dem Bodo mit seinen Eltern lebte. Durch ein Kellerfenster schlüpfte sie hinein.
Ihr struppiges Fell wimmelte von Flöhen.
So hielt die Pest Einzug im Dorf.

25. Jan. 2010 - Eva Markert

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