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Wie grün sind deine Blätter von Eva Markert
Michael Sagenhorn © http://www.phantasaria.de Dieser Tannenbaum ist lieb, sagte Anna-Lena. Er hat mir zugewinkt.
Kritisch betrachtete ihr Vater den Baum von allen Seiten. Er ist nicht sehr gerade gewachsen. Und außerdem ein wenig zu groß für die Ecke im Wohnzimmer.
Ich möchte aber diesen, quengelte das Mädchen. Ich mag ihn am liebsten von allen.
Ich könnte Ihnen den Baum zehn Euro billiger lassen, mischte sich der Weihnachtsbaumverkäufer ein.
Also gut, gab der Vater nach.
Aufgeregt hüpfte Anna-Lena um den Kombi herum, während er die Tanne in den Kofferraum lud und die offenstehende Heckklappe befestigte. Der Baum freut sich, erklärte sie, er wollte gern mit uns kommen. Das hat er gesagt.
Der Vater unterbrach seine Arbeit und strich ihr lächelnd über den Kopf. Was du immer für Ideen hast
Du glaubst mir wieder nicht. Anna-Lena schob ihre Unterlippe vor. Aber er spricht wirklich mit mir.
Ihre Mutter war nicht erfreut über diesen Tannenbaum. Der ist doch viel zu hoch, meinte sie. Und außerdem ganz schief.
Sei still, sagte Anna-Lena. Das hört er nicht gern.
Rede nicht solchen Unsinn!
Anna-Lena ließ den Blick zu dem Baum schweifen. Er mag dich nicht, stellte sie fest.
Das beruht auf Gegenseitigkeit, zischte die Mutter. Ich mag ihn nämlich auch nicht.
Ich stell die Tanne erst mal auf den Balkon. Der Vater schnitt das Netz auf, das die Zweige gefangen hielt, und es war wie eine Explosion, als sie sich in einem gewaltigen Befreiungsschlag entfalteten.
Der Vater fuhr zurück. Schmale rote Striemen durchzogen sein Gesicht.
Das Ding ist ja gemeingefährlich!, rief er wütend.
Er packte den Stamm, die Mutter streckte den Arm aus, um die Balkontür zu öffnen. Au!, schrie sie. Die Nadeln sind so scharf und spitz, als ob sie aus Metall wären. Winzige Blutströpfchen zogen sich entlang roter Linien über ihren Unterarm.
Vorsichtig nahm der Vater einen Zweig zwischen Daumen und Zeigefinger und zuckte zurück. Verdammt noch mal, du hast Recht. Ein großer, roter Tropfen quoll aus der Fingerbeere. Er steckte den Zeigefinger in den Mund und sog das Blut aus der Wunde.
Ihr seid nicht nett zu dem Weihnachtsbaum, erklärte Anna-Lena. Deshalb ist er auch nicht nett zu euch.
Hör endlich auf damit!, fuhr der Vater sie an. Und geh nicht zu nah an die Tanne heran, sonst verletzt du dich auch noch.
Aber Anna-Lena musste immerzu an den Baum denken. Noch am selben Nachmittag schlich sie sich auf den Balkon, um nach ihm zu sehen. Sie erzählte ihm, was sie Weihnachten in seine Zweige hängen würden: Kugeln in allen Farben, Glöckchen, Goldlametta, Süßigkeiten. Und dann zünden wir die Kerzen an, beendete sie ihren Bericht. Damit alles schön glitzert.
Ihre Mutter trat auf den Balkon. Was machst du denn hier?
Ich habe ihm erzählt, wie er Weihnachten aussehen wird. Sanft strich sie mit dem Zeigefinger über die Nadeln.
Pass auf!
Er tut mir nichts. Siehst du? Anna-Lena schloss ihre Finger um einen Zweig und öffnete sie wieder. Die Handinnenfläche war unversehrt.
Beim Schmücken zogen sie Handschuhe an, um sich nicht Hände und Arme zu zerstechen. Anna-Lena hängte Lametta und Kugeln an die unteren Zweige. Als die Eltern nicht hinsahen, zog sie ihre Handschuhe aus. So geht es besser, flüsterte sie der Tanne zu, und deren untere Äste wippten zustimmend.
Am liebsten würde ich das Biest sofort auf den Kompost werfen, murrte der Vater.
Jetzt ist es zu spät. Wir kriegen keinen anderen Tannenbaum mehr, erwiderte die Mutter.
Anna-Lena sah, wie der Baum die Zweige hängen ließ. Ich finde dich sehr schön, tröstete sie ihn. Sing mir was vor, Anna-Lena, bat der Weihnachtsbaum. Sing von grünen Tannenbäumen.
Und während sie weiter Lametta über die Zweige hängte, sang sie: O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter.
Der Baum sprach viel mit Anna-Lena. Komm her zu mir, lockte er, sobald sie ins Zimmer trat. Sieh, was ich Feines für dich habe. Jedes Mal zeigte er ihr eine Süßigkeit, die irgendwo verborgen in seinen Zweigen hing.
Auch drängte er sie oft: Sing mir was vor, Anna-Lena. Sing von grünen Tannenbäumen.
Dann sang sie O Tannenbaum, und der Weihnachtsbaum wiegte sich dazu.
Er fängt schon an zu nadeln, meinte ihre Mutter eines Morgens. Wir sollten ihn bald abschmücken.
Anna-Lena erschrak. Was passiert dann mit ihm?, fragte sie, obwohl sie es genau wusste.
Wir werfen ihn auf den Kompost, so wie jedes Jahr.
Anna-Lena fing an zu weinen. Ich will ihn aber behalten. Er ist mein Freund.
Sei nicht albern, fiel ihr die Mutter ins Wort. Du siehst doch, dass er trocken geworden ist.
Anna-Lena war auch schon aufgefallen, dass der Tannenbaum müde aussah. Seine Zweige hingen ein wenig herunter, seine Nadeln waren nicht mehr grün, sondern staubig und hatten eine blassbläuliche Färbung angenommen.
Bist du krank?, fragte sie und streichelte ihn.
Ja, hauchte er. Sing mir was vor von grünen Tannenbäumen.
Diesmal wiegte er sich nicht, während Anna-Lena sang.
Willst du mir helfen?, fragte er.
Sie nickte.
Dann gib mir ein paar Tropfen von deinem Blut. Er streckte seine Äste nach ihr aus.
Anna-Lena griff danach und schrie auf. Aus jeder Fingerbeere quoll Blut, das schnell einen fetten Tropfen bildete. Du hast mir weh getan, jammerte sie.
Träufele Blut auf meine Zweige, ächzte der Baum.
Anna-Lena stand starr. Immer mehr Blut drang aus ihren Fingerspitzen.
Tu, was ich dir sage, sonst muss ich sterben, keuchte er.
Hastig ließ Anna-Lena Blutstropfen auf seine Zweige fallen.
Ah!, seufzte er, während sich seine Äste hoben und die Nadeln wieder eine kräftigere Farbe annahmen. Das tut gut.
Anna-Lena sank in die Knie. Mir ist schwindelig, klagte sie.
Das geht vorbei. Schau, wie schön ich wieder bin. Die Tanne wippte anmutig mit den Zweigen und warf Anna-Lena einen stachligen Stern mit Schokoladenbauch hin.
Ihre Mutter trat ein. Sieh mal, Mama, rief Anna-Lena. Ich habe ihm mein Blut zu trinken gegeben. Jetzt ist er wieder gesund.
Die Mutter runzelte die Stirn. Was erzählst du da! Ihr Blick fiel auf den Weihnachtsbaum. Er sieht tatsächlich etwas frischer aus. Vielleicht, weil das Fenster offen stand und die Luft draußen feucht ist.
Nein, mein Blut hat ihn gesund gemacht, widersprach Anna-Lena und streckte der Mutter ihre blutverschmierten Hände hin.
Ein Schreckenslaut kam über deren Lippen. Wir hatten dir doch verboten, ihn anzufassen.
Er wollte es. Er hat mich
Anna-Lena, unterbrach die Mutter, jetzt habe ich endgültig genug. Gleich heute Abend, wenn Papa kommt, entsorgen wir das Ding. Bis dahin verbiete ich dir, noch einmal ins Wohnzimmer zu gehen.
Aber Mama, weinte Anna-Lena, der Weihnachtsbaum ist doch wieder schön.
Ich will nichts mehr hören.
Schluchzend hockte Anna-Lena auf ihrem Bett. Der Gedanke, dass ihr Tannenbaum einfach weggeworfen wurde, war zu schrecklich.
Ich muss noch mal in die Stadt, rief die Mutter im Flur. Auf dem Rückweg hole ich Papa ab. Denke an das, was ich dir gesagt habe, und gehe nicht ins Wohnzimmer.
Die Haustür schlug hinter ihr zu. Totenstille herrschte in der Wohnung.
Irgendwann drang ein Geräusch an Anna-Lenas Ohr. Sie hielt den Atem an und lauschte.
Anna-Leee-na! Anna-Leee-na!
Sie zögerte, dann schlich sie zur Wohnzimmertür.
Komm herein.
Mama hat es verboten.
Wenn du hereinkommst, zeige ich dir etwas, was du noch nie gesehen hast.
Anna-Lena zögerte, dann öffnete sie die Wohnzimmertür einen Spalt. Was zeigst du mir?
Eine Tür.
Die Zweige winkten sie heran. Langsam schob sie sich ins Zimmer. Komm her, lockte der Baum, hier, hinter mir, geht es in eine andere, in eine wunderbare Welt.
Da ist aber keine Tür, wandte Anna-Lena ein.
Doch! Du kannst sie nur sehen, wenn du nichts anhast. Die Zweige bewegten sich, als ob ein leichter Wind durch sie hindurchstreichen würde.
Anna-Lena trat näher.
Siehst du die Tür?
Sie schüttelte den Kopf.
Du musst dich ausziehen. Dann öffnet sie sich. Oh, sie wird dir gefallen, diese andere, wunderbare Welt!
Anna-Lena wollte unbedingt einen Blick hineinwerfen. Sie stieg aus ihrer Hose, zog sich den Pulli über den Kopf und warf beides auf einen Sessel.
Zieh alles aus.
Sie entledigte sich ihrer Schuhe und Strümpfe.
Alles.
Sie streifte Hemdchen und Höschen ab.
So ist es gut, gurgelte der Baum.
Im Treppenhaus waren Geräusche zu hören. Die Eltern kamen zurück.
Beeil dich.
Anna-Lena ging so dicht an die Tanne heran, dass die Spitzen der ausladendsten Zweige ihre Haut berührten.
Die Haustür wurde aufgeschlossen.
Auf einmal brauste es wie ein Sturm durch das Geäst. Nur noch einen Schritt!
Sie zwängte sich in die Ecke.
Anna-Lena!, rief die Mutter im Flur. Wir sind zurück.
Der Tannenbaum erbebte, sodass einige Kugeln zu Boden fielen und die Glöckchen in den Zweigen leise klingelten. Pst, wisperte er, antworte nicht. Seine nadligen Arme strichen über ihr Gesicht, ihre Arme, über ihren ganzen Körper. Sie würden dir nicht erlauben, durch die Tür zu schauen.
Die Eltern hängten ihre Mäntel auf. Wo bist du?, rief der Vater.
Anna-Lena, ich liebe dich, raunte der Baum. Ich will dich ganz fest umarmen. Er umschlang sie, bis ihr Körper vollständig in sein Nadelkleid gehüllt war.
Bis dahin hatte sie ihn gewähren lassen. Doch nun begann sie, um sich zu schlagen. Lass mich los!
Starke Äste hoben sie hoch und pressten sie an den rauen Stamm. Nadelfeine Spitzen bohrten sich in ihr Fleisch. Anna-Lena zuckte heftig, doch ihre Bewegungen wurden schnell schwächer.
Die Wohnzimmertür öffnete sich.
Anna-Lena regte sich ein letztes Mal, dann hing sie still, aufgespießt in der tödlichen Umarmung.
Anna-Lena?, fragte die Mutter. Merkwürdig. Mir war gerade, als hätte ich ein Geräusch gehört.
Mir auch, sagte der Vater. Es klang wie
ein Schmatzen. Er stockte. Sieh dir den Weihnachtsbaum an. Frischer und grüner als am ersten Tag. Man könnte meinen, er wäre gerade erst geschlagen worden.
17. Dez. 2009 - Eva Markert
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