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Frohes Fest, Casanova
von Barbara Büchner

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Langsam, ganz langsam zog Pia die Injektionsnadel aus dem Korken der Sektflasche. Der Inhalt wirkte völlig unverändert, als sie die Flasche ans Licht hob und prüfend betrachtete - nicht die Spur einer verdächtigen Trübung oder Verfärbung. Das Zeug sah aus wie Sekt, roch wie Sekt und schmeckte wie Sekt. Was es tatsächlich war, würde Bernhard erst bemerken, wenn ihn urplötzlich die Lähmung befiel, die (laut Gebrauchs-anweisung) kurz vor Eintritt des Todes erfolgte.
Es war, musste Pia zugeben, keine sehr neue und originelle Methode, jemanden vom Leben zum Tode zu befördern. Inspektor Columbo hätte den Fall im Handumdre-hen gelöst. Aber erstens war es Bernhard nicht wert, dass man sich seinetwegen einer neuen und originellen Mordmethode bediente, und zweitens übernahm kein Columbo den Fall, sondern irgendein überarbeiteter Notarzt, der etwas von typisch für die Weihnachtsfeiertage und zu viel gefressen, zu viel gesoffen vor sich hinbrummeln würde. So, wie Bernhard jetzt aussah, war ein Herzschlag jedenfalls eine bei weitem nahe liegendere Diagnose als ein Giftmord. Er war in letzter Zeit ziemlich fett geworden, und seine Wangen hatten einen ungesund violetten Stich.
Pia seufzte lautlos, während sie den Sekt in rot und grün bedrucktes Geschenkpapier wickelte. Es hatte eine Zeit gegeben - und sie lag noch gar nicht so lange zurück - da war Bernhard ein Traummann gewesen. Ein richtiger Traummann mit sonnengebräunter Haut, blitzenden Zähnen, die er beständig in knabenhaftem Lächeln entblößte, einer widerspenstigen braunen Haartolle über der Stirn und lustigen braunen Augen, ein fröhlicher großer Junge, der wie Peter Pan durchs Leben tollte. Eigentlich, dachte Pia jetzt, hätte es ihr damals schon zu denken geben sollen, dass ein angeblich so unglücklich verheirateter Mann so blendend aussehen konnte. Nur zu bald hatte sie nämlich herausgefunden, wie man aussieht, wenn man tatsächlich unglücklich ist: Sie hatte nur in den Spiegel blicken müssen, um zu sehen, welche harten Linien der Kummer um die Mundwinkel meißelt, wie geschwollen die Tränensäcke nach einer durchweinten Nacht sind und wie stumpf und tot die Haut der Verlassenen wird.
Sie hatte es herausgefunden, nachdem Bernhard sie gegen Stella ausgetauscht hatte, wie er zuerst Alice gegen Pia ausgetauscht hatte. Wen er gegen Alice ausgetauscht hatte, hatte sie nie erfahren, aber sicher war da irgendjemand gewesen... irgendeine, die geweint hatte, bevor Alice weinte, bevor Pia weinte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Stella weinte.
Pia spürte, wie sich ihre Finger in das steife Geschenkpapier gruben. Das Papier war mit fröhlichen Schlittengespannen und goldenen Glöckchen bedruckt, aber es raschelte wie das Laub von Friedhofsbäumen.
Stella musste einfach weinen. Tränen waren ihr Schicksal, wie sie das Schicksal jeder Frau waren, die an Bernhard anstreifte, von seiner Mutter angefangen, die Tränen des Schmerzes vergossen hatte, als er sich grob und unverschämt, Ellbogentechniken anwendend, aus ihrem Schoß gezwängt hatte. Stella würde weinen: Entweder, weil Bernhard auch ihr eine Neue vor die Nase setzte, oder - noch besser - bei seiner Beerdigung. Stella in ein schwarzes Spitzentüchlein schluchzend, Bernhard in einem schwarzen Sarg, auf weißem Damast, von Kränzen und Kerzen umrahmt. Der jugendliche Held stirbt, in der Hauptrolle: Bernhard Pamatzke.
Pia kicherte wie ein Schulmädchen.
Dann nahm sie sich zusammen, glitt mühelos in die Rolle der gereiften Vierzigjährigen, der Akademikerin, der Frau Doktor. Nicht mehr die Jüngste, aber immer noch gut aussehend, sehr gepflegt, eine Frau von Format, immer noch eine Sünde wert, dabei gescheit wie ein Mann, zwei, drei wissenschaftliche Bücher mit ihrem Namen stehen in Buchhandlungen im Universitätsviertel. Eine feine Frau, eine dumme Gans, lässt sich abservieren wie ein Stubenmädchen im Grand Hotel, dem man nach einer heißen Nacht abschiednehmend die Bäckchen kneift, das eine im Gesicht, das andere unterm glänzendschwarzen Rock. Leb wohl, mein Schatz, leb wohl.

Szenentrenner


Sie winkte ein Taxi herbei, gab die Adresse von Bernhards Wohnung an. Mit geschlossenen Augen saß sie im Fond, in Gedanken versunken. Nicht, dass sie ihre Entscheidung noch einmal überdacht hätte. Da gab es nichts mehr zu bedenken. Bernhard war in dem Augenblick ein toter Mann gewesen, in dem er sie und Stella gemeinsam zu einer Weihnachtsfeier eingeladen hatte.
"Und Alice? Hast du die etwa auch eingeladen?", hatte sie gefragt, mit einem Gefühl in der Brust, als bohrte sich ein langer spitzer Eiszapfen von hinten durch Rippen und Herz.
"Wieso Alice?", hatte er überrascht gefragt.
Natürlich wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, Alice einzuladen. Sie war, was Bernhards Gefühle anging, tot und begraben, was von ihr geblieben war, waren die teuren Geschenke, die sie ihm gemacht und die er nach der Trennung nicht wieder zurückgegeben hatte, und ein paar Anekdötchen, die er erzählte, wenn er in witziger Stimmung war und seine jeweils Neueste damit unterhielt, dass er die Frauen vor ihr zum Clown stempelte. Alice war ja zuweilen so köstlich naiv gewesen, so unbedarft! Und wie hatte er sich damals in Nizza amüsiert, als sie sich diesen Badeanzug gekauft hatte, der ihren schon etwas schlaffen Hintern unbarmherzig zu Wülsten zurechtpresste! Praktisch jeder auf der Strandpromenade hatte gelacht, als sie vorbeiging wie ein in grünen Satin gepackter Pudding, Alice, die nicht mehr ganz Junge, der Wabbelpopo, ein peinlicher Anblick an der Seite des jugendlichen Bernhard. Und damals in Berlin! Und in Hamburg! Bernhards Neue krümmten sich vor Lachen.
Pia war überzeugt, dass zu den Alice-Anekdoten inzwischen ein Sortiment von Pia-Anekdoten gekommen war.
Bernhard hatte herzlich gelacht, dieses tiefkehlige, männliche Lachen, das ihr jedes Mal dreißig Lebensjahre samt der dazugehörigen Würde und Erfahrung raubte und sie in ein linkisches Schulmädchen verwandelte, das beleidigt schniefend von einem Fuß auf den anderen trampelt, weil seine Erzfeindin zur selben Weihnachtsparty eingeladen wird. "Nun sag bloß, du bist altmodisch, Pia-mein-Schatz."
"Hast du sonst noch jemand eingeladen? Zu Weihnachten lädt man sonst haufenweise Leute ein."
"Nur dich und Stella", hatte er mürrisch geantwortet.
"Ich kann es nicht erwarten, einen Abend mit Stella zu verbringen."
Er klang ungeduldig, als redete er mit einem albernen Kind. "Was hast du eigentlich gegen Stella? Hat sie dir irgendwas getan?"
Pia war prompt in die Falle gegangen. "Sie hat mir dich weggenommen", stieß sie mit vor Wut rauer Stimme hervor. Der letzte Abend ihrer Beziehung fiel ihr ein, wie immer, wenn Stellas Name genannt wurde, dieser feuchtkalte, sternlose, nach Lungenentzündung riechende Abend, an dem ein schmierig-verständnisinnig blinzelnder Taxifahrer sie heimgefahren hatte, während Bernhard und Stella Händchen haltend in der Boudoirbeleuchtung der Bar saßen. Sie hatten ihr nachgeblickt, hatten gesehen, wie Pia, hölzern vor Wut und Jammer, auf ihren hohen Stöckelschuhen davongestolpert war wie eine Vogelscheuche... Stella mit einem kleinen milden Siegeslächeln, Bernhard mit dem gelangweilten Blick dessen, der zu viele Siege gefeiert hat, um sie noch zu genießen. Hänsel und Gretel verjagen die Hexe, in der Hauptrolle: Bernhard Pamatzke.
"Pia, ich bitte dich, benimm dich wie eine erwachsene Frau", hatte Bernhard gesagt. Und sie hatte ihm gehorcht, war rasch herangewachsen, hatte sich hastig aus der schniefenden wutschnaubenden Zwölfjährigen in die vernünftige Vierzigjährige verwandelt und die dunklen Jalousien vor den Fenstern ihrer Seele herabgelassen, um niemand Einblick zu gewähren in das Krankenzimmer dahinter. Sie hatte Bernhard angelächelt, hatte gesagt: "Ich kann das Leben nehmen, wie es kommt", war fortgegangen und hatte alles Nötige besorgt, den Sekt, das bunte Grußkärtchen mit der Aufschrift FRÖHLICHE WEIHNACHTEN, das Geschenkpapier und das Gift. Keine Kunst, wenn man eine Frau Doktor war.
Es würde auch keine Schwierigkeiten mit dem Verabreichen geben. Sie selbst trank nicht. Jedermann wusste das. Man stellte ihr automatisch ein Glas Orangensaft hin, wenn sie bei offiziellen Anlässen auftauchte. Bernhard dagegen trank gerne. So gerne, dass er inzwischen nur noch bei sehr schummriger Beleuchtung wie ein fröhlicher großer Junge aussah. Einen Augenblick lang sann sie zerstreut darüber nach, ob Stella eigentlich Alkohol trank. Falls ja - nun, Pia würde ihr nicht in den Arm fallen, würde ihr nicht aufschreiend das vergiftete Glas aus der Hand schlagen. Mitgefangen, mitgehangen. Dann fiel natürlich die Friedhofssze-ne flach, auf die sich Pia bereits freute - Stella mit schwarzem Spitzen-tüchlein, Witwenschleier, rot geweinten Augen, verhärmten Mundwinkeln. Dafür Stella im schwarzen Sarg, auf weißem Damast, von Kränzen und Kerzen umrahmt. Auch nicht übel.
Sie kicherte so laut, dass sich der Taxifahrer halb umwandte und ihr einen Blick zuwarf.

Szenentrenner


Sie fuhr mit dem Lift zu Bernhards Dachwohnung hinauf, holte tief Luft, formte ihr Gesicht zu einer starren Maske. Lächelnd wie ein chinesischer Götze drückte sie den Finger auf die Türklingel, nahm Bernhards Hallo-Pia-mein-Schatz-Küsschen auf porzellanener Wange entgegen.
"Hallo, Stella."
"Hallo, Pia."
Ein zweiter chinesischer Götze lächelte. Stellas Gesicht war zur porzellanenen Maske erstarrt. Sie verneigten sich vor einander wie Karatekämpfer vor dem Angriff.
"Ich hab was mitgebracht für die Weihnachtsparty."
"Ich auch."
Pia stellte die Sektflasche auf den Tisch. Stella legte ein komplizier-tes Gebilde aus goldgeblümtem Seidenpapier und Schleifchen daneben. Sie öffnete die kunstvolle Verpackung, enthüllte eine Weihnachtstorte, Marzipan mit schneeweißer Zuckerglasur, in der Mitte ein grinsender Santa Claus, darum herum ein Kranz von roten und goldenen Zuckerkerzen. Klein, köstlich, in einem Bettchen aus spitzenverzierter weißer Pappe, goldener Stempel einer der teuersten Konditoreien in der Stadt.
"Ich darf ja nicht, aber ich dachte, du und Bernhard -"
Stella leckte sich über die Lippen. Sie hatte eine Schwäche für Näschereien. Bernhard auch. In der Konditorei, deren goldener Stempel auf der Verpackung prangte, waren er und Pia öfters gemeinsam zu Gast gewesen, waren im Garten gesessen, Kaffee mit Sahnehäubchen aus zierlichen Tässchen, teure Leckerbissen, mit weißem Zuckerguss glasiert, glatt wie Marmor...
Sie starrte die Torte an.
Diese hier war nicht glatt wie Marmor. Da war eine winzige Erhebung, ein unregelmäßiges Tröpfchen, ein kaum sichtbares Deckelchen aus Zuckerplättchen über einem Loch, durch das die Spitze einer Injektionsnadel ins Innere des Kuchens gedrungen war -
Sie hob langsam den Kopf und blickte Stella an.
Und plötzlich sah sie es ganz deutlich. Sah, welche harten Linien der Kummer um Stellas Mundwinkel meißelte, wie geschwollen die Tränensäcke nach einer durchweinten Nacht waren, wie stumpf und tot die Haut der Verlassenen wirkte.
Pia begriff schlagartig. Begriff, dass die blutleere Stelle in Bernhards Innerem, die er sein Herz nannte, bereits wieder von jemand anderem besetzt war. Seine Zuneigung zu Stella hing nur noch an einem Zipfelchen, an einem Fädchen, das er unbarmherzig abreißen würde, sobald er der neuen Eroberung sicher sein konnte. Leb wohl, mein Schatz, leb wohl.
Die beiden Frauen starrten einander an, und jede fand ihre eigenen Erinnerungen in den Augen der anderen gespiegelt: Die schwarzen Nächte, in denen kein Bernhard an ihrer Seite lag; die Giftpfeile hämi-scher Kritik, die in ihre Flanken drangen und das nahende Ende signalisierten; die aus Wut und Qual gemischten Tränen, die Bernhard nicht sah und nicht beachtet hätte, hätte er sie gesehen. Sie trafen einander im Niemandsland der Verlassenen, auf der weiten schwarzen Ebene unter dem Himmel, der wie ein Bleidach auf dieser Höllenwelt lastet, beide noch mit den blauen Flecken, wo er sie abschiednehmend ins Bäckchen gekniffen hatte, beide noch mit dem wie Säure brennenden Leb-Wohl-Mein-Schatz-Leb-Wohl-Küsschen auf der tränennassen Wange... und dort auf dieser finsteren Ebene schüttelten sie einander die Hand.
Einen Augenblick lang nur, aber lang genug, um die gemeinsame Unterschrift unter Bernhards Todesurteil zu setzen.
"Wirklich schade, dass ich gerade Diät halte", sagte Pia mit ihrem süßesten Lächeln. "Ich liebe Marzipantorte. Aber ich fürchte, heute werde ich darauf verzichten müssen."
"Ich muss mich auch einschränken", sagte Stella und gab das Lächeln zurück wie ein Spiegel. "Ich fürchte, heute wird es nichts mit dem Sekt. Ich bleibe beim Mineralwasser."
Bernhard kehrte aus der Küche zurück, den Eiskübel für den Sekt in der Hand und sein strahlendes Dumme-Jungen-Lächeln auf dem Gesicht. "Nun, wie geht's meinen Mädels?", fragte er. "Vertragt ihr euch auch schön? Das Essen ist fertig."
Sie setzten sich an den weihnachtlich geschmückten Tisch, Pia links von Bernhard (schließlich war sie die seit längerem Abservierte), Stella rechts von ihm (weil sie noch nicht gänzlich abserviert war). Sie aßen und tranken und machten artig Konversation und warteten auf den Augenblick, der alles entscheiden musste. Schließlich war es ja gut möglich, dass Bernhard gerade Gastritis hatte oder ebenfalls Diät hielt oder den Anonymen Alkoholikern beigetreten war. Aber nichts dergleichen war geschehen. Bernhard aß ein großes Stück Torte und trank ein großes Glas Sekt.
Pia sah ihm zu, wie er sich die Krümel von den feuchten Lippen wischte und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Stellas Gift wirkte. Schneller als ihr eigenes? Oder langsamer? Und welche Sym-ptome würde es hervorrufen? Dieselben wie das ihre? Vielleicht wirkten die beiden Gifte gegeneinander und hoben eines das andere auf? Vielleicht sprang Bernhard die Marzipantorte aus dem Mund wie dem Schneewittchen der vergiftete Apfel, und er kehrte ins Leben zurück? Schneewittchen wird von seiner bösen Stiefmutter vergiftet, in der Hauptrolle: Bernhard Pamatzke.
Sie kicherte in die hohle Hand.
Es war ein unvorsichtiges Kichern, und hätte Bernhard es beachtet und sich gefragt, was da im Busch war, hätte sie Ärger bekommen, aber in diesem Augenblick läutete es draußen an der Türe, und Bernhard ging hinaus.
Die beiden Frauen blickten einander wortlos an.
Pia fühlte, dass sie beinahe barst vor Fragen. Zum ersten Mal, seit Stella in ihr Leben eingebrochen war, hatte sie das Bedürfnis, mit ihr zu reden, sie zu fragen: Welches Gift hast du verwendet? Wo hast du es gekauft? Wann kam dir das erste Mal der Gedanke, ihn umzubringen? Als er dich und mich gemeinsam zu seiner Weihnachtsparty einlud? Oder als er dir mitteilte, dass er eine andere gefunden hat, dass er dich nur noch als billige Bequemlichkeit fürs Bett behält, bis er die andere auf Nummer sicher hat, Spatz in der Hand und Taube auf dem Dach? Als du bemerkt hast, dass du gebückt dastehst und ihm die Kehrseite zuwendest und auf den Tritt wartest, der dich ins Land der Verlassenen befördern wird, auf die schwarze Ebene unter dem Bleihimmel? Wann hast du dich entschlos-sen, es zu tun? Vielleicht an dem selben Abend, an dem ich im Delikatessenladen den Sekt und von einem drogensüchtigen Chemiker das Fläschchen Gift kaufte?
Bernhard kehrte strahlend zurück, einen großen tannengrünen Karton in der Hand. Eine rot-goldene Schleife prangte darauf und ein Kärtchen, auf dem sieben tanzende Zwerge ein Spruchband mit den Worten FRÖHLICHE WEIHNACHTEN hoch hielten. Alice hatte immer schon einen reichlich primitiven Geschmack gehabt.
"Na, was sagt ihr?" Er stellte den Karton auf den Tisch. "Da hat sie doch tatsächlich an mich gedacht, meine Gute. Mal sehen, was sie mir da schickt! Soll ich's gleich auspacken, was meint ihr?"
Pia war einen Augenblick lang zu weit fort in Gedanken, um gleich zu antworten. Sie hatte Alice nur einmal gesehen - eine unscheinbare Frau mit harten Kerben um die Mundwinkel, wie der Kummer sie einmeißelt, von durchweinten Nächten geschwollenen Tränensäcken und stumpfer, toter Haut. Alice war die Vergessene von Bernhards Frauen gewesen, die eine, die sich nicht mehr am Wettkampf beteiligte, die erschöpft und zerstört in einem Winkel hockte und zusah, wie die anderen sich abhetzten, um seine schwindende Gunst fest zu halten. Alice war abgehakt, eine tote Nummer, eine Null. Jetzt hatte sie sich selbst zur Party geladen. Das heißt, sie hatte als ihren Stellvertreter diesen großen grünen Karton geschickt, diesen Boten, der Bernhard ihre Grüße überbrachte -
Stella stand plötzlich auf. "Eine Sekunde noch, Schatz", sagte sie. "Ich möchte mir nur rasch die Hände waschen, dann können wir gemeinsam dein Geschenk aufmachen. Augenblickchen!" Sie küsste ihn lächelnd auf die Wange und eilte hinaus.
Pia starrte ihr nach. Und dann sprang sie ebenfalls auf.
"... schnell mal Nase pudern", murmelte sie und lief ins Vorzimmer.
Stella war schon an der Wohnungstür.
Keine von beiden sprach. Lautlos schlüpften sie hinaus, in die kühle abendliche Stille des Treppenhauses, in dem nur da und dort ein Lämpchen brannte. Seite an Seite rannten sie die Treppe hinunter, viele Stockwerke weit, schoben sich durch die Drehtür auf die Straße hinaus. Stella keuchte vor Anstrengung. Pia presste die Hand auf die schmerzende Brust.
"Hast du -", stieß sie hervor.
"Weißt du -", keuchte Stella im selben Augenblick.
Keine von beiden beendete den Satz.
Ein dumpfer Laut übertönte den Lärm des abendlichen Verkehrs, ein Laut, als schlage jemand mit einer zusammengefalteten Zeitung scharf auf den Tisch, und dann wurde hoch über ihnen ein Fenster nach außen gepresst, entfaltete sich berstend wie eine riesige gläserne Blume, während eine orangerote Stichflamme in den Nachthimmel schoss.
Alices Geschenk hatte seinen Empfänger erreicht.

26. Dez. 2009 - Barbara Büchner

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