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Die Auserwählte
von Alf Leue

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Es ging ein Säuseln durch den abendlichen Wald. Sonst war es ganz still. Totengleich? Nein, nur tiefruhig. Nicht dass keine Vögel zwitscherten, sich kein Fuchs sanft durch das Unterholz schob oder sich das Wild am Rande der Lichtung versammelte. Die tiefe Ruhe kam aus sich selbst. Es herrschte Frieden.
Ein trügerisches Bild, dachte Eila. Sie saß auf einem bemoosten Baumstamm unter der Eiche, wo sie am liebsten weilte, wenn sie nachdachte. Und das tat sie oft in letzter Zeit:Wer frisst wen? Wo ist das Blut, das die Natur braucht, um sich selbst zu erhalten. Ich lasse mich nicht täuschen!
Und dennoch war auch sie gefangen von der Ausstrahlung, die der Wald so kurz vor dem Sonnenuntergang verbreitete. Was hatte der Phaelantron zu ihr gesagt? Sie müsse die Gesetze des Schicksals achten, die Regeln der Unsterblichen respektieren, sich nicht gegen sie auflehnen, sonst würde sie vergehen? Kein schöner Gedanke, wo sie doch vor wenigen Wochen erst vergangen war.
Eila erhob sich und betrachtete ihren nackten Körper in einer Pfütze, in der Mückenlarven aufgeregt umherirrten. Was sie dort sah, gefiel ihr. Sie war noch hübscher, als sie es als Mensch gewesen war und von den Spuren ihres gewaltsamen Todes war nichts mehr zu sehen. Sie strich sich durchs Haar. Ein maigrünes Blatt löste sich daraus und torkelte zu Boden. Eila sah sich um, blickte über die Lichtung, an deren Rand uralte Bäume Wache standen. Schließlich setzte sie sich wieder auf den Baumstamm. Sie wartete darauf, dass etwas geschah. Irgendetwas. Doch worauf wartete sie genau? Sie wusste es nicht. Die Zeit verrann. Scheinbar ohne Sinn. Mittlerweile verlor sich die sinkende Sonne zwischen den Ästen der Bäume. Sie warf ihre Lichtstrahlen launisch auf Eilas Gesicht oder auf den Boden. Ganz wie es ihr gefiel. Wie es sich anfühlte alle Zeit der Welt zu haben, keine wirkliche Aufgabe, die die Stunden des Tages mit Sinn erfüllte und deren Anstrengungen den Grund für einen tiefen Schlaf bedeuteten. Eila hatte nichts von beidem. Schon lange nicht mehr. Eigentlich nicht einmal Zeit, denn die war nun ihr Gegner, nicht ihr Freund. Die Zeit lief mit Eilas Suche um die Wette und würde sie gewinnen, so wollte Eila den Ausgang ihres Schicksals lieber nicht erfahren. Ganz zu schweigen davon, wie tief enttäuscht dann der Phaelantron von ihr wäre, denn er hielt große Stücke auf das junge Zwischenwesen und nannte sie die Auserwählte.
„Ich begreife nicht, wo ich hingehen muss!“, rief sie plötzlich in den Wald hinein, als könne sie dort irgendjemand hören, geschweige denn verstehen. Sie hatte ein trotziges Gesicht aufgesetzt, doch wer genau hinsah, konnte einen Hauch aufkeimender Verzweiflung in ihren Augen wahrnehmen.
„Auf eine gewisse Art beneide ich die Menschen im Dorf.“ Sie senkte die Stimme und sprach weiter zu sich selbst. „Sie sind doch auch von der Pestilenz geplagt, zerreiben sich am Leben auf dem Acker, müssen sich auf Befehl und für die Launen ihrer Herren verstümmeln und deshalb oft grausam und sinnlos sterben, sie sind doch derart gefangen in ihrem Glauben und ihrem Bemühen, nicht zu früh zu Staub zu zerfallen, dass sie die wahre Größe des Lebens nicht erkennen müssen. Diese Last bleibt ihnen erspart. Den meisten, zumindest.“
Eila drehte sich und blickte direkt in die blutrote Sonnenhälfte, die bereits vom Horizont aufgefressen wurde. Ein Spatz setzte sich nur zwei Schritte von ihr entfernt ins Moos. Er tschilpte sie unerschrocken an und begann in den Nadeln, die den Waldboden bedeckten, herumzupicken. Unvermittelt hielt er inne und sah sie an. Eila beschloss, zu ihm zu sprechen. Es gab niemanden sonst, der sich für das Schicksal einer Auserwählten wohl interessieren könnte.
„Meine Bestimmung wartet auf mich“, erzählte sie dem kleinen Vogel, „doch ich kenne sie nicht. Ich weiß nur eines: Ich muss sie finden. Ich werde sonst nie zur Reinheit gelangen. Nie werde ich auf dem Rücken des Phaelantrons über die Wipfel der Bäume donnern und das Gute gegen die Vernichter mit meinen Schwertern verteidigen.“
Der Spatz schien genug von Eilas Vortrag zu haben und flatterte achtlos davon. Eila war nicht beleidigt. Sie war einsam.
„Wo soll ich suchen? Wen soll ich fragen? Der Phaelantron wird es mir nicht verraten. Er darf es nicht“, flüsterte sie und eine Träne rann aus ihrem rechten Auge, folgte der fein geformten Wange und verharrte einen Moment lang an Eilas Lippen. Dann ließ sie sich leise in die Tiefe fallen.
Eila sprang auf und wischte sich fast wütend mit dem Handrücken über die Augen. „Ich muss meine Bestimmung finden“, sagte sie schließlich mit fester Stimme. Sie warf ihr zerzaustes Haar zurück, hüpfte leichtfüßig über den Baumstamm, auf dem sie gesessen hatte und ging in den sich verdunkelnden Wald hinein.
Szenentrenner

Eila hatte bis zum Mittag tief und fest geschlafen. Die Sonnenstrahlen weckten sie und sie fühlte sich erholt, aber unerfüllt. Was musste sie tun? Eine innere Stimme sagte ihr, sie solle sich den Sterblichen, den Menschen im Dorf zuwenden. Der Phaelantron hatte gesagt, dass sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen solle, denn nichts sei ehrlicher, als das echte Gefühl. Was hatte sie zu verlieren? Was hatte sie zu gewinnen? Viel. Alles. Sie streckte sich kurz und sprang leichtfüßig auf. Dann ging sie durch den Wald in Richtung des Dorfes, dessen Rauch aus verrußten Schornsteinen und Kaminen sie bereits weit vor den hölzernen Palisaden riechen konnte. Sie lief so leicht und flink durch das Dickicht, dass das Geäst fast keine Zeit hatte, unter ihr zu knacken. Sie sah Flechten an den vermoderten Baumstümpfen und Steinen auf dem Waldboden. Ginster, dessen Geäst, noch gräulich, ohne Blatt und Blüte, aus dem sandigen Boden ragte und hie und da einen Hasen, ein Reh oder einen Vogel des Waldes. Alles trug den Zauber des Frühlings in sich. Wiedergeburt.
Kaum sichtbar sprossen überall neue Pflanzen und Gewächse aus dem Boden. Die Buchen und die Kastanien, die lieber an etwas lichteren Stellen ihre Wurzeln in die Erde gruben, hatten schon einen zarten Hauch über ihren Wipfeln. So als hätte jemand ein fadenscheiniges, leuchtend grünes Tuch über sie gelegt. Der Holunder bereitete sich darauf vor, seine weißen Dolden im August zur Blüte zu bringen. Er schob schon jetzt kleine saftige Blätter und Blütenansätze aus seinen holzigen Fingern, die sich wie Federn in den manchmal einsetzenden Frühlingsbrisen auf und ab bewegten. Eila sah das alles, nahm es wahr, in sich auf, war eins mit diesem Wald. Hierher kam sie, hieraus war sie entsprungen. Oder nicht?
Sie hatte die Anhöhe oberhalb des Dorfes erreicht und sprang jäh zurück. Zwei junge Männer saßen unter einer Buche am rechten Rand der Kuppe. Sie hatten ihre Pferde an den Baum gebunden und saßen zu seinen Füßen im Gras. Eila hockte sich lautlos hinter einen vermoderten Eichenstamm, den wohl ein Sturm umgerissen hatte. Sie beobachtete die beiden jungen Männer. Plötzlich wandte sich der eine von beiden zu ihr um und sah sie an, ohne sie sehen zu können. Eila durchfuhr ein seltsames Gefühl von Sehnsucht, dass sie so nicht kannte.
Er stieß seinen Freund an und erhob sich. „Da ist doch jemand!“
„Wer soll denn da sein?“, entgegnete dieser belustigt, „du siehst Gespenster, Daniel.“
„Doch, ich bin sicher. Es ist ein eigenartiges Gefühl. Ich weiß auch nicht. Wir werden beobachtet, aber es ist nichts Bedrohliches. Es ist irgendwie“, er zögerte. Dann sagte er: „Schön, irgendwie wunderschön“.
Daniels Freund prustete los. „Hast du jetzt schon Wein gesoffen zu dieser frühen Stunde, Mann? Irgendwie schön, irgendwie wunderschön“, äffte er ihn nach. „Setz dich wieder zu mir, da ist nichts, glaube es mir.“
Zögerlich wandte sich Daniel um und setzte sich wieder zu seinem Freund ins Gras. Eila lag ganz still und lauschte, bis sich die beiden nach etlicher Zeit entfernten und zurück zum Dorf ritten. Sie war verwirrt, glücklich und einsam und wusste nicht warum. Aber es war wunderschön.
Szenentrenner

Der Phaelantron erschien plötzlich. Mitten auf der Gabelung, wo sich der Weg zum Dorf hin verzweigte, stand er und atmete schwer. Eila hatte bis zum Einbruch der Dämmerung am Rande der Anhöhe ausgeharrt, wo sie die beiden jungen Männer beobachtet hatte. Die Stimme des Phaelantrons war leise, doch sie war überall. „Einigen Menschen ist es möglich, dich wahrzunehmen und so zu sehen, wie sie dich sehen können, Eila. Hüte dich davor, denn es sind nur die Vernichter und die Bewahrer, die dazu imstande sind. Aber du kannst sie nicht gleich unterscheiden, und wenn du sie erkennst, kann es schon zu spät sein. So hilfreich die Begegnung mit einem Bewahrer auch sein mag, umso tödlicher kann das Treffen mit einem Vernichter ausgehen. Darum sieh dich vor!“
„Aber wie soll ich meinen Weg finden und meine Bestimmung erreichen, wenn ich doch einen Bewahrer dazu benötige, mich aber nicht zu erkennen geben darf?“, fragte Eila ratlos.
Ein kurzes, aber mächtiges Zittern ging durch die Schwingen des Phaelantrons. Dann erwiderte er: „Du bist kein Mensch, kein Tier und auch kein Geist. Du bist die reine Seele. Ein Zwischenwesen für die Zeit, bis du deine Bestimmung gefunden und deine Aufgabe gelöst hast. Du bist auserwählt, Eila. Horche in dich, in die jungfräuliche Reinheit deines neugeborenen Wesens und du wirst es erkennen. Hast du nicht heute schon begonnen zu ahnen und zu wissen? Es war das Gefühl, nicht wahr? Du hast es auch gespürt. Neu und rein. Der Anfang ist gemacht, Eila, vertraue dir selbst. Gute Wesen haben gute Gefühle. Vertraue deinem Gefühl und du wirst dich selbst erkennen, dir selbst eine Gestalt geben. Vergiss nie, dass es eine Prüfung ist. Du bist zu Höherem bestimmt, aber, ob du es jemals erreichst, das bestimmst du selbst. Nur du allein. Die Hölle wartet nicht auf dich, aber das Vergessenwerden in der Unendlichkeit des Universums. Oder aber gleißend helle Spähren, angefüllt mit Erkenntnis und einer unermesslichen Kraft, in der du als Werkzeug des Guten das Schicksal der Welt mitbestimmen kannst. Von meinem geflügelten Rücken herab wirst du die bekämpfen, die das Dunkle heraufbeschwören wollen. Wir brauchen dich. Aber nur dann, wenn du die Prüfung bestanden hast, bist du würdig und wirst mächtig werden. Nie wieder wirst du das kümmerliche Menschenwesen sein, das du warst, bevor sie dich ermordeten und nie wieder wirst du dich selbst so sehr suchen, wie du es im Augenblick tust. Wähle selbst, mehr gibt es nicht zu sagen. Ich komme zurück, wenn du bereit bist. Ich werde es spüren.“
Eila wusste, dass der Phaelantron sie prüfend anblickte, doch sie konnte ihn nicht wirklich sehen. Zu verschwommen war seine Gestalt, als wolle er es nicht zulassen, dass sie ihn erkannte. Noch nicht.
Einen Wimpernschlag später war er verschwunden, genau so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Was hatte er gesagt? Sie habe heute zu ahnen begonnen? In sich hineinhören, sich selbst vertrauen, das sei der Weg. Eila traf eine Entscheidung. Eine richtige Entscheidung, so hoffte sie und huschte nach rechts in Richtung des Dorfes davon. Sie wollte den Jüngling wiedersehen.
Der Phaelantron stand da und sah ihr nach. Er hatte die ganze Zeit neben Eila gestanden und wäre er ein Mensch gewesen, so hätte man jetzt sehen können, dass er glücklich lächelte.
Szenentrenner

Eila stand vor dem Palisadenzaun. Er war gut und gerne so hoch wie drei Mann. Die Balkenenden hatten die Menschen aus dem Dorf mit ihren Äxten als Schutz vor Feinden spitz zugehauen. Der Mond, der hinter Eilas Rücken aufgegangen war und sein silbernes Antlitz über den pechschwarzen Waldsaum schob, malte lange, Schatten über die Ebene. Ein Bach floss durch das Dorf. Er gurgelte leise durch den Verschlag am Fuße des Palisadenzauns. Dorthin ging Eila und stieg ins Wasser. Sie ließ los, ließ sich treiben, wurde eins mit dem Element und floss mit ihm durch das Hindernis, als wäre es nichts. An der hölzernen Brücke angekommen, klammerte sie sich fest und zog sich aus dem Bach. Sie war nicht nass. Alles Wasser war im Bachlauf geblieben. Eila sah sich vorsichtig um. Auch hier konnten Vernichter lauern. Sie hingegen suchte diesen jungen Mann. War er ein Bewahrer, der Schlüssel zu ihrem Schicksal? Sie hoffte es und schlich im Schutze der Dunkelheit davon, entlang an den Reihen der windschiefen Häuserreihen, die sich im Mondlicht wie treue Gefährten aneinanderduckten.
Eila wusste nicht, warum. Doch etwas hielt sie dazu an, stehen zu bleiben. Hier wohnte er, sie war sich sicher. Sie drückte die schwere Holztür auf. Es knarrte und die Tür mahlte geräuschvoll über den sandigen Dielenboden. Eila hielt den Atem an. Nichts. Sie schob die Tür vorsichtig wieder zu und schlich die Stiegen hinauf. Es gab im Haus nur zwei Kammern. Eine unten und ein oben. Er war allein in diesem Haus. Eila schlich an das Bett des Schlafenden und tastete nach dem Talglicht auf dem grob gezimmerten Nachtschränkchen. Sie entfachte es mit der Energie, die in ihr wohnte. Mit den Fingern. Sie hatte nicht gewusst, dass sie dazu in der Lage war. Die Flamme breitete sich tanzend und knisternd auf dem Docht aus und tauchte das Gesicht des jungen Mannes in einen diffusen Lichtkreis. Eila stellte die Leuchte ab und besah den Schlafenden. Wie ein dünner Lavastrom ergoss es sich in ihr Herz.
„Du bist wunderschön“, flüsterte sie, „du bist rein und gut. Ich habe es gewusst, als ich dich auf der Anhöhe sah, zusammen mit deinem Freund, erinnerst du dich?“
Der junge Mann schlief tief und fest.
„Ich glaube, ich könnte dich lieben“, hauchte das Zwischenwesen und beugte sich sanft über sein Gesicht. Ihre Lippen berührten die seinen. „Ich vertraue dir. Ich liebe dich!“
Plötzlich hörte Eila den Flügelschlag des Phaelantron draußen auf dem Marktplatz des Dorfes. Er schnaubte, schrie freudig und rief nach ihr. Er stampfte so mächtig mit den schuppigen Krallenfüßen auf den Boden, dass das Haus erzitterte. Er wollte sie holen. Endlich.
Eila strich Daniel zärtlich durch die Haare. „Du bist der Bewahrer und ich werde dir alles erklären, wenn ich zu dir zurückkehre, um dich zu holen. Doch nun muss ich gehen. Mein Weg hat gerade erst begonnen und der Phaelantron erwartet mich.“

08. Feb. 2010 - Alf Leue

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