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Der Wunderbaum von Frank W. Haubold
EVGENIJ ROOT © http://www.evgenijroot.de Ich muß raus hier ...
Gabriel Grünberg wußte es, als er auf dem Weg in die Küche am Arbeitszimmer vorbeikam. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und es roch nach Schweiß und kaltem Rauch. Er bekam einen Hustenanfall und spuckte ein wenig Blut in sein Taschentuch. Es war kein wirklich schlimmer Anfall, aber die Botschaft war unmißverständlich: Er mußte etwas unternehmen.
Natürlich sollte er mit dem Trinken aufhören oder wie jeder vernünftige Mensch vor Mitternacht zu Bett gehen, aber was blieb dann noch? Zu oft hatte er sich den Argumenten des vorgeblich Vernünftigen gebeugt, irgendwann mußte Schluß sein. Die Dinge waren wie sie waren, und er hatte nicht vor, sie zu ändern.
Weil sie sich nicht mehr ändern lassen ...
Wie oft hatte er sich das gesagt, wenn er nachts wachlag, gefangen in Erinnerungen und Selbstvorwürfen. Geholfen hatte es wenig. Wie auch, solange die Bilder lebendig blieben?
Ich habe etwas übersehen.
Davon war Gabriel mittlerweile fest überzeugt. Es gab keine rationalen Gründe für diese Annahme, aber das bestätigte ihn eher noch in seiner Gewißheit. Es war eine Prüfung gewesen, und er hatte versagt ...
Während er frühstückte, nistete sich eine Idee in seinem Hinterkopf ein nein, eigentlich war es mehr als das ein Zwang, gegen den er sich weder wehren konnte noch wollte.
Hatte er nicht eben festgestellt, daß er dringend einen Ortswechsel brauchte?
Die Arbeit an seinem neuen Buch ging ohnehin eher schlecht als recht voran. Da kam es auf ein, zwei Tage Unterbrechung nicht an. Außerdem konnte er das Notebook mitnehmen und abends im Hotel noch ein paar Zeilen schreiben.
Schreiben? Dort? Das glaubst du doch selbst nicht.
Natürlich würde er nichts schreiben, dort; dennoch wollte Gabriel etwas dabeihaben, das ein wenig Normalität ausstrahlte. Etwas, das nichts mit jenem Früher zu tun hatte, das ihn nie wirklich losgelassen hatte.
Es dämmerte bereits, als Gabriel die schmale gewundene Zufahrt zum Rupertshof hinauffuhr. Der Berggasthof war damals der einzige Hotelbetrieb in der Umgebung gewesen, und daran schien sich in der Zwischenzeit auch wenig geändert zu haben. Trotz seines Waldreichtums war das Steininger Land alles andere als ein Touristenmagnet. Damals hatten sie die Abgeschiedenheit der Gegend als angenehm empfunden ...
Der Parkplatz, von schmiedeeisernen Laternen in gelbliches Licht getaucht, war fast leer. Ein Audi mit Münchner Kennzeichen, ein klappriger VW-Bus und ein dunkelgrüner Jeep, das war alles.
Viele Gäste waren also nicht zu erwarten. Dennoch schlug Gabriel das Herz bis zum Hals, als er die Tür zur Gaststube öffnete. Damals hatten sie häufiger hier zu Abend gegessen, solide, kräftig gewürzte Hausmannskost, die nicht aus der Mikrowelle kam. Dazu gab es frisch gezapftes Bier aus Maßkrügen und die eine oder andere Anekdote vom Rupert-Wirt, einem passionierten Jäger, der die Gegend wie seine Westentasche kannte. Und der doch erstaunlich schweigsam wurde, wenn die Rede auf das alte Forsthaus kam. Aber vielleicht gehörte auch das zu den Dingen, die Gabriel erst im Nachhinein seltsam erschienen waren. Weil es doch irgend eine Erklärung geben mußte ...
Der Wirt würde ihn wiedererkennen, davon war Gabriel überzeugt, und natürlich würde er Fragen stellen Fragen, die er auch nach all den Jahren weder beantworten konnte noch wollte. Doch seine Befürchtung war unbegründet. Es war nicht der Rupert-Wirt mit seinem gezwirbelten Schnurrbart, der hinter der Theke stand, sondern eine Frau.
Die Tochter, dachte Gabriel, ohne daß ihm ein Grund für diese Vermutung einfiel. Es muß seine Tochter sein.
Die Frau hinter dem Tresen musterte ihn mit einem kurzen Blick und erwiderte dann seinen Gruß. Ihr Lächeln war nicht mehr als eine Andeutung, dennoch nahm es ihrem Gesicht für einen Augenblick die Strenge. Vielleicht waren es die leicht hervorstehenden Wangenknochen, die es ein wenig herb erscheinen ließen, oder der ein wenig zu schmal geratene Mund. In jedem Fall schien die Frau nicht der Typ zu sein, der viel auf Äußerlichkeiten gab.
»Sie wünschen?«
»Ich würde gern im Gasthof übernachten, das heißt, wenn Sie noch Zimmer frei haben.«
»Doppel- oder Einzelzimmer?« Die Frage klang geschäftsmäßig, dennoch bemerkte Gabriel, wie ihr Blick in Richtung Tür glitt. Offenbar ging die Frau nicht davon aus, daß er allein gekommen war.
»Ein Einzelzimmer, bitte.«
»Dann füllen Sie bitte das hier aus. Ich hole Ihren Schlüssel.«
Gabriel nahm das Meldeformular und nutzte die Zeit, um sich in der Gaststube umzusehen. An einem der größeren Tische aßen Männer in Arbeitskleidung zu Abend, und etwas abseits saß ein älteres Ehepaar beim Wein. Das war alles. Keiner der Gäste nahm von ihm Notiz. Die Männer tauschten hin und wieder halblaute Bemerkungen, die Gabriel jedoch unverständlich blieben.
Er griff zum Kugelschreiber und begann das Formular auszufüllen.
»Bitte, Ihr Schlüssel. Möchten Sie zu Abend essen?« Dieses Mal erreichte das Lächeln ihre Augen. Aus irgendeinem Grund fand Gabriel die Frau sympathisch. Vielleicht weil sie ihn an die Westernfilme seiner Jugend erinnerte. Sie sah aus wie jemand, der sich mit Pferden auskannte und im Bedarfsfall Schußwunden mit Whiskey auswusch.
»Ja, sehr gern.«
Er bereute seine Entscheidung nicht. Der Rehrücken war zart und saftig, und der rote Landwein, den er dazu bestellt hatte, stand dem Braten in nichts nach. Gabriel genoß die Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete, und verdrängte jeden Gedanken an das Ziel seiner Reise.
»Darf es noch etwas sein?«
In der Stimme der Frau klang keinerlei Ungeduld, obwohl Gabriel, wie er erst jetzt bemerkte, der letzte Gast war.
Den Aufbruch der Forstarbeiter hatte er noch beiläufig registriert, doch auch der Tisch, an dem das Touristenpaar gesessen hatte, war mittlerweile leer.
»Danke, besser nicht. Morgen früh ist die Nacht zu Ende.«
»Dann schreibe ich die Rechnung aufs Zimmer. Bleiben Sie länger?« Die Frage klang beiläufig, dennoch glaubte Gabriel, eine Spur Interesse herauszuhören. Früher hätte er vielleicht versucht herauszufinden, ob er in Sachen Pferdediebstahl und Whiskey richtig gelegen hatte. Früher, ja vielleicht ...
»Nein, ich muß morgen früh weiter ... na ja, eigentlich ist es gar nicht mehr so weit.«
»Dann sind Sie wohl ein Kollege von diesem Doktor, wie hieß er doch gleich ... Fehrmann oder so ähnlich, der das alte Forsthaus gemietet hat?«
Jemand wohnte im Forsthaus?! Schlagartig war Gabriel hellwach. Er hatte nicht damit gerechnet, daß das Haus nach all den Jahren überhaupt noch bewohnbar war. Was hatte der Kerl dort zu suchen?
»Nein«, erwiderte er mit mühsam unterdrückter Erregung. »Obwohl ich auch in die Gegend wollte. Wissen Sie, was der Mann dort vorhat?«
»Allerdings«, versetzte die Frau mit einem amüsierten Lächeln. »Er hat es ja jedem hier auf die Nase gebunden, bevor er sich mit seinem Kram auf den Weg gemacht hat.«
»Und was war das?«
»Ich glaube, es hatte irgendwie mit Fossilien zu tun. Angeblich wäre er einer großen Sache auf der Spur, einem Meteoriteneinschlag oder so etwas ähnlichem. In jedem Fall wollte er zum Amselsee, um dort in der Nähe irgendwas auszugraben.«
»Ein Verrückter?«
»Wie mans nimmt. Er hatte Fotos dabei, Satellitenaufnahmen. Darauf könnte man es ganz deutlich erkennen. Mir hat er sie nicht gezeigt, aber den Gästen, die an seinem Tisch saßen.«
»Und jetzt wohnt er im Forsthaus?«
»Ja, ich denke schon.« Sie zuckte mit den Achseln. »Warum interessiert Sie das eigentlich, wenn Sie den Mann nicht kennen?«
»Nur so«, murmelte Gabriel und wich ihrem Blick aus.
»Na ja, ist auch nicht so wichtig«, sagte die Frau leichthin, dennoch hatte er den Eindruck, daß sie ihm die Zurückweisung übelnahm. Natürlich konnte er jetzt aufstehen und auf sein Zimmer gehen, aber er wollte ihr Gespräch nicht mit einem Mißklang enden lassen.
»Ich kenne den Mann wirklich nicht«, begann er zögernd, »und es ist ziemlich lange her, daß ich das letzt Mal hier war ...«
Fast dreißig Jahre, dachte er. Nur ein paar Monate fehlen noch.
»Ja ...«
Gabriel war sich nicht sicher, ob es eine Bestätigung des Gesagten sein sollte oder die Aufforderung weiterzusprechen. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten.
»Sie müssen damals noch ein Kind gewesen sein.«
»Stimmt, ich war zwölf. Aber ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis, was Gesichter anbetrifft.«
»Ohne Zweifel«, erwiderte Gabriel seltsam berührt. Zwar hatte sich damit auch seine eigene Vermutung bestätigt, dennoch war es kaum zu glauben, daß sich die Frau nach all den Jahren noch an ihn erinnerte. Wenn sie tatsächlich die Tochter des Gastwirtsehepaars war, hatte er sie nicht öfter als zwei- oder dreimal beim Abräumen gesehen. Aber er durfte sich nicht ablenken lassen. Viel wichtiger war, was es mit diesem Fremden auf sich hatte, und ob er noch in der Gegend war.
»Hat er sich später noch einmal hier sehen lassen, dieser Doktor Fehrmann?«
»Nein«, erwiderte die Frau mit einem leichten Stirnrunzeln. »Vermutlich hat er sich inzwischen dort eingerichtet. Aber deswegen sind Sie doch nicht hergekommen, oder?«
Sie weiß es also. Gabriel spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
»Nein«, sagte er dann leise. »Aber ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Kann ich verstehen.«
»Das hat nichts mit Ihnen zu tun«, versuchte er sich zu entschuldigen. »Sie sind sehr nett.«
»Vielleicht bin ich das«, entgegnete die Frau, ohne eine Miene zu verziehen, und wandte sich zum Gehen. »Vielleicht aber auch nicht ... Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten.«
»Ja, natürlich, ich wollte sowieso gerade aufbrechen«, beeilte sich Gabriel zu versichern.
»Gut, den Schlüssel haben Sie ja schon. Es ist gleich das zweite Gästezimmer auf der rechten Seite.«
»Danke, und gute Nacht«, erwiderte Gabriel ein wenig verunsichert. »Frau ...?«
Es war die letzte Möglichkeit, dem Abschied ein wenig von seiner Unverbindlichkeit zu nehmen, und wider Erwarten funktionierte es.
»Nennen Sie mich einfach Hanna«, sagte die Frau mit einem amüsierten Lächeln. »Wie ich Sie nennen werde, überlege ich mir noch. Gute Nacht!«
Hanna also, dachte Gabriel seltsam beschwingt, während er die Treppen zum Obergeschoß hinaufstieg, das Mädchen vom Rupertshof ...
Er kam nicht zum Schreiben an diesem Abend und auch nicht in der Nacht, obwohl er das Notebook vorsichtshalber mit nach oben genommen hatte.
Die Frau trat ins Zimmer ohne anzuklopfen und genoß seine Überraschung. Sie gab keine Erklärung ab; sie wußten beide, weshalb sie gekommen war. Erst später, als sie neben ihm lag und ihr Atem sich beruhigt hatte, begann sie zu sprechen:
»Du wirst dort nichts finden, nicht nach so langer Zeit.«
»Nein«, erwiderte er gedankenverloren und streichelte ihr Haar. »Wahrscheinlich nicht. Aber wenn ich nicht hergekommen wäre, würde ich es irgendwann glauben.«
»Was? Daß die Suchmannschaften etwas übersehen haben?«
»Ja.«
»Wo ist eigentlich deine Frau?«
»Das geht dich nichts an.« Trotzdem mußte er lächeln.
»Stimmt. Sie hat dich verlassen, oder?«
»Ein halbes Jahr danach. Es war das Beste, was sie tun konnte.«
»Du magst dich nicht sonderlich, oder?«
»Nein«, erwiderte er ohne Groll. »Dafür kenne ich mich zu gut.«
»Unsinn«, flüsterte die Frau und zog ihn an sich. »Du kennst niemanden außer den Leuten in deinen Büchern.«
Es stimmte, aber das war nicht wichtig. Nicht jetzt ...
In dieser Nacht schlief Gabriel tief und traumlos und erwachte erst, als die Morgensonne leuchtende Rechtecke auf das Bettzeug zeichnete.
Blinzelnd öffnete er die Augen. Er war allein.
Das helle Licht füllte den Raum und ließ die Erinnerungen der Nacht unwirklich erscheinen. Es wäre schön gewesen, neben ihr aufzuwachen, aber Hanna hatte nicht bleiben wollen. Sie hatte einen Sohn, den sie früh zur Schule fahren mußte, Patrick, und dann waren da auch noch die Hausgäste ...
Wahrscheinlich muß sie auch noch die Pferde füttern, dachte er mit einem Lächeln. Im Grunde war er dankbar dafür, daß sie ihm den Abschied leicht machte. »Ich werde wahrscheinlich nicht da sein, wenn du gehst«, hatte sie gesagt und dann noch etwas Seltsames: »Vielleicht ist es besser, du findest nichts ...«
Es war tatsächlich niemand da, als er die Gaststube betrat. Sein Frühstück stand auf dem Tisch, der Kaffee in einer Thermoskanne. Er aß rasch und ohne großen Appetit, obwohl die Brötchen frisch waren und der Schinken verlockend duftete. Eine Ungeduld hatte ihn erfaßt, deren Ursache ihm Rätsel aufgab. Es bestand keine Veranlassung zu besonderer Eile. Wenn es überhaupt etwas zu finden gab, dann war es seit dreißig Jahren dort und würde nicht innerhalb ein paar Stunden verschwinden.
Auf dem Parkplatz standen nur noch sein Toyota und der Audi der Hausgäste. Der Jeep war verschwunden, also war Hanna unterwegs. Er verspürte einen leichten Stich der Enttäuschung und mußte gleichzeitig über sich selbst lächeln. Was hatte er erwartet? Daß sie am Tor stehen würde, um ihm nachzuwinken? Er warf die Reisetasche in den Kofferraum, stieg ein und startete den Motor. Er wollte es nicht, dennoch schaute er immer wieder in den Rückspiegel, bis das Gebäude hinter ihm kleiner wurde und sich schließlich in den Schatten des Waldes verlor.
Der Waldweg Richtung Forsthaus war von Gras und Unkraut überwuchert. Dennoch verriet eine Reifenspur, daß ihn jemand erst kürzlich benutzt hatte. Es war eine breitere Spur, vielleicht von einem schwereren Wagen. Aber es war nur eine einzige; dort, wo der Waldboden feucht war, war das Profil deutlich erkennbar. Also war der Fremde noch dort, im Forsthaus, was auch immer er dort trieb.
Allmählich wurden die Schatten dichter. Es schien, als rückten die Bäume enger zusammen, aber vielleicht hatte sich auch nur eine Wolke vor die Sonne geschoben. Nichts schien sich seit damals verändert zu haben, als sie diesen Weg benutzt hatten, um Einkäufe zu erledigen, Briefe zur Post zu bringen und Diesel für das Aggregat zu besorgen. Ein halbes Leben war das jetzt her ...
Ursprünglich war es Wandas Idee gewesen. Sie war zufällig auf die Anzeige gestoßen und hatte sich sofort in das Haus verliebt. Ein ehemaliges Forsthaus mitten im Wald, nur einen Steinwurf vom See entfernt was konnte es Romantischeres geben? Schau mal, Dan, dort könntest du den ganzen Tag auf der Terrasse sitzen und schreiben. Kein Telefon klingelt, keine Vertreter vor der Tür und niemand, der sich über den Lärm beschwert. Wäre das nicht herrlich? Und für Jasmin wäre es auch das Beste, wenn sie in einer natürlichen Umgebung aufwächst.
Wandas Begeisterung war ansteckend gewesen, und auch ihm hatte die Vorstellung gefallen, endlich ungestört arbeiten zu können. Die »Schattenstadt«, sein erster Roman, verkaufte sich überraschend gut, so daß ihm der Verlag einen großzügigen Vorschuß für den Nachfolgeband überwiesen hatte. Allerdings sollte das Manuskript bis zum Herbst vorliegen, ein Termin, der bei seinem bisherigen Arbeitsstil kaum zu halten war. Eine neue Umgebung würde ihm vielleicht dabei helfen. Jasmin brauchte gar nicht überzeugt zu werden. Sie war ein phantasievolles Mädchen, das Traum und Wirklichkeit nur schwer zu trennen vermochte, und die Aussicht, in ein richtiges Holzhaus mitten im Wald zu ziehen, wo es vielleicht sogar wilde Tiere gab, erschien ihr wie ein Märchen, in dem sie selbst die Hauptrolle spielen würde. Also setzte sich Gabriel mit den Vermietern es war eine Erbengemeinschaft, die einen Makler mit der Abwicklung betraut hatte ins Benehmen, und kaum vier Wochen später zogen sie um.
Das Idyll war keineswegs makellos. Die Hauswasseranlage funktionierte erst nach der dritten Reparatur, und das Dieselaggregat lärmte so laut, daß sie es manchmal abstellten und den Abend bei Kerzenlicht verbrachten. Jasmin fand das alles großartig und aufregend, nicht einmal die knarrenden Geräusche der Dielen und das nächtliche Heulen des Windes vermochten ihr Furcht einzujagen. Für sie war es kein gewöhnliches Holzhaus, sondern eine Art verwunschenes Schloß, das sie mit der gleichen Begeisterung in Besitz nahm wie den verwilderten Garten, den Wald und den nahegelegenen Amselsee, in dem es sogar richtige Fische gab.
Daß sie eine Prinzessin ohne Gespielinnen war die nächste Ortschaft lag kilometerweit entfernt empfand sie nicht als Mangel. In ihrem Kopf hatte sie Dutzende von Spielgefährten, Märchenfiguren, aber auch solche, die sie sich selbst ausgedacht hatte, so daß es ihr nie an Gesellschaft fehlte. Wenn Jasmin mit ihnen spielte, irgendwo hinter den Bäumen, klang es manchmal tatsächlich so, als sei sie nicht allein. Zu sehen bekamen Wanda und Gabriel diese Freundinnen natürlich nie. Im Scherz darauf angesprochen erfand sie die abenteuerlichsten Ausreden: Geschichten von Hexen, Feen und einem Wunderbaum, der auf die verzauberten Kinder aufpaßte. Deshalb könne sie auch nur dort mit ihnen spielen. Wanda runzelte zwar manchmal die Stirn über die selbstbewußte Art, mit der Jasmin diese Schauergeschichten erzählte, aber ernsthaft böse konnte sie ihr deswegen nicht sein. Es bestand auch keinerlei Grund zur Besorgnis, im Gegenteil: Jasmin war glücklich, und Gabriel konnte endlich ungestört schreiben. Die Arbeit an seinem neuen Roman »Die Kinder der Schattenstadt« machte rasche Fortschritte, und auch Wanda kam mit ihren Übersetzungen gut voran. Es war die glücklichste Zeit ihres Lebens, die einen ganzen lichterfüllten Sommer lang währte, bis ...
Nicht daran denken. Du wirst nichts finden, wenn du jetzt keinen klaren Kopf behältst.
Gabriel biß sich auf die Lippen. Es war schwer, die Erinnerungen fernzuhalten, jetzt, da ihr früheres Zuhause fast zum Greifen nah war.
Er wußte noch immer nicht, wonach er konkret suchte, aber etwas mußte da sein, etwas, das sie übersehen hatten, damals, vielleicht, weil es ihnen nebensächlich oder belanglos erschienen war.
Natürlich gab er sich nicht der Illusion hin, das Geschehene rückgängig machen zu können. Aber er wollte es wenigstens verstehen. Und er mußte endlich Gewißheit haben, selbst um den Preis, daß es die Gewißheit endgültigen Verlusts war ...
Inzwischen war Gabriel sogar bereit, den Fremden, der das Haus gemietet hatte, in seine Nachforschungen einzubeziehen. Vielleicht hatte er tatsächlich etwas Ungewöhnliches entdeckt; warum wäre er sonst hergekommen? Natürlich konnte es sich auch um einen Spinner handeln, doch selbst ein Spinner mietete nicht extra ein Haus in dieser Einöde, nur um einem Hirngespinst nachzujagen. In jedem Fall konnte es nichts schaden, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen. Vor allem, wenn er tatsächlich so redselig war, wie Hanna behauptete ...
Obwohl Gabriel wußte, daß es nicht mehr weit war, zuckte er zusammen, als das Haus nach einer Linkskurve plötzlich in seinem Blickfeld auftauchte. Es wirkte seltsam gedrungen, als sei es mit den Jahren geschrumpft, und viel düsterer, als er es in Erinnerung hatte. Vielleicht rührte der Eindruck daher, daß der Wald näher herangerückt war und das Gebäude tief im Schatten lag. Früher hatte es inmitten einer Schonung gestanden, umgeben von Setzlingen, die inzwischen zu mächtigen Fichten herangewachsen waren und dem Anwesen das Licht und die Luft zum Atmen nahmen.
Dennoch war das Haus bewohnt. Davon kündeten nicht nur die offenen Fensterläden, sondern auch die zahlreichen Reifenspuren, die sich tief in den feuchten Boden gegraben hatten. Doch der Platz, auf dem das Auto des Fremden gestanden hatte, war leer.
Er ist nicht da, dachte Gabriel, während er den Wagen langsam ausrollen ließ. Und das Aggregat läuft auch nicht.
Das Haus lag schweigend im Schatten und schien ihn aus dunklen Fensteraugen zu beobachten.
Ob es mich überhaupt wiedererkannt hat? fragte er sich mit einer Spur Eitelkeit und mußte gegen seinen Willen lächeln. Im Grunde war er ziemlich stolz auf sich, daß er es überhaupt bis hierher geschafft hatte, ohne von Erinnerungen und Schuldgefühlen übermannt zu werden. Immerhin war er damals nahe daran gewesen, den Verstand zu verlieren ...
Er ging ein paar Schritte auf die Haustür zu, überlegte es sich dann jedoch anders. Selbst wenn das Haus unverschlossen war, hatte er kein Recht, hier einzudringen. Und es hatte auch keinen Sinn. Was er suchte, würde mit Sicherheit nicht im Haus zu finden sein.
Dennoch ging Gabriel nicht zurück zum Auto, sondern folgte dem schmalen, unkrautüberwucherten Weg zur Rückseite des Gebäudes. Obwohl er im Grunde nichts anderes erwartet hatte, gab es ihm dennoch einen Stich, als er den Garten sah. Unter wucherndem Gesträuch, Brennesseln und Disteln waren die Beete kaum noch zu erkennen. Kaum weniger trostlos erschien die Terrasse modrige, moosbedeckte Bretter, die bereits an einigen Stellen eingebrochen waren. Vorsichtig setzte Gabriel einen Fuß darauf und zog ihn sofort wieder zurück, als das Holz unter seinem Gewicht nachzugeben drohte.
Hier hatten sie gesessen, damals, manchmal den ganzen Tag über, und es war hell und sonnig gewesen ...
Ich komm gleich, Papa, muß nur noch Marie Gute Nacht sagen!
Gabriel fuhr herum. Doch es war niemand da. Natürlich nicht, so wie er Jasmin auch nicht wirklich hatte rufen hören. Die Stimme war in seinem Kopf, seit dreißig Jahren. Manchmal hörte er sie im Traum, und dann lief er los, versuchte Jasmin zu folgen, sie einzuholen: Warte, ich komme mit! Aber er war zu langsam, viel zu langsam, und so konnte er ihr nur nachschauen, bis sich der helle Schimmer ihres Kleids im Schatten des Waldes verlor ...
Doch dieses Mal träumte er nicht. Es war zwar der gleiche Ort, aber nicht dieselbe Szene. Der Garten von damals existierte nur noch in seiner Erinnerung wie Jasmin. Er konnte sie nicht mehr einholen und vor etwas bewahren, das in Wirklichkeit längst geschehen war. Aber er mußte sie finden.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging Gabriel zurück zum Auto, stieg ein und startete den Motor. Im Schrittempo folgte er der ausgefahrenen Reifenspur, die direkt in den Wald führte. Es war der Weg zum See, wie ihm bald klarwurde. Früher war das ein kaum meterbreiter Waldweg gewesen, aber offenbar hatte der Fremde etwas zu transportieren gehabt, sonst hätte er die kurze Strecke auch zu Fuß gehen können. Vorsichtig ließ Gabriel den Toyota über Unebenheiten und Baumwurzeln rollen und entdeckte schließlich tatsächlich das Fahrzeug des Fremden. Es war ein weißer Pickup, der auf einer kleinen Lichtung unmittelbar vor der Uferböschung geparkt war. Aber es saß niemand darin, natürlich nicht. Der Mann war sicher irgendwo am See unterwegs was auch immer er dort zu suchen hatte. Gabriel stieg aus, sah sich in einem seltsamen Gefühl der Verunsicherung nach allen Seiten um und stieg dann die Böschung hinauf.
Auf den ersten Blick schien sich die Landschaft rund um den Amselsee kaum verändert zu haben. Birken und Trauerweiden säumten die glatte Wasserfläche, in der sich das Grau des wolkenverhangenen Himmels spiegelte. Dazu herrschte eine fast unwirkliche Stille, die Gabriel schon früher an diesem Ort aufgefallen war. Seltsam, daß sich nicht wenigstens ein paar Vögel oder Wildenten hierher verirrten.
Die Maschine stand nur ein paar Meter entfernt im Schatten einer Baumgruppe. Vielleicht hatte er sie deshalb nicht gleich bemerkt. Außerdem war sie grün lackiert und hob sich kaum vom Hintergrund ab. Mit ihren Gummiketten ähnelte sie einem Minibagger mit einem senkrechten Ausleger anstelle der Schaufel. Offenbar handelte es sich um ein mobiles Bohrgerät.
Neugierig trat Gabriel näher, fand aber nichts, das darauf hindeutete, daß hier erst kürzlich gearbeitet worden war. Zwar steckte das Bohrwerkzeug im Erdreich, aber weit konnte es nicht vorgedrungen sein, denn es gab kaum Spuren von Aushub. Das Aggregat selbst fühlte sich auch in Motornähe metallisch kühl an. Gabriel schraubte den Benzintank auf und stellte fest, daß er leer war. Das erklärte zumindest, warum die Maschine nicht mehr lief. Entweder war ihrem Besitzer das Benzin ausgegangen, oder er hatte das Gerät eingeschaltet und sich danach nicht mehr darum gekümmert eine Vorstellung, die Gabriel noch unwahrscheinlicher vorkam. Der Fremde hatte das Gerät bestimmt nicht hergeschafft, um es dann seinem Schicksal zu überlassen. Außerdem war er ja angeblich schon seit einigen Wochen hier. Warum hatte er sich dann nicht um neues Benzin gekümmert und vor allem: Wo war er jetzt?
Gabriel fror plötzlich. Das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung, das ihn schon vorhin beim Aussteigen irritiert hatte, wurde stärker. Jemand war hier. Doch so aufmerksam er sich auch umsah, er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken.
In diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und trieb die Schatten zurück in die Tiefe des Waldes. Jetzt glänzte die Oberfläche des Sees blau und silbern, und der Eindruck unergründlicher Tiefe verlor sich ebenso wie die Beklemmung, die Gabriel in seiner Nähe empfunden hatte. Genau so hatte er die Landschaft rings um den Amselsee in Erinnerung sonnenüberflutet und voller leuchtender Farben.
Die Sonne wärmte seine Haut, und das Gefühl der Bedrohung verging ebenso rasch, wie es aufgetaucht war. Seine Befürchtungen erschienen Gabriel plötzlich übertrieben. Bis jetzt gab es keinen Hinweis darauf, daß dem Fremden etwas zugestoßen war. Den Pickup hatte er sicherlich jeden Tag dort im Wald geparkt, und der Umstand, daß das Bohrgerät nicht in Betrieb war, bedeutete für sich gesehen noch gar nichts. Möglicherweise hatte der Unbekannte nur eine Probebohrung vorgenommen und suchte jetzt nach einer geeigneteren Stelle. Das Ufergelände war dicht bewachsen und alles andere als übersichtlich. Vielleicht war der Mann sogar hier in der Nähe beschäftigt ...
Als Gabriel sich zum Gehen wandte, sah er plötzlich in einiger Entfernung etwas am Boden aufblitzen. Wahrscheinlich war es nur eine Glasscherbe, in der sich das Sonnenlicht spiegelte, aber seine Neugier war geweckt. In dieser abgelegenen Gegend konnte selbst eine Scherbe eine Spur sein. Er ging darauf zu und gab auch nicht auf, als die Sonne hinter den Wolken verschwand und weitere Lichtreflexe ausblieben. Nachdem er die Bohrstelle passiert hatte, verlangsamte er sein Tempo und ließ den Blick suchend über den Boden gleiten, bis er in der Nähe einer weiteren Baumgruppe tatsächlich etwas entdeckte.
Es war eine Kamera, das erkannte Gabriel sofort, und sie konnte noch nicht lange hier liegen. Das polierte Metallgehäuse wies jedenfalls keinerlei Spuren von Korrosion auf. Auch sonst erschien die Kamera äußerlich unbeschädigt; gut möglich, daß sie sogar noch funktionierte. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, spürte er, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte.
Der Camcorder war kaum größer als eine Männerfaust, aber angesichts seines Gewichts war es unwahrscheinlich, daß sein Besitzer den Verlust nicht bemerkt hatte. Entweder hatte er die Kamera absichtlich hier abgelegt oder sie war ihm aus der Hand gefallen. Die Tatsache, daß sie noch hier lag, ließ eigentlich nur eine Schlußfolgerung zu: Ihr Besitzer war nicht mehr in der Lage gewesen, sie sich zurückzuholen ...
In diesem Moment wurde Gabriel bewußt, daß er die ganze Zeit über mit nichts anderem gerechnet hatte. Schon bei seiner Ankunft am Forsthaus hatte er geahnt, daß dem Fremden etwas zugestoßen war. Und doch hatte er den Gedanken bis zuletzt immer wieder verdrängt. Jetzt war kein Zweifel mehr möglich. Er würde den Mann, dem der Pickup und das Bohrgerät gehörten, niemals kennenlernen. Zwar gab es keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung, weder Blut noch irgendwelche Schleifspuren, aber das bedeutete wenig. Selbst wenn es ihm gelang, die Polizei für den Fall zu interessieren, würde sie nichts finden. So wie sie auch damals nichts gefunden hatte, obwohl ganze Hundertschaften den Wald durchkämmt und Taucher den See abgesucht hatten ...
Und doch, etwas war diesmal anders. Die Kamera. Noch war nicht sicher, ob sie überhaupt etwas aufgezeichnet hatte, aber es war immerhin eine Möglichkeit. Gabriels Hände zitterten, als er den Schalter betätigte. Doch es geschah nichts. Das Display und die Einschaltanzeige blieben dunkel. Vielleicht war doch etwas beim Sturz kaputtgegangen, oder die Akkus waren erschöpft. Gabriel hatte nie eine Videokamera besessen, und so dauerte es ein wenig, bis er das Kassettenfach gefunden hatte. Wenigstens war es nicht leer. Wenn es eine Aufzeichnung gab, dann würde er Wege finden, sie sich anzusehen. Nur half ihm das im Augenblick nicht weiter. Er mußte zurück.
Gabriel steckte die Kamera ein und markierte den Ort, an dem er sie gefunden hatte, mit einem Stück Bruchholz. Wieder hatte er Gefühl, beobachtet zu werden, doch als er sich aufrichtete, war nichts Verdächtiges zu sehen.
Natürlich konnte sich jemand hinter den Bäumen verborgen halten. Aber das würde bedeuten, daß dieser Jemand seine Ankunft erwartet hatte. An geeigneten Verstecken mangelte es jedenfalls selbst hier in unmittelbarer Nähe nicht. Die Stämme der Weidenbäume und ihr dichtes Laubwerk boten ausreichend Blickschutz. Es waren alte Bäume, deren knorrige Stämme sich unter dem Gewicht ihrer Kronen beugten. Nur ein einziger Baum schien der Last der Jahre zu trotzen eine mächtige Silberweide, deren Zweige wie der Haarschopf eines Riesen bis zum Boden herabhingen. Doch es waren nicht nur die Größe der Krone und der gerade Wuchs ihres Stammes, die den Blick des Betrachters auf sich zogen. Auch die Farben wirkten kräftiger, beinahe leuchtend und verstärkten den Eindruck von Dominanz, der die Bäume in seiner Umgebung noch älter und verwachsener erschienen ließ, als sie ohnehin waren. Dennoch, es war nichts weiter als ein Baum, und er hatte mit Sicherheit nichts damit zu tun, daß Gabriel sich nach wie vor wie auf einem Präsentierteller fühlte. Er zwang sich, den Blick abzuwenden, und machte sich auf den Rückweg. In seinem Nacken glaubte er den Blick des unsichtbaren Beobachters zu spüren, aber das war wohl nur Ausdruck seiner Paranoia. Niemand hatte von seinem Vorhaben gewußt, und deshalb konnte ihn auch niemand hier erwartet haben. Er durfte jetzt nicht in Panik geraten ...
Der Pickup war nicht abgeschlossen, doch Gabriels Hoffnung, dort vielleicht einen Reserveakku zu finden, erfüllte sich nicht. Dafür fand er im Handschuhfach einen Schlüssel, der ihm sofort bekannt vorkam. Er gehörte zum Forsthaus. Offenbar hatten die Besitzer noch nicht einmal das Türschloß gewechselt. Gabriel nahm den Schlüssel an sich und fuhr mit seinem eigenen Wagen zurück.
Obwohl es inzwischen Mittag geworden war, lag das Haus noch immer im Schatten. Es fiel Gabriel schwer, sich vorzustellen, wie es bei Sonnenschein aussah. Fast schien es, als hätte sich etwas darin eingenistet, das das Licht scheute ...
Gabriel nahm die Kamera und seine Notebooktasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Dieses Mal empfand er keinerlei Skrupel, was sein unberechtigtes Eindringen anbetraf. Er glaubte nicht, daß der Fremde noch einmal hier auftauchen würde. Dennoch schlug ihm das Herz bis zum Hals, als er aufgeschlossen hatte und ihm ein Schwall modrig riechender Luft aus dem dunklen Hausflur entgegentrieb. Aus einem Reflex heraus griff er nach dem Lichtschalter, bis ihm einfiel, daß das Aggregat nicht in Betrieb war. Vorsichtig tastete er sich durch den halbdunklen Korridor und erreichte schließlich die Tür zum ehemaligen Wohnzimmer. Es war der größte und freundlichste Raum im Haus, und es sprach viel dafür, daß sich der Fremde hier einquartiert hatte. Es war fast drei Jahrzehnte her, daß er zum letzten Mal hiergewesen war, doch als er die Tür öffnete und den Raum betrat, zerrannen die Jahre zu nichts. Noch immer blickten die gehörnten Tierschädel von den Wänden herab, noch immer roch es nach einer Mischung aus Terpentin und altem Leder, und immer noch dominierte der große Eichentisch mit den hochlehnigen Stühlen den Raum. Das trübe, graue Licht, das durch die staubblinden Scheiben in den Raum fiel, verbarg in seiner Unbestimmtheit sämtliche Veränderungen und trug ebenso zu Gabriels Déjà-vu-Gefühl bei wie das Knarren der Dielen. Gleich würde Wanda aus der Küche zum Essen rufen, gefolgt von Jasmins Protesten, daß sie jetzt gaar keine Zeit hätte ...
Doch es blieb still, und das angenehme Gefühl von Unwirklichkeit verging. Gabriel fuhr zusammen, wie jemand, der gerade im Begriff war einzuschlafen, und war wieder Herr seiner Sinne. Erst jetzt bemerkte er die Campingliege, die der Fremde auf der Fensterseite aufgestellt hatte, die Reisetasche daneben und die Unterlagen, die sich auf dem Schreibtisch türmten. Doch all das interessierte Gabriel nicht, vorerst jedenfalls. Zuerst nahm er sich die Reisetasche des Fremden vor, dann durchsuchte er systematisch sämtliche Schränke und Ablagen und zuletzt den Schreibtisch, wo er tatsächlich fündig wurde. Die Kameratasche lag unter zwei ausgerollten Landkarten. Deshalb hatte er sie nicht sofort bemerkt. Neben dem Ladegerät und diversen Adapterkabeln fand Gabriel auch einen Reserveakku, den er mit ein wenig Mühe gegen den eingebauten austauschte. Immer noch skeptisch schaltete er das Gerät ein und hatte tatsächlich Erfolg. Etwas summte, dann leuchtete das Display der Kamera auf. Es dauerte ein wenig, bis Gabriel das Gerät an sein Notebook angeschlossen und die Kassette zurückgespult hatte. Dann schaltete er auf Wiedergabe, doch zunächst geschah gar nichts, außer daß das Dröhnen des Pulsschlag in seinen Schläfen lauter wurde. Dann erschienen die ersten Bilder auf dem Monitor: Den weißen Pickup erkannte Gabriel sofort wieder, ebenso das Aggregat auf der Ladefläche. Das Fahrerhaus war leer, aber Gabriel hatte ohnehin nicht mit weiteren Personen gerechnet. Als plötzlich jemand zu sprechen begann, zuckte er erschrocken zusammen, bis ihm klarwurde, daß es der Ton der Aufnahme war. Offenbar hatte der Fremde seine Arbeit immer wieder unterbrochen, um jede Phase des Transports und des Aufbaus des Bohrgeräts zu dokumentieren. Mit zunehmender Ungeduld lauschte Gabriel den Erklärungen des Wissenschaftlers, in denen es in der Hauptsache um Koordinaten, Bohrtiefen und die zu untersuchenden Gesteinsschichten ging. Er verstand nichts von Geologie, und wenn ihm Hanna nicht von dieser Meteoritengeschichte erzählt hätte, wäre ihm das Ganze wohl noch etwas seltsamer erschienen. Die Bilder wirkten seltsam statisch; ein gelegentlicher Kameraschwenk und hin und wieder eine Großaufnahme, das war alles an Bewegung. Dazu kam das Fehlen jeglicher Hintergrundgeräusche, das den Eindruck erweckte, als seien die Kommentare erst im Nachhinein aufgesprochen worden.
Der Aufbau des Bohrgeräts schien mehrere Stunden gedauert zu haben, denn als der Kommentar den Beginn der Arbeiten ankündigte, war die Landschaft ringsum bereits von einem kupferfarbenen Schimmer überzogen. Sekunden später signalisierte Motorengeräusch im Hintergrund, daß das Aggregat lief. Gabriel erfuhr, daß es sich um eine Spezialmaschine für geologische Bohrungen handelte, die mit ihrer Diamantkrone Gesteinszylinder aus unterschiedlicher Tiefe schneiden konnte.
Plötzlich verstummte der Sprecher mitten im Satz. Die Kamera schwenkte in einer unruhigen Bewegung nach rechts, in Richtung einer Baumgruppe. Zuerst glaubte Gabriel an eine Sinnestäuschung, einen Reflex der untergehenden Sonne, aber das war es nicht. Einer der Bäume, der größte von allen, leuchtete. Seine Zweige schienen von innen heraus zu strahlen und beleuchteten etwas, das Gabriel zunächst nur als einen länglichen gelben Fleck wahrnahm. Das Bild geriet ins Schwanken, wurde aber dennoch schärfer, und dann sah er es wenn auch kaum länger als ein oder zwei Sekunden: Unter dem Baum stand jemand, eine Frau, eingehüllt in eine schimmernde Aureole aus bernsteinfarbenem Licht.
Plötzlich war die Stimme wieder da, doch sie klang jetzt völlig anders. Fassungslos. Sie rief etwas, das Gabriel zunächst nicht verstand, bis er begriff, daß es ein Name sein mußte: »Vera ... nein ... Veraaa!« Das Bild kippte, und dann stürzte der Boden auf den Betrachter zu. Ein dumpfer Schlag ertönte, gefolgt von Dunkelheit und dem Geräusch sich entfernender Schritte.
Dann war die Aufzeichnung zu Ende.
Es dauerte ein wenig, bis sich Gabriel so weit gefaßt hatte, daß er das Band zurückspulen konnte. Was er gesehen hatte, war völlig unglaublich, und doch zweifelte Gabriel keinen Augenblick daran, daß sich die Szene genau so abgespielt hatte. Warum hätte der Mann sonst die Kamera zurückgelassen? Er mußte die Frau die vielleicht Vera hieß gekannt haben. Aber wie war sie überhaupt dorthin gekommen? Und was war mit dem Baum? Einen schwindlig machenden Augenblick lang hatte Gabriel das Gefühl, der Lösung ganz nahe zu sein, doch er vermochte den Gedanken nicht festzuhalten.
Als er sich die Szene das zweite Mal ansah, stoppte er die Wiedergabe an verschiedenen Stellen, ohne allerdings zu weiteren Erkenntnissen zu kommen. Wenigstens glaubte er den Grund herausgefunden zu haben, weshalb der Mann überhaupt aufmerksam geworden war. Es war ein Geräusch, das er zunächst überhört hatte, weil es viel leiser war als der aufgesprochene Kommentar. Jemand, eine Frau, hatte etwas gerufen. Was es war, vermochte Gabriel auch nach mehrfachem Zurückspielen nicht herauszufinden, aber das war im Grunde auch nicht wichtig: Die Frau unter dem Baum hatte den Fremden gerufen ... die Frau unter dem leuchtenden Baum ...
Der Wunderbaum! Die Erkenntnis durchzuckte Gabriel wie ein elektrischer Schlag. Es gab ihn wirklich! Seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern, und er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Er wußte jetzt, weshalb die Polizei nie ein Spur von Jasmin gefunden hatte und auch keine von diesem Doktor Fehrmann finden würde. Dieses Ding hatte ihn sich geholt. Wie Jasmin. Es besaß die perfekte Tarnung. Wer würde schon einen Baum verdächtigen, selbst wenn es irgendwelche Spuren gab, die dortendeten? Doch es besaß nicht nur die perfekte Tarnung. Es wußte auch, wie es seine Beute anlocken konnte. Es las die Gedanken seiner Opfer und gaukelte ihnen Bilder und Personen vor, die es dort gesehen hatte. Diese Kreatur benutzte ihre Wünsche und Sehnsüchte, um sie in die Falle zu locken ...
Jasmin mußte den Baum entdeckt haben, damals, oder er sie. Den Wunderbaum, wie sie ihn genannt hatte. Aber sie hatten nicht darauf geachtet, Wanda und er. Wie auch, bei all den verrückten Geschichten, die sich ihre Tochter ausdachte? Selbst jetzt fiel es ihm noch schwer, das Gesehene zu akzeptieren. Jasmin war dort gewesen, daran bestand keinerlei Zweifel, und dieses Ding hatte genau gewußt, womit es sie anlocken konnte. Sie hätten besser auf die Namen achten sollen: Lena, Maria, Michelle. Alles Kinder aus der Nachbarschaft, mit denen Jasmin gespielt hatte, als sie noch in der Stadt gewohnt hatten. Aber wie um alles in der Welt hätten sie denn ahnen sollen ...
... Ich komm gleich, Papa, muß nur noch Marie Gute Nacht sagen!
Es war Jasmins Stimme, und es half nichts, daß er beide Hände gegen die Ohren preßte, denn sie war nirgendwo anders als in seinem eigenen Kopf. Erinnerungen stürzten auf ihn ein, Bilder, Geräusche und Wortfetzen, und dazwischen immer wieder das Bild des leuchtenden Baumes, nur daß es keine fremde Frau war, die da im Licht stand, sondern seine Tochter Jasmin.
»Warte, ich komme mit!« Er preßte die Worte zwischen den Zähnen hervor und ballte die Fäuste, so fest, daß das Weiße auf den Knöcheln hervortrat. Dann stand er auf und ging mit festen Schritten zur Tür.
»Warte«, murmelte er heiser, als er den halbdunklen Flur durchquerte und die knarrende Treppe hinabstieg in den Keller. »Ich komme mit!«
Er fand, was er suchte, trotz der Dunkelheit, und es lag gut in der Hand, sehr gut sogar. Ein Lächeln glitt über Gabriels Gesicht, ein Lächeln, das niemand sehen konnte, und das war gut so. Sein Gang war sicher, er trat kein einziges Mal fehl. Fast schien es, als hätten das Haus und er nach all den Jahren doch noch zueinander gefunden. Vielleicht ahnte es, was geschehen würde, und hütete sich, ihn aufzuhalten.
An der Haustür schloß er für einen Augenblick die Augen, ging aber dennoch weiter über den feuchten, moosbedeckten Boden, der schmatzend unter seinen Tritten nachgab. Wie in Trance öffnete er die Hintertür und legte die Axt vorsichtig, fast zärtlich auf die Rückbank.
Gabriel stieg ein, hielt aber plötzlich inne, als wäre ihm etwas eingefallen. Im Handschuhfach lag ein Notizblock. Er riß eine Seite heraus, schrieb ein paar Zeilen und setzte dann seine Unterschrift darunter. Sie sah irgendwie anders aus als früher, aber das war jetzt nicht mehr wichtig.
»Warte«, sagte Gabriel, als müsse er sich entschuldigen, und klemmte das zusammengefaltete Papier an das Armaturenbrett. »Warte, gleich bin ich bei dir!«
Dann startete er den Motor. Gutmütig brummend setzte sich der Wagen in Bewegung, nahm zögernd Fahrt auf und tauchte schließlich in das Dunkel des Waldes ein.
Das alte Haus sah ihm nach, aus dunklen müden Fensteraugen, die schon zuviel gesehen hatten und nur noch auf eines warteten: daß es ein Ende hatte.
Johanna Rupert wartete zwei Tage, dann fuhr sie selbst hinaus zum alten Forsthaus. Sie traf niemanden an, weder im Haus noch am See, wo die Autos geparkt waren. Gabriel und der Fremde waren verschwunden. Der Toyota war nicht abgeschlossen und hinter dem Lenkrad steckte eine Nachricht für sie. Sie enthielt nur wenige Zeilen. Es dauerte ein wenig, bis Hanna begriff. Im Grunde hatte sie die Geschichten, die man sich im Dorf über den Amselforst erzählte, nie wirklich geglaubt. Jetzt mußte sie es. Gabriel hatte keinen Grund zu lügen. Später, als sie sich ein wenig gefaßt hatte, kehrte sie zum Gasthof zurück. Am Abend las Hanna den Brief noch einmal, weinte ein bißchen und fuhr dann hinunter ins Dorf.
Als zwei Tage später der Wald brannte, kam die Feuerwehr zu spät, um etwas zu retten. Das Großfeuer vernichtete über vierzig Hektar Wald, und das Forsthaus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Danach ähnelte das Gelände rund um den Amselsee einer Mondlandschaft. Die beiden verbrannten Autos wurden anhand ihrer Fahrgestellnummern identifiziert und die Halter ermittelt. Wo die Männer vom Feuer überrascht wurden, konnte nicht festgestellt werden. Offiziell galten sie weiter als vermißt. Obwohl sich an mehreren Orten ausgebrannte Fackeln und Rückstände von Brandbeschleunigern fanden, wurden die Täter nie gefaßt. Polizei und Staatsanwaltschaft stießen bei ihren Nachforschungen auf eine Mauer des Schweigens. So wurde auch nie geklärt, weshalb die Feuerwehr erst mehrere Stunden nach Ausbruch des Brandes alarmiert worden war. Zwei Monate später wurden die Ermittlungen eingestellt.
Es war vorbei, dennoch schlief Hanna schlecht. Manchmal lag sie stundenlang wach und lauschte mit ängstlich klopfendem Herzen in die Nacht. Der Schrei klang ihr noch immer in den Ohren jener entsetzliche Schrei, mit dem das Ding im Wald gestorben war ...
25. Feb. 2010 - Frank W. Haubold
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