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Lass uns doch vernünftig sein
von Andrea Gunschera

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

SIEBEN VERLAG
A. Bionda
4 Beiträge / 26 Kurzgeschichten vorhanden
Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
Die Flasche ist fast leer. Kalifornischer Cabernet Sauvignon. Im Glas schimmert er rubinfarben, hinterlässt eine bittere Süße auf den Lippen. Ich betrachte die Lichtreflexe, die Kerzenflamme, die sich in seinen Augen spiegelt.
Leons Augen. Sehr grün und verschleiert vom Wein. So leicht, denke ich. Es wäre so leicht.
Als ich das Glas absetze, treffen sich unsere Blicke.
„Morgen müssen wir die Präsentation fertig kriegen“, stammle ich.
„Sicher.“ Er hat Grübchen, wenn er lächelt. „Das sollten wir. “
Mein Hals ist trocken.
Leon ist Holländer, hat lange in Australien gelebt. Er spricht Englisch, versteht aber Deutsch. Wir unterhalten uns in einer Mischung aus beidem. Das Wortgemenge wird abenteuerlicher, je mehr wir uns betrinken.
Verstohlen werfe ich einen Blick auf mein Handy. Viertel nach Eins, die Kellner werden uns gleich rauswerfen. Und zwei unbeantwortete Rufe. Jan, mit dem ich seit vielen Jahren eine Wohnung und mein Leben teile. Wir sind ein eingespieltes Team. Wir vertrauen uns. Sicher wollte er mir sagen, dass er jetzt schlafen geht. Er weiß, dass ich gerade Stress im Büro habe.
„Kann ’ne lange Nacht werden“, habe ich ihm heute Morgen gesagt.
“Viel Spaß.“ Er hat mit den Schultern gezuckt, wie immer, und gegrinst. Jan ist für zwei Tage in Köln, irgendeine Erbschafts-Geschichte. Jan ist Notar, er führt eine gutgehende Kanzlei, wir sehen uns nicht so oft wie wir möchten.
Und Leon? Er kümmert sich um einen Kunden in Amsterdam und kommt deshalb nur ab und an in die Agentur in Berlin. Er ist jemand, der oft sein Parkticket verliert oder der seinen Flug verpasst, weil er sich im Tag geirrt hat. Er hasst alle Arten von Plänen. Im Übrigen hat er schlanke Hände, einen hintersinnigen Humor und weiche dunkle Haare, die ihm andauernd in die Stirn fallen.

Szenentrenner


Ich fühle mich leer, als ich im Taxi sitze und seltsam allein. Die Wärme und der Geruch der Lederpolster umfangen mich wie eine schwere Decke. Der Wagen rollt durch die nächtlichen Straßen, Scheinwerfer huschen über die Scheiben, Schnee glitzert im Gegenlicht.
Langsam sickert die Vernunft zurück in meine betäubte Wahrnehmung.
Ich habe ihn nicht gefragt, ob wir nicht noch auf eine Flasche Wein zu mir gehen wollen. Stattdessen habe ich mich hastig verabschiedet, um einem Angebot seinerseits zuvorzukommen. Am Wochenende fliegt er zurück nach Holland. Dort teilt er ein Haus und sein Leben mit seiner Freundin Sophie. Sie erwartet ein Kind von ihm. Er hat es mir vor ein paar Wochen erzählt, am Telefon. Wir arbeiten sehr eng zusammen. Dass da mehr ist als bloße Freundschaft, tritt nur zutage, wenn wir uns tatsächlich sehen.
Meine Lippen formen ein Lächeln.
„Welche Nummer?“, fragt der Taxifahrer.
„Dreiundzwanzig.“ Im Radio spielen sie Moby. Speak to me, baby …
„Ecke Hohenhorststraße“, füge ich hinzu. Er bremst hart vor einer Ampel.
Wir haben das in Griff, versichere ich mir. Eine theoretische Möglichkeit, sehr verlockend. Mehr aber nicht.
Die Ampel springt auf Grün. Der Wagen setzt sich in Bewegung, fährt weitere hundert Meter und hält vor meinem Hauseingang. Ich bezahle den Fahrer, steige aus und sperre mit zitternden Fingern die Tür auf. Der Wind ist eisig. Während ich die Treppenstufen hochsteige, versuche ich meine Empfindungen auszuloten. Selbstbeherrschung, denke ich. Das ist es doch, was den Menschen vom Tier unterscheidet? Die Fähigkeit, spontanen Impulsen zu widerstehen. Also ist es etwas Gutes, ein edles Motiv. Oder Pragmatismus? Das klingt schon weniger poetisch. Was wäre, wenn ich dieser Regung einfach nachgeben würde? Ein Versprechen hängt im Raum, das plötzlich an Kontur gewinnt.
Aber nein, nicht um diesen Preis. Er ist vernünftig, ich bin vernünftig. Wir werden uns beherrschen. Die paar Male im Jahr und dann immer nur für drei oder vier Tage – nein, wir haben das im Griff. Heute war eine Ausnahme.

Szenentrenner


Der Kater am nächsten Morgen ist beinahe erträglich. Aspirin, ein Glas Wasser, ein paar Bissen Brot. Als ich den Abend rekapituliere, muss ich lächeln. Es ist nur ein Spiel, spannend, aber mit Sicherheitsleine. Leon fliegt morgen zurück nach Amsterdam.
Das Frühstück lasse ich ausfallen und mache mich direkt auf den Weg in die Arbeit. Es ist früh, das Büro noch still. Ich kann in Ruhe meine Mails lesen. Lynn Davis, lese ich. Perfekt, die Amerikaner haben sich gemeldet. Seit Monaten versuchen wir, einen Vorstandstermin zu bekommen. Jetzt scheint es zu klappen. Chicago, Mitte Mai, der Workshop steht.
Ich hole mir einen Kaffee und treffe meinen Chef in der Küche. Er hat Lynns Mail ebenfalls bekommen, ist entsprechend gut gelaunt.
„Du und Leon“, meint er. „Brennt denen ein Feuerwerk ab. Vielleicht bleibt ihr ein paar Tage länger, dann könnt ihr gleich die Runde durch die anderen Agenturen machen.“
Ich rühre in meinem Kaffee, schweigend. Unten auf der Straße, noch ein Stück entfernt, entdecke ich Leon. Ich drehe mich vom Fenster weg.
„Ja sicher“, sage ich. „Das kriegen wir hin.“
Wir haben das im Griff. Er ist vernünftig, ich bin vernünftig. Wir können uns beherrschen.
Draußen beginnt es in großen Flocken zu schneien.

09. Jun. 2010 - Andrea Gunschera

Bereits veröffentlicht in:

BEGEGNUNGEN - ALL DIES UND AUCH DER HIMMEL
Y. Seitz (Hrsg.)
Anthologie - Kurzgeschichten - Lerato-Verlag - 2006

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