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Steinerne Wächter
von Tanya Carpenter

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

TRIADEM
A. Bionda, T. Carpenter
10 Beiträge / 29 Kurzgeschichten vorhanden
Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
Seit Menschen die Kraft des geschriebenen Wortes für sich entdeckten, hat dies allein Macht über die Zeit. Was wird vergessen, was bleibt in Erinnerung? Nur mittels Schrift für die Nachwelt Festgehaltenes überdauert die Jahrtausende und klingt auch in den Herzen derer nach, die Licht und Schatten noch durchwandern, wenn jene, die mit Feder oder Druckerschwärze aufzeichneten was geschah, längst vergangen sind.

Die Geschichte, die ich euch erzähle, wäre dieser Macht beinahe zum Opfer gefallen. Der Herrscher jener Zeit verbot bei Todesstrafe allen Schreibern seines Reiches, die Ereignisse aufzuzeichnen. Als einige von ihnen es dennoch taten, ereilte sie das Beil des Henkers. So wagte bald niemand mehr, ein Wort darüber zu verlieren – selbst als der Herrscher starb. Was, wenn seine Schergen über seinen Tod hinaus das Urteil sprachen und vollstreckten, wenn einer wagte, sich über die Order hinwegzusetzen?
Nur eine einzige Schriftrolle hat die Zeit überdauert, auch wenn vermutet werden muss, dass ihr Erschaffer bald nach ihrer Verfassung Gevatter Tod begleitete. Ich selbst fand sie vor einigen Jahren, gut verborgen in einem irdenen Gefäß, eingeschlossen in den Mauern einer Sakristei, deren Grundfeste heute verfallen und moosbewachsen sind. Einzig was von ihr noch blieb, sind die steinernen Wächter, elf an der Zahl, die auf den Zinnen sitzen, als hielten sie Wache über das Gotteshaus und den angrenzenden Friedhof. Nun, wo alles um sie herum vergangen und zerbrochen war, ragen die Pfeiler, auf denen sie Platz genommen, wie Säulen der Ewigkeit in den Himmel empor. Ein schauerliches Mahnmal. Doch wofür?
Merkwürdig sind sie anzuschauen, die elf Gebrüder. Ihre harten, kalten Leiber scheinen von unbändiger Kraft zu zeugen. Jeder Muskel ihrer starken Arme und Beine zeichnet sich bis heute deutlich aus dem Fels. Die langen Klauen glänzen, wenn Morgentau oder der Regen dunkler Tage auf ihnen liegt. Große Augen blicken in weite Ferne und man mag sich sicher sein, dass ihnen nichts entgeht. Ebenso wenig den spitzen Ohren und breiten Nasen, die sie in die Winde halten, witternd und lauschend, was die Sturmbrüder ihnen zutragen. Die Mäuler mit den scharfen Zähnen aus Gestein sind leicht geöffnet, mehr warnend als drohend. Am unteren Ende ihres Rumpfes reckt sich ein langer Schwanz gleich dem eines Drachens und aus ihren Schultern ragen mächtige Schwingen empor. In Gewitternächten sind sie von unheimlichem Leben erfüllt. Dann drehen sich ihre Köpfe mit dem Zug der Wolken und unter das Donnergrollen mischt sich ihr dunkles Knurren.
Doch wer mag es ihnen verdenken, wenn er erst ihre düstere Geschichte kennt? Die steinernen Wächter erblickten diese Welt nicht unter den kundigen Händen eines Bildhauers, der ihnen mit Meisterhand diesen Anschein von Lebendigkeit verlieh. Nein, die Wahrheit ist viel grausiger, denn einst waren sie in der Tat lebendig. Ehe ein böser Zauber ihnen zum Verhängnis wurde, weil ein Mann begehrte, was ihm nicht zustand und dafür sogar ein Juwel der Verdammnis preis gab. So sind sie denn verbunden, die Gargoyles, mit der marmornen Fee, deren elfenbeinfarbene, schlanke Gestalt, inzwischen von Moos und Ranken überwuchert, noch immer auf dem alten Turm zu warten scheint. Jener Festung, die der Zahn der Zeit zernagt, ohne dass er vermochte, sie aus ihrem Gefängnis zu befreien, auf dem Hügel jenseits des Tales, das die Sakristei von ihr trennt. Diese Elfe steht dort zeitlos schön und blickt gen Himmel. In der Hand den Bogen, von dessen Sehne einst der Pfeil gen Himmel fuhr, das Unglück zu verhindern.
Doch lasst mich am Anfang beginnen, denn nur so sollte die Geschichte erzählt werden.
Vom ersten Herzschlag an.

In jener Zeit begab es sich, dass dem Herrscherpaar des Reiches, König Aroll und Königin Riva, ein Kind geboren wurde. Eine Tochter mit Augen so blau wie das Meer und Haaren gleich aus Gold gesponnen. An dem Tag, da sie das Licht der Welt erblickte, kam Roshak, der Älteste der Gargoyles, zu seinem Freund dem König und versprach: „Ich werde auf deine Tochter achten, Aroll, solange ich auf dieser Erde weile und will sie schützen. Bei meinem Leben!“
„Roshak, mit solchem Schild an ihrer Seite kann ihr kein Unglück widerfahren. So weiß ich sie getrost in Sicherheit.“
Zwischen den elf Gargoyle-Kriegern und dem Königsgeschlecht bestand seit vielen Jahrhunderten ein enges Band. In schweren Schlachten hatten sie Seite an Seite gefochten, immer wieder die Finsternis zurückgedrängt und sich gegenseitig das Leben gerettet, bis sie schließlich ihren größten Feind – einen Schwarzmagier – durch ein mächtiges Ritual gebannt und in heiliger Erde bestattet hatten. Zwar irrte seine Seele als ein Dunkler Schatten noch umher, doch war es ihm nie gelungen, in seine Gebeine zurückzukehren und aufzuerstehen.
Nun, so schien es, hatte er aufgegeben und sich für immer in die Welt der Schatten zurückgezogen. In diesen friedlichen Zeiten erblühte das Land zu neuer Pracht.
Inmitten von Freude und Wohlstand war die Geburt der Prinzessin, die auf den Namen Rania getauft wurde, für das Königspaar die Krönung ihres Glückes.
Die Jahre vergingen und das Mädchen wuchs und gedieh. Es hatte eine Stimme, lieblich gleich einer Nachtigall, ein Herz voll Wärme und ein sanftes Gemüt. Wo immer es wandelte, war einer der Gargoyles ihm zur Seite. Zumeist Roshak, der das Versprechen an König Aroll sehr ernst nahm. Er las Rania jeden Wunsch von den Augen ab und war ihr ein treuer Gefährte. Die Prinzessin war ihm so lieb und wert wie eine eigene Tochter. Er lehrte sie, was er für wichtig erachtete, wenn sie erst Königin sei. Selbst den Umgang mit wilden Rössern und die Jagd mit Pfeil und Bogen. Bald stand Rania den jungen Rittern darin nicht nach, sondern übertraf sie ein ums andere Mal. Doch führte dies nie zu Neid, denn ihr liebliches Wesen besänftigte jeden.

In ihrem siebzehnten Jahr war Rania zu voller Schönheit erblüht. Es gab niemanden, der sie nicht liebte und verehrte, denn sie war stets freundlich zu jedermann – vom reichen Fürsten bis zum armen Bettler.
Roshak war stolz auf die Thronerbin.
Ihre Schönheit sprach sich auch in den anderen Reichen herum. Viele Ritter und Prinzen kamen, um ihre Hand anzuhalten. Rania konnte sich nicht entscheiden, wem sie ihre Gunst schenken sollte, wollte sie doch niemanden enttäuschen. Daher sollte ein Turnier über ihren künftigen Gemahl entscheiden. Wer im fairen Wettstreit Sieger wurde, sollte die Prinzessin am Tag der Sommersonnenwende zu seiner Frau nehmen und mit ihr gemeinsam nach dem Tod ihres Vaters den Thron besteigen.
Aus allen Königreichen waren Edelmänner zum Turnier erschienen. Sie machten Rania ihre Aufwartung und ein jeder hoffte, siegreich zu sein.
Das Turnier wurde über drei Tage ausgetragen und mit einem großen Fest untermalt. Händler und Handwerksleut bauten ihre Stände auf, Gaukler begeisterten ihr geneigtes Publikum und an Speis und Trank herrschte kein Mangel.
Die Recken und Kämpen mussten sich im Schwertkampf, Bogenschießen und mit der Lanze messen. Am Ende waren nur noch der edle Ferach und der tapfere Sonarg übrig. Ein letzter Wettstreit mit dem Bogen sollte die Entscheidung bringen.
Ferach schoss zuerst und unter dem Jubel des Volkes traf er genau ins Schwarze. Doch auch Sonarg lenkte seinen Pfeil mit sicherer Hand ins Ziel.
König Aroll rieb sich den weißen Bart und überlegte, wie man hier zu einer gerechten Entscheidung kommen solle, als Prinzessin Rania aufstand und sprach: „Da es um meine Hand geht, ist es am gerechtesten, wenn mein zukünftiger Gatte mich besiegt und sich so meine Achtung verdient.“
Ihr Lächeln nahm den Worten jede Überheblichkeit und beide Ritter stimmten zu. Rania hob ihren Bogen, ein Raunen ging durch die Menge. Sie zielte auf die Sonne, spannte die Sehne und schoss den Pfeil über den gesamten Turnierplatz bis zum nahen Wald, wo er im Stamm einer Birke stecken blieb.
Das Volk jubelte über den meisterlichen Schuss und die beiden Edelmänner staunten nicht schlecht. So leicht würde das nicht zu schlagen sein, doch wollten sie es wagen. Wieder ließ Sonarg Ferach den Vortritt. Der Ritter spannte den Bogen, zielte und ... der Pfeil überflog nur die Hälfte des Turnierplatzes. Enttäuscht trat Ferach zurück und ließ Sonarg sein Glück versuchen. Auch er zielte auf den Stamm, in dem Ranias Pfeil steckte, hob den Bogen um einige Zoll und schoss. Der Pfeil schien es nicht bis zum Stamm zu schaffen, als plötzlich eine Böe das Geschoss erfasste, es anhob und an Ranias Pfeil vorbei trug, weit in den Wald hinein.
Auf dem Platz herrschte Totenstille, denn das Gesehene hatte etwas Unheimliches an sich. Doch Rania applaudierte mit offenkundiger Freude dem Sieger und vertrieb augenblicklich jede Spannung. Bald schon jubelten alle ihrem künftigen König zu. Nur Roshak beäugte Sonarg misstrauisch. Als der Turnierplatz verlassen lag, suchte er nach dem Pfeil des Ritters. Er fand ihn einige Schritt tief im Wald in einer Erle stecken. Es war nichts Auffälliges daran zu entdecken. Trotzdem blieb das ungute Gefühl in dem Gargoyle zurück, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.

Die Hochzeit war ein rauschendes Fest mit der schönsten Braut, die das Land je gesehen hatte. Glücklich und verliebt saßen Rania und Sonarg beieinander, warfen sich zärtliche Blicke zu. Jeder war gewiss, ein Stammhalter würde nicht lange auf sich warten lassen. Welch Glück für den König und die Königin, zu ihrer schönen Tochter einen so stolzen Schwiegersohn bekommen zu haben. Doch es sollte alles anders kommen.
Wenige Wochen nach dem Hochzeitsfest erwachte der König tief in der Nacht aus einem bösen Traum. Eine kalte Hand hatte sich um das Herz seines Reiches gelegt und ihm das Leben abgedrückt. Die Unruhe in ihm war so groß, dass er keinen Schlaf mehr fand. Alsbald glaubte er auch, ein leises Rufen zu hören, das jammervoll durchs Schloss schallte. Wie er sich auch drehte, das Geheul wurde nicht leiser. So beschloss er schließlich, ihm nachzugehen.
Nur wenige Fackeln erhellten die Gänge, während der König sie durchwanderte. Sein Herz zog sich zusammen, eisige Kälte jagte ihm in die Glieder. Als sei ein alter Feind zurückgekehrt. Die Schatten schienen Augen zu haben und fröstelnd stellten sich die Härchen in seinem Nacken auf. Das Jammern hatte nachgelassen, doch ein unheimliches Flüstern huschte nun durch die Mauern. Er ahnte, wer ihn da rief. Auch, dass er diesem Ruf besser nicht gefolgt wäre, doch die Sorge um Königin Riva und Prinzessin Rania ließ ihm keine Ruh. Sie trieb ihn auf die höchste Spitze des Turmes, wo der Sturm am Gemäuer zerrte und ihm den Atem nahm. Dort traf er auf jenen, der seit Jahrzehnten tot geglaubt. Ein lauernder Schatten voller Hass, Neid und Gier. Eine heftige Böe erfasste den König bei seinem Mantel und riss ihn in die Höhe, weit hinaus über die Zinnen der Burg. Im Fall in die Tiefe sah er nur dämonische Augen über sich glühen und hörte das hämische Lachen seines alten Feindes. Seinem Herz wurde angst und bang und die Sekunden seines Falles wurden zur Ewigkeit. Was sollte aus Riva und Rania werden? Wer Roshak warnen, dass der Dunkle Schatten zurückgekehrt war? Und was stand Sonarg nun bevor, wenn er seine Nachfolge antrat?
Die Gedanken kamen jäh zum Stehen, als König Aroll den Fuß der Burgmauern erreichte und hart auf den Fels traf. Zerschmettert blieb er liegen, sandte im letzten Atemzug stumm seine Gedanken zu den Lieben, wohl wissend, dass niemand sie mehr hören würde.

Das ganze Reich stand unter Schock, als sich die Nachricht vom Tod des Königs wie ein Lauffeuer verbreitete. Die Zeit der Trauer wurde auf einen Mondlauf festgelegt und am Tag der Beisetzung weinte auch der Himmel mit dem Volk, der Königin und Prinzessin. Einzig Sonarg war seltsam still. In der Nacht zuvor hatte er Besuch in seiner Kammer. Eine Gestalt mit wallendem Mantel und einer Kapuze, die das Gesicht verbarg, hatte ihm ihre Aufwartung gemacht und ihn bereits als Herrscher begrüßt.
„Dies ist zu früh, Fremder. Noch gilt die Trauerzeit und König Aroll ist der Herrscher dieses Königreiches. Meine Krönung wird erst vollzogen, wenn das Volk seiner angemessen gedacht hat.“
„Oh, dies ist doch nichts als Blendwerk, Sire. Der wahre König seid Ihr schon, so steht es Euch von Rechtswegen zu.“
„Es wäre ungehörig, wenn ich Rang und Titel jetzt schon einforderte. Davon ab weiß ich nicht, was es Euch anginge. Ich kenne Euch nicht, noch weiß ich, ob ihr Untertan in diesem Reich seid. Warum zeigt Ihr Euer Gesicht nicht?“
Ein leises, gackerndes Lachen war die Antwort. „Nicht so ungeduldig, mein König. Und vor allem, nicht so undankbar. Nur mir habt Ihr zu verdanken, dass Euch die Möglichkeit gegeben, König dieses Landes zu werden. Oder glaubt Ihr, Bruder Wind habe Euren Pfeil zum Sieg getragen?“
Sonarg wurde bleich. Ihm dünkte, wer da vor ihm stand, hatte er doch viel über die alten Kriege gehört und den Feind, den man besiegt.
„Ah, ich sehe, Ihr habt begriffen, wer ich bin. Doch urteilt nicht vorschnell über mich, wie es Eure Vorgänger taten. Ich bin nicht Euer Feind, Sire. Und um Euch dies zu beweisen, will ich ein Geheimnis mit Euch teilen.“
Damit weckte der Dunkle Schatten Sonargs Interesse. Er war nie leichtfertig gewesen, wenn es darum ging, den eigenen Vorteil auszubauen. Und ein Geheimnis zu kennen, konnte von Nutzen sein. „Was ist es, was du mit mir teilen willst? Sprich!“
Man sah ein teuflisches Grinsen im Dunkel der Kapuze aufleuchten. Die Gestalt schien zufrieden mit dem Verlauf ihres Besuches. „Es geht um Roshak und seine Gargoyles, Sire. SIE sind das Geheimnis“
„Wie meint Ihr das?
Die Gestalt kam näher und senkte die Stimme zu einem Flüstern.
„Die Gargoyles dienen dem Reich seit Tausenden von Jahren. Ist Euch nicht klar, mein König, was dies bedeutet?“
Sonarg rieb sich nachdenklich das Kinn. „Dass sie sehr alt sein müssen, gewiss. Doch was hat das mit mir zu tun oder dem Geheimnis, von dem Ihr sprecht?“
Das Wesen kam noch dichter heran. „Unsterblichkeit, Sire! Die Gargoyles tragen das Geheimnis ewigen Lebens in sich und ...“, es machte eine bedeutungsvolle Pause, „... verheimlichen dieses vor Euch!“
Der harte Zug um des Königs Lippen war Ansporn genug für den Verhüllten fortzufahren.
„Ihr seid jetzt Herrscher des Landes, somit steht Euch rechtmäßig alles zu, was Teil dessen ist. Doch diese Kreaturen enthalten Euch vor, was Euer ist. Ihre Freundschaft ist nur Heuchelei. So war es auch schon bei Eurem Schwiegervater, aber er ließ sich täuschen.“
Sonarg beäugte die Gestalt misstrauisch. „Roshak und König Aroll haben Seite an Seite gekämpft. Gegen Euch, Dunkler Schatten. Noch weiß ich nicht, warum ich Euch trauen und von König Arolls Weg weichen sollte.“
„Der Wind ist mein Gefährte, Sire. Er trug Euren Pfeil beim Turnier und trug den König in den Tod. Ihr steht in meiner Schuld, denn ohne mein Tun wäre der Thron noch längst nicht Euer.“
Sonarg schnaubte abfällig. „Ich wüsste nicht, wann ich Euch gebeten hätte, irgendetwas für mich zu tun. Man zahlt nur, wofür der Preis zuvor verhandelt.“
„Oder was sich lohnt. Würde es Euch nicht gefallen, ewig zu leben und ewig zu herrschen? ICH halte euch nicht für den edelmütigen, treusorgenden Ehemann, den ihr allen vorspielt. Bedenkt, ich sehe in der Menschen Herz und Eures ist nicht minder schwarz denn das meine. Egal, welch schöne Maske ihr ihm aufsetzt.“
Ein verschlagener Ausdruck trat in Sonargs Gesicht. Es war gut, wenn man einander einschätzen konnte und hier standen sich zwei ebenbürtig gegenüber.
„Wie wollt Ihr mir zu dem Geheimnis verhelfen. Wäre es nicht leichter, ich fragte Roshak? Immerhin vertraut er mir und wird mir bald die Treue schwören, wenn ich erst gekrönt bin. Wozu also brauch ich Euch?“
Allmählich begann ein rotes Augenpaar aus dem Dunkel zu glühen. „Ihr seid ein Narr, Sonarg, wenn Ihr glaubt, das Vertrauen der Gargoyles gewinnen zu können. Roshak hat Euch ebenso durchschaut wie ich. Nur mit meiner Hilfe werdet ihr die Unsterblichkeit von ihm und seinesgleichen stehlen können.“
„Und wie soll das vonstatten gehen?“, fragte Sonarg und zeigte zum ersten Mal offen Interesse an dem, was sein Gegenüber ihm anbot.
„Es ist ein Ritual vonnöten, um ihre Kraft auf Euch übergehen zu lassen.“
Sonargs Augen wurden schmal. Er traute dem Dunklen Schatten nicht. Noch weniger konnte er sich vorstellen, wie man die Gargoyles zu einem solchen Ritual überreden sollte. Doch der Schatten hatte gut geplant und wusste die Zweifel des jungen Königs zu zerstreuen.
„Roshak hat eine Schwäche: Lady Rania. Für sie würde er sterben.“

Mit diesem Wissen und einem finsteren Plan wohnte der künftige König den Trauerfeiern bei. Es galt die Krönung abzuwarten, dann wollten er und sein neuer Verbündeter ihren Plan in die Tat umsetzen.
Königin Riva würde an gebrochenem Herzen sterben und Prinzessin Rania von einer rätselhaften Krankheit befallen. Sonarg hatte den Hofmagier und Heiler mit viel Gold bestochen, damit er ein Ritual zu ihrer Heilung empfahl, bei dem die Kraft der Gargoyles über Leben und Tod vonnöten wäre. Die große Kathedrale war einst zu dem Zweck erbaut worden, die Kraft der Dämonenbrüder zu einen und bot für jeden einzelnen von ihnen einen angestammten Platz. So konnte große Magie gewebt werden, womit vor langer Zeit die Gebeine des schwarzen Großmagiers auf dem Friedhof gebannt worden waren.
Der Plan sah vor, diesen Körper wieder zum Leben zu erwecken und gleichzeitig die Unsterblichkeit der Gargoyles auf König Sonarg zu übertragen. Der Dunkle Schatten würde im rechten Moment hervortreten und den Hofmagier ablösen, um die Gargoyles mit einem Bann zu fesseln, ehe sie das Ritual ihren eigenen Vorstellungen anpassten.
Der erste Teil des Planes war leicht in die Tat umzusetzen. Von ihrem letzten Becher Wein, den Königin Riva jeden Abend vor dem Schlafengehen trank, erwachte sie nicht wieder. Jedoch bei Rania galt es anders zu handeln, denn Sonarg wollte nicht darauf verzichten, sie zu besitzen. Drum ließ er sie packen und in den Jagdturm im Wald sperren.
Derweil ließ er nach Roshak rufen. Mit dem Heiler an seiner Seite ersuchte er den Gargoyle um Hilfe, da Rania schwer erkrankt und dem Tode nahe sei.
„Ich will sofort zu ihr“, verlangte Roshak ohne Umschweife, doch damit hatte der König gerechnet und den Heiler angewiesen, dies abzulehnen.
„Das geht nicht, edler Roshak. Die Königin braucht absolute Ruhe, sonst wird sie keinesfalls mehr genesen. Nicht einmal der König darf zu ihr. Ich bitte Euch, um ihretwillen, sprecht mit euren Gebrüdern und vereint eure Kräfte ein weiteres Mal. Nur ein starker Heilzauber kann sie jetzt noch retten.“
Roshak blieb misstrauisch und es kostete den Heiler Angstschweiß und Mühe, den Gargoyle zu überzeugen. Schließlich brummte Roshak zustimmend, obwohl ihn eine innere Stimme warnte. Doch der Heiler stand seit vielen Jahren im Dienste des Reiches. Es gab keinen triftigen Grund, an seinem Wort zu zweifeln, und für die Prinzessin war er bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen.

Rania lehnte gegen das harte Holz der Tür, die sich hinter ihr wie der Deckel eines Sarges geschlossen hatte. Vater und Mutter tot, der Gemahl ein Lügner und Verbündeter des Dunklen Schattens. Und nun sollten die Gargoyles mit einer teuflischen List ihrer Kraft beraubt werden, um ihn – Sonarg – unsterblich zu machen, wie er sie voll Stolz und mit Wahnsinn im Blick hatte wissen lassen. Sie war der Köder, um Roshak in die Falle zu locken. Rania hatte Angst – vor ihrem Gemahl, den sie nicht wiedererkannte, vor seinem düsteren Verbündeten und um ihre Freunde die Gargoyles.
Mutlos schritt sie die Treppen zu den Zinnen hinauf und blickte auf den bleichen Mond. Da kam ihr mit einem Mal eine Idee. In dem Turm waren Bögen und Pfeile für die Jagd untergebracht. Wenn es ihr gelang, einen Pfeil direkt vor den Mond zu schießen, so dass Roshak von der Kathedrale aus seines Schattens gewahr wurde, würde er vielleicht die stumme Botschaft verstehen und sich und die anderen retten können. Beflügelt von Hoffnung, eilte Rania hinab und kehrte wenig später bewaffnet auf ihren Aussichtspunkt zurück. Wenn der Mond den höchsten Punkt erreichte, sollte das Ritual stattfinden. Dann wollte sie die Warnung in den Himmel malen.

In der tiefsten Stunde der Nacht warf der Bruder der Sonne sein fahles Licht aufs Land. Roshak war nicht wohl bei dem Gedanken an das bevorstehende Ritual, doch es ging Ranias Leben. Unruhig hob er den Blick zu den Sternen. Etwas Dunkles lag in der Luft, er konnte es spüren. Tief unter ihm in der schwarzen Erde lag die sterbliche Hülle dessen, der nun der Dunkle Schatten war. Die Kräfte, die sie mit diesem Ritual freisetzten, stellten eine Gefahr so nah bei den Knochen des Großmagiers dar. Aber der Dunkle Schatten hatte sich seit vielen Jahren nicht gezeigt. Warum sollte er jetzt zurückkommen? Und dennoch, die Witterung heute Nacht war keine angenehme. Schließlich nickte er dem Heiler und Hofmagier zu, dass er mit der Zeremonie beginnen solle und nahm seinen Platz auf dem vordersten First der Kathedrale ein.
Der Magier zog einen Kreis aus Feuer um den ehernen Kessel, in dem die Zutaten für das heilende Elixier bereits vorbereitet waren. Dann rief er die uralten Kräfte an und bald darauf zogen Wolken über den Himmel, umkreisten die helle Scheibe des Mondes wie aufgeregte Vögel, die ihn nicht zu verdecken wagten. Donner grollte in der Ferne, kam immer näher. Schließlich öffneten die Wolken ihre Schleusen und schickten Regen hinab, der Ranias Reinigung von dieser unheimlichen Krankheit symbolisierte Der Rauch aus dem Kessel stieg in einer geraden Säule zum hellen Himmelskörper empor, als wolle er ihn berühren und seine Kraft direkt in den Kessel ziehen. Da zuckten mit einem Mal Blitze aus der runden Scheibe hervor, trafen auf die Mauern der Kathedrale und hinterließen tiefe Spuren im Gestein. Die Gargoyles wurden unruhig, denn Mondblitze hatten eine gefährliche und zerstörerische Kraft. Was ging hier vor? Dies Ritual schien nicht zu laufen wie geplant. Roshak gemahnte zur Ruhe, da traf ein Blitz statt auf Stein einen der Brüder. Roshak hörte den Schrei im selben Moment, als eine verhüllte Gestalt hinter dem großen Mausoleum hervorsprang, in dem sie König Aroll erst wenige Wochen zuvor beigesetzt hatten. Der Dunkle Schatten richtete sich stolz vor dem Feuerkreis auf. Rücksichtslos stieß er den Magier beiseite, der taumelnd auf die Knie fiel und dann schnell die Flucht ergriff. Das Lachen des Dunklen Schattens vermischte sich mit dem Dröhnen des Donners. Ein zweiter Blitz folgte und traf einen weiteren Gargoyle. Mit Entsetzen sah Roshak, dass seine beiden Brüder zu Stein erstarrten, während die Erde über den toten Knochen des Magiers zu beben begann. Dieses Ritual – es würde nicht Rania retten, sondern die Gebeine des Dunklen Schatten wieder mit Leben füllen! Zorn kochte in ihm hoch, ein lautes Brüllen entrang sich seiner Kehle und er spreizte die Schwingen, um mit einem gewaltigen Satz auf den Feind und den Verräter hinab zu springen, aber seine Beine waren wie festgewachsen. Weitere Blitze zuckten zu Boden und wann immer einer von ihnen auf einen Gargoyle traf, verwandelte er diesen zu Stein, mehrte damit die Kraft des Dunklen Schattens. Mit dem letzten von ihnen, das wurde Roshak bitter bewusst, würde sich sein Leib wieder aus der Erde erheben. Was hatte er Sonarg geboten, dass dieser seine Seele verkaufte? Mit dem Leben der Prinzessin schacherte?
„RANIA!“, brüllte Roshak verzweifelt. Es durfte nicht sein, dass dieses edle Herz der Niedertracht zweier derart schwarzer Seelen geopfert wurde.

Entschlossen spannte Rania den Bogen. Sie zielte auf den Mond, senkte ihre Lider und ließ ihr Herz den richtigen Augenblick bestimmen. Dann gaben ihre Finger die Sehne frei. Sirrend flog der Pfeil davon, immer höher in den Nachthimmel, direkt auf die bleiche Scheibe zu.
Der Schatten eines Pfeils durchschnitt den Mond, fiel auf Roshaks Gesicht, als der letzte Schlag der Glocke verklang. Der Blitz, der ihm gegolten hatte, brach sich auf der Spitze des Geschoss und wurde dorthin gelenkt, von wo er gekommen war. „Rania“, ging es Roshak durch den Kopf. Freude durchflutete ihn für einen Moment, als ihm bewusst wurde, dass sie in dem Jagdturm auf der anderen Seite des Tales in Sicherheit war. Wind flaute auf und trug ihm ein seltsames Flüstern zu, in dem er zwar keine Worte, jedoch Ranias Stimme vernahm.
Der Mondblitz schlug mit lautem Getöse in der Ferne ein, ganz nahe des Turms, wie es Roshak schien. Im selben Moment schrie der dunkle Schatten auf und Roshak war wieder frei. Ein Blick auf seine Brüder zeigte, dass alle außer ihm zu Stein geworden waren. Mit ihrer Kraft hatten sie den Dämon genährt, der nach Auferstehung trachtete, um das Reich in eine neue Finsternis zu stürzen. Doch sein Plan war gescheitert. Seine Seele hatte zwar wieder Einlass gefunden in den Körper, um aufzuerstehen hätte es jedoch des Opfers aller Gargoyles bedurft. So lag er nun gefangen in den eigenen Gebeinen tief im Dunkel der Erde und war auf alle Zeit gebannt. Seine Gier und Niedertracht waren zu seinem Untergang geworden. Aber Sonarg stand noch auf dem Friedhof, fassungslos ob des Gesehenen und gleichwohl zornig im Erkennen, dass der Plan gescheitert war. „Meine Unsterblichkeit! Sie steht mir zu, Gargoyle!“, brüllte er wie von Sinnen.
All der Hass, den Roshak empfand, richtete sich auf diesen menschlichen Wurm. Nur die Sorge um Rania hielt ihn davon ab, den Verräter sofort seiner gerechten Strafe zuzuführen. Eine Stimme trieb ihn zu dem einsamen Turm, von wo Rania den rettenden Pfeil entsandt.
Es war dem Gargoyle ein Leichtes, den Eingang zu zerschmettern. Er eilte die Stufen hinauf wie der Wind. Oben bei den Zinnen würde er die Prinzessin finden, das wusste er.
Doch nichts auf dieser Welt hätte ihn auf das Bild vorbereiten können, das ihn erwartete. Es warf ihn an die steinerne Brüstung wie ein übermächtig starker Gegner. Rania stand vor ihm, schön wie immer. Bleich und zerbrechlich, den Bogen noch in der Hand. Regentropfen hingen wie Tränen auf ihren Wangen, flossen ihren schlanken Hals hinab und sammelten sich in der kleinen Grube ihrer Kehle. Kühles Nass auf kühlem Stein, denn die Prinzessin war zu einer Statue aus elfenbeinernem Marmor erstarrt. Was Roshak bestimmt gewesen war, hatte sie auf sich genommen. Der Sieg über den Dunklen Schatten lag allein bei ihr. Doch um welchen Preis?
Zitternd strecke Roshak die Hand nach ihr aus, berührte das erstarrte Antlitz. Tränen rannen über sein Gesicht. Für diese Schandtat, dieses teuflische Verbrechen, sollte er büßen. Mehr noch als für den Fluch, den er über die Gargoyles gebracht.
Unsterblichkeit hatte der König begehrt! Ihn schlicht zu töten erschien Roshak eine zu geringe Strafe. So ersann er eine qualvolle Vergeltung, indem er Nacht für Nacht vor Sonarg erschien und ihm jedes Mal ein weiteres Stück Lebenszeit stahl. Die Diener hörten Schreie aus des Königs Gemach, doch keiner wagte sich hinein. Allmorgendlich konnte Sonarg im Spiegel sehen wie er alterte. Er war sich bewusst, dass sein Leben gleich Sand durch seine Finger rann und er nichts tun konnte, um es aufzuhalten, denn Roshak blieb verschwunden, kam nur des Nachts wie ein Schatten über ihn. Er würde sterben in nicht allzu ferner Zeit und Mitleid hatte er nicht zu erwarten. Die einzige Unsterblichkeit, die er noch erlangen konnte, war jene in den Chroniken des Landes. Doch die malte kein gutes Bild von ihm. Wenngleich man ihm die Morde nicht beweisen konnte, das Volk war nicht dumm. Die steinernen Gargoyles sprachen ebenso für sich, wie die schneeweiße Maid auf dem Turm. Und der Tod von König Aroll und Königin Riva lag allzu dicht beieinander, um an Zufall noch zu glauben. Um wenigstens nicht ewigliche Schmach auf sich zu laden, verbot König Sonarg bei Todesstrafe niederzuschreiben, was sich ereignet hatte. Viele landeten vor dem Henker, die sich nicht daran hielten und dienten als Mahnmal für andere.
Der König selbst starb wenige Monate später als alter, gebrechlicher Mann. Und am Tag, als man seinen Leichnam auf dem Friedhof vor der Kathedrale beisetzte, entdeckte das staunende Volk auf der Spitze über dem Eingang des Gotteshauses Roshak als elften der Gebrüder hocken. Unbeweglich und erstarrt, als habe er seit jener verfluchten Nacht schon dort gesessen. Einzig was ihn von den andern unterschied, waren die weit gespreizten Schwingen, als gelte es, sie über dem Friedhof auszubreiten, damit nichts mehr von ihm entweiche ... oder etwas zu schützen, was in den Mauern verborgen lag.
Wie zum Beispiel eine Schriftrolle mit der ganzen Wahrheit.

09. Aug. 2010 - Tanya Carpenter

Bereits veröffentlicht in:

GEISTERHAFTE GROTESKEN
F. Siegmund (Hrsg.)
Anthologie - Phantastische Geschichten - Verlag Torsten Low - Mai. 2010

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