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Die Wand
von Lothar Nietsch

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

SIEBEN VERLAG
A. Bionda
4 Beiträge / 26 Kurzgeschichten vorhanden
Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Mit verkniffenem Gesichtsausdruck starrte Josef Blomberg auf die feuchten Sandsteine der Nordmauer des großen Saales. Er wollte diese Baustelle zum Abschluss bringen, die Probleme mit dieser Wand hatten ihm gerade noch gefehlt. Er hob die Hand, überprüfte den Bewegungssensor der Webcam. Die Kamera reagierte sofort, wie schon in der ganzen Zeit. Resigniert ließ Blomberg den Arm sinken, er verstand das nicht.
Die Sanierung des mittelalterlichen Gebäudes stand größtenteils vor ihrem Abschluss. Erst letztes Jahr hatte der Stadtrat entschieden, Teile des Stadtmuseums darin unterzubringen; hauptsächlich Artefakte aus dem städtischen Leben des Mittelalters.
„Und, Herr Blomberg, wie sieht’s aus?“
Der Bauleiter drehte sich zum Sprecher um. „Unverändert. Wann, sagten Sie, kommt noch mal dieser Spezialist?“ Seine Miene verriet deutlich, wie wenig er auf diesen Termin gab.
„Morgen. Hoffen wir, dass der Mann die Ursache für die Feuchtigkeit findet.“
„Meine Leute haben bereits alle Möglichkeiten durchprobiert“, murrte Blomberg. Warum nur, hielten sich Architekten immer für so besonders schlau?
Moser sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an, während sie nebeneinander den Saal verließen. „Herr Neukamp ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Sie würden nicht glauben, was der schon alles herausgefunden hat“, sagte er mit gekränkt klingender Stimme.
Blomberg schluckte seinen Ärger hinunter und entgegnete be-schwichtigend, so hoffte er jedenfalls: „Stimmt schon, irgendwoher muss das Wasser ja kommen, aber wenn Sie mich fragen, steckt Sabotage dahinter.“ Jetzt war es heraus, sollte der Besserwisser zusehen, wie er mit dem Verdacht seines Bauleiters zurechtkam.
Abrupt blieb Moser vor der Treppe stehen. „Sabotage?“, schnarrte er. „Wer sollte denn Ihrer Meinung nach ein Projekt wie dieses sabotieren? Die Ausstellung ist weder politisch noch religiös ausgerichtet, ist außerdem kein AKW, oder so was.“
„Schon richtig“, Blomberg verdrehte die Augen. „Trotzdem, vielleicht eine Bande Jugendlicher, eine Mutprobe, Schabernack, was weiß ich. Das Wasser gelangt jedenfalls auf keinem natürlichen Weg in die Wand. Haben Sie einen besseren Vorschlag?“
Moser schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Aber bisher haben die Leute vom Sicherheitsdienst auch noch nichts von einem Einbruch oder ähnlichem berichtet. Das stützt Ihre These nicht gerade.“
„Ich weiß“, seufzte Blomberg.
„Hoffen wir, dass morgen Herr Neukamp etwas herausfindet.“ Damit schien das Thema für den Architekten ausreichend behandelt. Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr. „Ich muss los. Wir sehen uns morgen früh.“
„Ja, bis morgen dann.“ Blomberg sah dem Architekten nach. Die Handwerker hatten bereits Feierabend und er beschloss, noch so lange zu bleiben, bis die Männer vom Sicherheitsdienst auftauchten. Er staunte über die Stille auf der Baustelle, bisher war er immer mit den Letzten gegangen und so menschenleer strahlte das Gebäude eine ungewohnte Atmosphäre aus. Ohne dass er sagen konnte, was ihn dazu bewog, stieg er wieder die Treppe zum großen Saal hinauf, setzte sich auf einen der im Raum verteilten Holzböcke und betrachtete die Wand.
Kein Geräusch, nicht einmal von der Straße, irgendwie beruhigend. Zugleich befiel ihn ein Gefühl, als ob ihn irgendwer beobachtet, was Blomberg fast schon wieder unheimlich war. Er wischte den Gedanken fort und schüttelte den Kopf. Schon verrückt, dachte er, da baut man sich über Jahrzehnte einen guten Ruf auf und in wenigen Wochen ruiniert das alles eine schnöde Sandsteinwand.
Über Nacht sickerte Wasser in das Mauerwerk. In so großen Mengen, dass der Sandstein morgens troff. Jetzt, am Abend, war die Wand weitgehend abgetrocknet – Blomberg biss sich auf die Lippe, es war zum Verzweifeln.

Am nächsten Vormittag traf der Spezialist in Sachen Wasser auf der Baustelle ein. Bereits nach fünf Minuten fragte sich Blomberg, welche Mittelchen der Mann so alles zu seinem Frühstück einwarf. In dieser kurzen Zeitspanne hatte er es geschafft, Blomberg mit einem Bombardement an Fragen aus dem Konzept zu bringen. Fragen, die er laut und mit überzogener Freundlichkeit ausspuckte und die, soweit Blomberg wusste, bereits im Vorfeld geklärt worden waren. Als Neukamp keine befriedigenden Antworten mehr erhielt, drängte er darauf, die Wand zu sehen; in Augenschein zu nehmen, wie er sich ausdrückte. Stefan Moser war kurz vor dem Spezialisten erschienen und jetzt standen sie zu dritt vor der berüchtigten Wand.
Eins musste Blomberg dem Spezialisten lassen, er arbeitete schnell. In nicht ganz der Hälfte der Zeit, mit der Blomberg gerechnet hatte, trat ein Hauch von Unsicherheit auf Neukamps Gesicht.
„Nicht zu fassen“, meinte er mit gerunzelter Stirn. „Das Dach ist auch wirklich dicht?“ Er wandte sich an Moser.
„Hundertprozentig!“ Mosers Stimme hatte diesen Unterton, den Blomberg sehr wohl kannte. Der Architekt war eingeschnappt.
Blomberg schaffte es gerade noch, nicht zu Grinsen – so viel also zu diesem so genannten Spezialisten. Ohne ihn direkt anzusehen, richtete sich Neukamp an ihn.
„Kann es sein, dass irgendwo in der Wand alte Wasserleitungen verlaufen?“
„Nein, auf den Original-Plänen sind keine verzeichnet, zudem haben wir jeden Zentimeter mit einem Metalldetektor abgesucht.“ Blomberg zuckte mit den Achseln. Mosers Spezialist schindete Zeit, es fehlten ihm Ideen. Er war gespannt, was der Mann jetzt wohl aus seiner Trickkiste hervorholte.
„Gut, aber die Ergebnisse sind nicht immer zuverlässig. Ich werde die Wand röntgen.“
„Röntgen?“, sagte Blomberg nur. Dabei lag ihm etwas ganz anderes auf der Zunge. So etwas wie: Mehr fällt Ihnen nicht ein? Da er aber mit seinem Latein ebenfalls längst am Ende war, beließ er es dabei.
„Ja, röntgen“, bekräftigte Neukamp. „Ich habe die nötigen Apparaturen dabei. Kommen Sie, ist alles unten im Wagen.“ Dabei wandte er sich ab und eilte die Stufen hinunter.
Wenn’s weiter nichts ist, dachte Blomberg mürrisch, ergab sich aber seinem Schicksal und folgte dem Spezialisten. Moser begleitete ihn wortlos. Er machte auf Blomberg ganz den Eindruck, als habe er sich von Super-Mario-Neukamp entschieden mehr erwartet. Unten verabschiedete er sich dann, ohne beim Tragen der schweren Koffer zu helfen. Angeblich ein wichtiger Termin; Blomberg hätte es auch sehr gewundert, wenn der Architekt keine Ausrede gebracht und mit angepackt hätte.
Wie er schon vorher gewusst hatte, lieferte das Experiment keine neuen Erkenntnisse. Wohlig kribbelnd breitete sich das Gefühl von Genugtuung in ihm aus. Natürlich ließ sich Blomberg nichts davon anmerken, außerdem tat ihm Neukamp ein wenig leid. Der junge Mann, der so voller Pep an die Aufgabe gegangen war, schien mit dergleichen unlösbaren Problemen nur selten konfrontiert zu werden – er sah tot unglücklich aus. Mit zunehmendem Eifer holte er weitere Gerätschaften aus seinem Wagen, stellte etwas darauf ein, hielt sie an die Wand, las Diagramme und Zahlen ab, schüttelte jedes Mal den Kopf und schließlich schien er aufzugeben.
„Was sagten Sie, war Ihr Verdacht?“, wandte er sich letztendlich an Blomberg. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass er den Bauleiter direkt ansah. Er schien sich dessen nicht bewusst, Blomberg hingegen registrierte dies sehr wohl.
„Sabotage“, sagte er nur, hielt dem Blick des Spezialisten stand, der ihn so ansah, wie Blomberg manchmal die ungeschickten Hilfsarbeiter anblickte, wenn sie Mist gebaut hatten.
„Haben Sie auch eine Idee, wie?“ Die Frage klang wie eine Drohung.
Blomberg hob die Achseln. „Keine Ahnung“, erwiderte er. „Ein Sicherheitsdienst überwacht nachts die Baustelle, ohne bisher etwas bemerkt zu haben.“ Er wusste später selbst nicht, weshalb er Neukamp gegenüber die Webcam nicht erwähnte. Wahrscheinlich, weil sie sich bisher kein einziges Mal eingeschaltet hatte. Es überraschte ihn dann nicht, als Neukamp erklärte, die kommende Nacht im großen Saal zu verbringen. Vielleicht zeichneten seine empfindlichen Geräte ja Geräusche oder Erschütterungen auf, die Licht in die Angelegenheit brächten. Und für den Fall, dass Blombergs Vermutung zutraf, hatten sie dann wenigstens einen Zeugen.
Aus irgendeinem Grund hielt Blomberg das für keine gute Idee, aber wie schon so oft an diesem Tag, sagte er nichts und ließ den Spezialist machen. Er war froh als sich der Tag dem Ende neigte und er nach Hause fahren konnte.

Derart gut hatte Blomberg lange nicht mehr geschlafen. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so voller Spannkraft und Tatendrang aus dem Bett gesprungen war. Er dachte erst wieder an die Wand und diesen Spezialisten, als er die Baustelle erreichte und Stefan Mosers glänzenden Volvo in der Zufahrt parken sah. Es war kurz nach sieben Uhr, um diese Zeit hatte er den Architekten noch nie auf einer Baustelle gesehen. Bereits im Foyer eilte ihm der Architekt entgegen. Offenbar kam er von oben, vom Großen Saal.
„Haben Sie Neukamp gesehen?“, rief er Blomberg entgegen, ohne einen guten Morgen zu wünschen.
„Wie sollte ich? Ich komme gerade erst an“, knurrte Blomberg. Unhöflichkeit am Morgen konnte ihm den ganzen Tag versauen.
„Er rief mich mitten in der Nacht an und verlangte, dass ich so schnell wie möglich zur Baustelle kommen soll“, fuhr Moser fort. „Er legte auf, bevor ich fragen konnte, wie schnell er meinte und dann dachte ich, dass es heute Morgen sicher reichen würde.“
„Vielleicht holt er sich gerade Frühstück beim Bäcker“, erwiderte Blomberg, den das alles nicht die Bohne interessierte, dann ließ er Moser stehen und ging nach oben. Dabei hatte der Tag so gut begonnen.
Verlassen lag der große Saal vor ihm. Die Wand schwitzte. Neukamps Apparaturen befanden sich an Ort und Stelle, doch in der Tat fehlte vom Spezialisten jede Spur. Sein Schlafsack sah ziemlich unberührt aus, wie Blomberg fand. Als hätte ihn Neukamp zwar auf der Isoliermatte ausgebreitet, ohne dann aber darin geschlafen zu haben. Kurz stutzte er bei seinem Rundblick, als er das rote Blinken an seiner Webcam bemerkte. Die Kamera hatte etwas aufgezeichnet, dann schüttelte er den Kopf. Natürlich hatten Neukamps Bewegungen den Bewegungsmelder ausgelöst.
Mittlerweile trafen die Handwerker ein. Ausgenommen vom großen Saal, waren die Abschlussarbeiten in vollem Gange. In den übrigen Räumen war bereits der Parkettboden verlegt. Es fehlten noch Randleisten und einige Ausbesserungsarbeiten am Putz und an den Türen. Blomberg hatte zunächst seine Männer einzuteilen, damit sie sich nicht gegenseitig auf die Füße traten und die Arbeit ohne Reibungsverlust erledigt wurde. Innerlich war er heilfroh, Neukamp und seinen ebenso hoch technisierten wie nutzlosen Spielereien aus dem Weg gehen zu können.

Neukamp blieb verschwunden. Später, als Blomberg wieder Zeit fand sich mit der Problematik des großen Saals auseinander zu setzen, versuchte er den völlig aufgelösten Architekten zu beruhigen. Inzwischen hatte Moser mit Gott und der Welt telefoniert, niemand jedoch wusste etwas von einer plötzlichen Abreise Neukamps oder dergleichen. Jetzt wählte er im Zwei-Minuten-Takt Neukamps Nummer – zumindest gewann Blomberg diesen Eindruck – und ein ums andere Mal ohne Erfolg.
„Niemand hat ihn gesehen, nicht mal die Leute vom Sicherheitsdienst.“ Moser lief im großen Saal hin und her. Dabei warf er gestikulierend die Arme in die Luft und die Augen traten wie Hüpfbälle hervor. Blomberg rechnete jeden Moment mit einer Herzattacke, die den Architekten niederstreckte.
„Unmöglich, dass er einfach abgehauen ist“, konsternierte Moser.
„Wer immer für das Wasser in der Wand verantwortlich ist, hat vielleicht auch den Spezialisten verjagt“, sagte Blomberg. Nur um überhaupt etwas zu sagen und nicht ahnend, wie nahe er damit der Wahrheit kam. Plötzlich schlug er sich mit der Hand auf die Stirn. „Ich Trottel.“
„Was meinen Sie?“ Moser war stehen geblieben und schwer schnaufend starrte er seinen Bauleiter an.
„Die Webcam“, sagte Blomberg. „Vielleicht hat die Webcam was aufgenommen.“
„Warum sagen Sie das nicht gleich?“ brüllte Moser. „Lassen Sie uns nachsehen, sofort!“
„Das geht nicht so einfach“, meinte Blomberg, den der Ton des Architekten mehr aufwühlte, als das Verschwinden des Spezialisten. „Die Kamera ist mit meinem Rechner zu Hause verbunden. Die Aufzeichnungen werden dort auf Festplatte gespeichert.“
„Dann fahren Sie um Gottes Willen und überprüfen, was die Kamera eingefangen hat. Worauf warten Sie denn noch?“, herrschte Moser.
Darauf, dass Sie einen Herzinfarkt erleiden, dachte Blomberg, behielt das aber für sich und ohne ein weiteres Wort ging er nach unten zu seinem Wagen.

Wie er vermutete, hatten Neukamps Bewegungen die Webcam aktiviert, doch zeigten die Aufnahmen der ersten dreißig Minuten nichts Ungewöhnliches. Wer weiß, ob er überhaupt etwas zu sehen bekam, was das Verschwinden des Spezialisten erklärte. Blomberg setzte sich mit einem alkoholfreien Bier vor den Bildschirm und betätigte den schnellen Vorlauf. Auf der Menuleiste verfolgte er aufmerksam die Uhrzeit der Aufzeichnung. Neukamp hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und Blomberg schien es, als ob der Spezialist nach einiger Zeit im Sitzen eingeschlafen wäre. 23:00 Uhr raste vorüber, die Ziffern übersprangen die 24:00, schließlich, gegen 01:33, ging ein Ruck durch Neukamp. Er sprang von seinem Stuhl und in leicht vorgebeugter Haltung starrte er auf die Wand. Blomberg hatte nicht mitbekommen, weswegen, sofort reduzierte er die Aufzeichnung auf normale Geschwindigkeit. Dann sah er es.
Blomberg rieb sich die Augen, sein Verstand spielte ihm einen Streich – unbedingt. Warum aber starrte Neukamp dann auf die gleiche Stelle wie er? Nein, sein Verstand war völlig in Ordnung, er sah dasselbe wie Neukamp, nur mit dem Unterschied, dass der Spezialist das Geschehen leibhaftig erlebt hatte, während er eine Aufzeichnung auf dem Computermonitor verfolgte.
Exakt vor dem Spezialisten war eine Art Öffnung in der Sandsteinmauer zu sehen. Sie besaß die Ausmaße einer normalen Tür, mit dem Unterschied, dass es keine Tür war. Blomberg war sich zunächst auch gar nicht sicher, ob da überhaupt etwas war, im Sinne von greifbar, oder ob es sich lediglich um eine optische Täuschung handelte. Neukamp holte das Handy aus seiner Hosentasche, tippte eine Nummer ein, hielt sich das Gerät ans Ohr, sagte etwas – der Anruf von dem Moser gesprochen hatte. Nachdem er das Handy weggesteckt hatte, stakste er auf die Wand zu, streckte dem dunklen Rechteck die Hand entgegen. Blomberg hatte plötzlich den Eindruck, dass sich die Oberfläche bewegte. Der Anblick war ihm auf unheimliche Weise vertraut, erinnerte ihn an etwas Bestimmtes und erst nach zwei, drei Herzschlägen kam er drauf. An die schwarze Wasseroberfläche eines Waldsees bei Windstille, die von der Rückenflosse eines Fisches in Bewegung versetzt wird. Der Gedanke an eine senkrechte Wasseroberfläche in Form und Größe einer Tür ließ Blomberg schaudern. Er fand das nicht besonders klug von Neukamp, diese tiefschwarze Fläche berühren zu wollen. Aber was immer er hier zu sehen bekam, war schon vor Stunden geschehen. Nichts daran konnte er jetzt noch ändern.
Neukamps Finger zitterten auf die schwarze Fläche zu, Blomberg hätte es nicht beschworen, aber er glaubte zu erkennen, wie sich die Wellenbewegung daraufhin verstärkte. Dann tauchten die Fingerspitzen von Neukamps Hand ein, versanken in dem schwarzen Zeug, das kurz vorher eine Sandsteinmauer gewesen war. Neukamp öffnete den Mund wie zu einem Schrei, offenbar erschreckte ihn die Veränderung der Wand mindestens genauso, wie Blomberg. Nein, fuhr es ihm durch den Kopf, Neukamp war dort gewesen, mit Sicherheit hatte er eine Scheißangst ausgestanden.
Jetzt konnte er sehen, wie die Knie des Spezialisten zitterten, trotzdem tat dieser einen weiteren Schritt nach vorn, dann noch einen. In gleichem Maße verschwand die Hand tiefer in dem Rechteck, dessen Oberfläche Blomberg plötzlich an flüssigen Teer erinnerte. Bleib stehen, du Idiot, schrie er in Gedanken. Als hätte der lautlose Warnruf seinen Adressaten erreicht, dabei Zeit und Raum überwunden, erstarrte Neukamp. Dann beobachtete Blomberg, wie der Spezialist versuchte seine Hand zurückzuziehen, deutlich verrieten dies die Bewegungen der Schulter und des Ellenbogens. Obwohl die Webcam das Geschehen von der Seite einfing, waren Neukamps Entsetzen und die aufkeimende Panik deutlich von seinen Zügen abzulesen. Er nahm die linke Hand zu Hilfe, zerrte an seinem rechten Unterarm, doch bewegte er sich keinen Deut zurück. Neukamp geriet zunehmend in Hektik, er warf den Kopf nach allen Seiten, brüllte. Blomberg war froh eine Kamera ohne Mikrophon verwendet zu haben, der Anblick genügte ihm ohne Ton vollkommen. Auch wenn er nicht abschätzen konnte, wie laut Neukamps Schreie gewesen waren, so wunderte er sich dennoch darüber, dass die Leute vom Sicherheitsdienst nichts gehört hatten. Plötzlich fiel ihm wieder ein, wie gespen-stisch still er es vorgestern Abend im großen Saal empfunden hatte. Neukamps Schädel war mittlerweile rot, die Halsschlagadern fingerdick, Speichel troff aus seinem Mund. Im nächsten Moment begriff Blomberg, dass der Spezialist stetig in die Öffnung gezogen wurde, trotz seiner Gegenwehr.
„Großer Gott!“ Blomberg hielt sich die Hand vor den Mund, verkrampft starrte er auf den Bildschirm. Die Oberfläche der Öffnung brodelte, Neukamps Arm war jetzt beinahe vollständig darin verschwunden, im nächsten Atemzug verschlang die Masse die Schulter. Unvermindert stemmte sich Neukamp gegen den Sog. Dann schien es, als ob sein Kampf doch noch belohnt werden sollte, die Schulter kam mit einem Ruck frei. Fast hätte Blomberg einen Jubelruf ausgestoßen, er ballte die Fäuste; für den Bruchteil einer Sekunde war es für ihn genau so als wenn sein Fußballverein den entscheidenden Treffer erzielte, doch der Schrei erstarb jäh im Keim.
Der Rest geschah so schnell, dass sich Blomberg diese letzten Sekunden mehrmals anschauen musste, um die Bilder wirklich glauben zu können. Die schwarze Masse bäumte sich auf, folgte dem ihr zu entrinnen suchenden Mann, schlang sich um Neukamp wie ein sirupartiges Badetuch und zog ihn durch die Öffnung. Im nächsten Augenblick war das Rechteck verschwunden, an seiner statt befand sich wieder fester Sandstein. Sandstein, der aus jeder seiner Poren schwitzte.
Blomberg nicht minder, das Hemd klebte ihm auf der Haut. Mit zitternder Hand führte er die Flasche Bier zu seinen Lippen, stieß sich die Schneidezähne am Flaschenhals, ignorierte den Schmerz und trank mit gierigen Zügen. Als er die Flasche absetzte, griff er zum Telefon, tippte Mosers Nummer, doch hielt er inne bevor er die Ruftaste drückte. Er sah auf die Uhr: bereits nach Fünf. Für sein Empfinden war die Zeit, seit seiner Ankunft zu Hause, viel zu schnell verstrichen. Seine Arbeiter waren bestimmt schon gegangen und außerdem konnte er Moser später immer noch anrufen. Irgendwie hatte er das Gefühl, als müsse er die Wand alleine sehen, bevor er jemandem die Aufzeichnung zeigte. Das war völlig verrückt, so viel stand fest, trotzdem hatte er das Gefühl, als rufe die Wand nach ihm. Ja, er musste dieses Ding mit eigenen Augen gesehen haben, um es glauben zu können. Und so dumm, die schwarze Fläche zu berühren – falls sie denn auftauchte – wäre er bestimmt nicht.
Blomberg stemmte sich von seinem Stuhl, nahm seine Jacke und verließ die Wohnung. Die Baustelle wäre jetzt auf jeden Fall menschenleer, die Männer vom Sicherheitsdienst kannten ihn, sie würden keine Fragen stellen.

Die Presse berichtete noch eine Weile über das Verschwinden zweier Männer während der Bauarbeiten an der Erweiterung des städtischen Museums. Nachdem alle Spuren im Sand verliefen und die Ermittlungen eingestellt wurden, verebbte das Interesse der Medien. Die Eröffnung des Museums verschob sich um ganze sieben Monate. Der große Saal blieb bis auf Weiteres geschlossen. Nicht behebbare, bauliche Mängel, lautete die offizielle Begründung.

30. Jun. 2010 - Lothar Nietsch

Bereits veröffentlicht in:

DAS HERZ DER DUNKELHEIT
M. Campbell (Hrsg.)
Anthologie - Phantastische Geschichten - Sieben Verlag - Dez. 2008

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