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Cindys Traum von Arcana Moon
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Man konnte Cindy Nussbaum mit einem kleinen Küken vergleichen, das tief zusammengekauert in seiner Eierschale saß und sich vor dem Licht zu verstecken versuchte, welches durch das gerade gepickte Loch in der Schale fiel. Sie verspürte unbändige Angst vor dem was da draußen auf sie wartete. Deshalb kroch sie in ihrem Innersten immer tiefer in das Dunkel, dorthin wo sie sich sicher fühlte und wo ihr keiner weh tun konnte.
Cindy war sechszehn und ähnelte ihrer Mutter wie ein Ei dem anderen. Sie hatte lange rotbraune Haare und grüne Augen. Ihre Stuppsnase und ihre vollen Lippen gaben dem bleichen Angesicht einen fast niedlichen Charakter. Aber in ihren Augen reflektierte sich Ängstlichkeit und Kälte, geformt aus schmerzvollen Erinnerungen.
Sie war erst fünf Jahre alt gewesen. Gerade waren sie nach Schupfholz, einem kleinen Dorf nahe Emmendingen gezogen. Und wie das in Dörfern so ist, wurde dort sehr viel getratscht. Sina Nussbaum, Cindys Mutter, war ein sehr beliebtes Gesprächsthema. Die resolute Fünfundvierzigjährige war eine überzeugte Esoterikerin, die als Heilpraktikerin arbeitete. Nebenbei legte sie für Interessierte die Tarot-Karten oder befragte das Pendel. Ihre doch recht weltoffene Lebensberatung für die jungen Leute des kleinen Ortes wog unter den Alten noch schwerer als die Tatsache, dass sie Sonntags mit ihrer Familie nicht in die Kirche ging.
Im Umkreis von Cindys Zuhause wurden zur selben Zeit immer wieder kleine Mädchen aus dem Dorf und den umliegenden Ortschaften tot aufgefunden, alle mit abgetrennten Händen und einer Überdosis Schlaftabletten im Blut. Eifrig wurden Verdächtigungen bei der Polizei ausgesprochen, die in der Verhaftung ihrer Mutter gipfelten.
Einer der jungen Polizisten war ein wenig nervös. Die Waffe saß ihm zu locker und so schoss er Harald Nussbaum ins Bein, der Cindy eigentlich nur aus dem Raum bringen wollte. Das Geschoss traf die Arterie des linken Oberschenkels ihres Vaters. In all den Jahren sah sie es immer wieder vor sich: Seine sich weitenden blauen Augen und sein entsetzlicher Schmerzensschrei. Das Blut welches in alle Richtungen spritzte, sein verklebtes braunes Haar und sein verzerrtes Gesicht mit dem Schnurrbart. Immer wieder spürte sie, wie sein muskulöser, breitschultriger Körper, gelähmt vom Schmerz, auf ihren Leib fiel.
Der winzige Moment, in dem sie sein immer schneller pochendes Herz vernahm. Die warme Feuchtigkeit in ihrem Gesicht, der metallenen Geschmack seines Blutes auf ihrer Zunge. Und der Augenblick, in dem sie sich regelrecht aus ihrem Körper hinausgeschleudert fühlte.
Gesichtslose Polizisten versuchten vergeblich die Blutung seines Beines zu stillen. Ein Mischmasch aus Geschrei und hektischen Befehlen dröhnte durch ihren Kopf. Unweigerlich musste sie dabei an Schneewittchen denken und hörte die Stimme ihrer Mutter, die ihr das Märchen so oft vorgelesen hatte: So weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarz wie Ebenholz. Danach herrschte nur noch Dunkelheit.
Der Beerdigung durfte Cindy nicht beiwohnen, da das Risiko nach ihrem kurzzeitigen Herzstillstand und dem noch nicht verarbeiteten Schock zu hoch erschien. Weil ihre Mutter in Untersuchungshaft saß und ihr Vater verstorben war, wurde ihr Bruder Leon informiert, der weit weg in Berlin wohnte. Der Zwanzigjährige kümmerte sich aufopfernd um seine kleine Schwester. Immer wenn Cindy ihn sah, musste sie an ihren Vater denken, denn Leon ähnelte ihm sehr. Nur die Mundpartie und die bleiche Haut hatte er von seiner Mutter geerbt.
Das ein Kind ein Kind erziehen sollte, das kam den Alten im Dorf mehr als merkwürdig vor. Leon war zwar erwachsen, wirkte allerdings eher wie ein Teenager. Deshalb wurden die Geschwister von neugierigen Blicken durchbohrt wenn sie unterwegs waren. Andere Kinder spielten nicht mehr mit Cindy, da ihre Eltern ihnen den Kontakt zur Tochter der mörderischen Hexe verboten hatten.
Ein knappes halbes Jahr später begann der Prozess.
Der eifrige Staatsanwalt Heimer setzte sich perfekt in Szene, um nicht nur durch seine Ausführungen, sondern auch sein akkurates Aussehen zu punkten. Streng zurückgegelte schwarze Haare, stechende blaugraue Augen und ein ordentlich rasierter Goatee. Die Anklage war klar: Mord in zehn Fällen.
Neben unzähligen Medikamenten konnten auch Schlaftabletten während der Hausdurchsuchung bei den Nussbaums sichergestellt werden. Diese wurden durch die toxikologische Untersuchung als das Präparat identifiziert, welches den Kindern als Narkotikum verabreicht wurde. Zudem wurde laut Obduktionsbericht den Opfern die Hände direkt an der Handwurzel abgeschnitten, präzise über Speiche und Elle. Dies setze ein gewisses anatomisches Wissen voraus, wie der Staatsanwalt seine Vermutung ausführte. Und Frau Nussbaum habe diese Kenntnisse durch ihren Beruf.
Die Opfer waren durch das Schlafmittel regelrecht narkotisiert worden. Besonders mysteriös war, das bei der Obduktion nur winzige Proben von Blut aus den kalten Leibern gewonnen werden konnte. Es schien fast so, als hätte jemand den gesamten Lebenssaft aus den kleinen Körpern gesaugt ohne Spuren zu hinterlassen. Im Haus von Familie Nussbaum wurden auch keine Hinweise entdeckt. Deshalb versuchte er mit Zeugen aus der Studienzeit der Angeklagten ein eventuelles Geschäft mit einer Bluthandel-Mafia nachzuweisen. Doch das erwies sich als haltlose Unterstellung. Ganz zu schweigen von den Spekulationen das Cindy das Blut getrunken haben sollte. Auch dass die Opfer am Haus der Angeklagten gesehen wurden, reichte nicht aus, ihre Schuld zu beweisen. Immerhin war sie als Heilpraktikerin tätig, zudem die Einzige in der näheren Umgebung. Deshalb kamen auch Menschen aus den umliegenden Ortschaften zu ihr um sich behandeln zu lassen. Am Ende sah der Richter mehr Zweifel als Beweise vor sich liegen.
In dubio pro reo Im Zweifel für den Angeklagten titelte die Tageszeitung am nächsten Morgen. Wir sind hier nicht im Mittelalter, wo Menschen schon aufgrund von böswilligen Gerüchten auf dem Scheiterhaufen landen konnten, wurde der Richter zitiert. Dennoch wurde im Dorf weitergetratscht, zumal die Morde mit Sinas Verhaftung aufhörten, was für viele als direkter Nachweis ihrer Schuld gesehen wurde.
Es wäre für die vermögende Familie Nussbaum ein leichtes gewesen wegzuziehen, aber Sina sah es nicht ein davonzulaufen. Sie wollte diesem Dorf die Stirn bieten und beweisen das sie sich nicht durch üble Nachrede diffamieren ließ. Die Familie belastete das alles sehr und Leon, den Cindy immer wie einen Ersatzvater angesehen hatte, verließ die Ortschaft wieder Richtung Berlin. Auch wenn sie in all den Jahren oft telefonierten, er fehlte ihr sehr.
Als Cindy eingeschult wurde, war sie aufgrund der Tratschereien die Außenseiterin in der Klasse, mit der niemand befreundet sein wollte. Immer wieder musste sie sich anhören wie einige Mädchen in der Klasse ihr hinterherriefen: Cindy die Blasse, mag keiner in der Klasse. Ihre Mutter schlachtet Kinderlein, ihr Vater ist ein totes Schwein. Weinend lief sie dann nach Hause und verkroch sich in ihrem Zimmer, wo sie sich die Welt in bunten Elfenbildern schönmalte.
Ihrer Mutter erzählte sie irgendwann nichts mehr davon wie gemein die Mädchen in ihrer Klasse zu ihr waren. Denn wenn ihre Mutter mit den Eltern der Kinder sprach, die sie ärgerten, dann wurde es noch viel schlimmer als vorher. Deshalb schaltete Cindy den Alltag komplett aus ihrer Wahrnehmung ab und versank immer tiefer in eine Fantasiewelt. Sie fing an zu schreiben und flatterte als Elfe glücklich durch bunte Landschaften und Abenteuer.
Sina Nussbaum bemerkte wie sehr sich ihr Kind verändert hatte. So oft sah sie die Bilder und Geschichten ihrer Tochter, die wie ein Hilferuf an die Wände gepinnt waren. Doch Cindy log immer und meinte es wäre alles in Ordnung.
Eines Abends saßen Cindy und ihre Mutter am Abendbrottisch in dem schlicht möblierten Esszimmer. Das junge Mädchen war in ihrem Manuskript vertieft, was sie selbst beim Essen ihres Salami-Käse Sandwichs nicht beiseite legen konnte. Hier, wo sie in glücklicheren Tagen mit Vater auf den vier ebenholzfarbenen Stühlen am gekachelten Tisch gesessen hatten, hoffte sie das sich ihre Tochter ihr öffnete. Doch nichts geschah. Also entschloss sie sich ihr das Manuskript einfach wegzunehmen.
Cindy schreckte aus ihrem Traum.
Ich glaube wir müssen mal ein Mutter zu Tochter Gespräch führen, sagte Sina Nussbaum sanft und sah ihrem Mädchen dabei mit ernstem Blick in die Augen, in denen gerade eine Welle von unglaublicher Wut aufschäumte. Ich bin nicht deine Schulkameraden, also reiß dich zusammen, wurde Sinas Stimme etwas deutlicher. Du willst also eine Elfe sein?
Cindy errötete und nickte nur zustimmend.
Es gäbe eine Möglichkeit, begann ihre Mutter, aber die ist mit einem sehr hohen Preis verbunden.
Cindy schaute sie mit großen Augen an. All die düsteren Gedanken der letzten Jahre fielen augenblicklich von ihr ab, in Erwartung der Erfüllung eines bisher unmöglichen Traumes.
Aber wie? Ist denn die Magie in dieser Welt nicht eigentlich schon ausgestorben? Unsicher blickte sie ihre Mutter an.
Wieso denkst du das die Magie in dieser Welt ausgestorben sei, wenn doch in jedem Bild und in jeder Geschichte von dir diese Magie schwingt? Habe ich mich so in dir getäuscht?
Der scharfe Ton ihrer Mutter ließ Cindy kerzengerade sitzen.
Es ... es tut mir leid. Das erste Mal seit langem lächelte das blasse Mädchen wieder. Du hast gesagt das ein sehr hoher Preis an daran gebunden ist. Wie meinst du das? Sie atmete schwer.
Du zahlst mit deinem irdischen Leben.
Ungläubig sah das Mädchen ihre Mutter an.
Ich kann dich in die Zwischenwelt geleiten, in der du sein kannst, wer du sein willst. Aber..., sie stockte. Es gibt kein Zurück, wenn du diesen Weg erst einmal gegangen bist. Du wirst mich und Leon niemals wiedersehen.
Cindy schluckte.
Nun?, auffordernd blickte ihre Mutter sie an.
Ich möchte wie diese hier sein, sagte Cindy leise und legte ihrer Mutter das Bild hin, welches sie zuletzt gemalt hatte. Es zeigte eine Elfe in einem goldverzierten Wintermantel, die unter einem Pilz im Schnee kniete. Sie hatte Cindys Gesicht und ein kleines Eichhörnchen saß direkt vor ihr. Sina musste lächeln. Dann stand sie auf und ging zurück in die Küche. Cindy hörte wie ihre Mutter Schränke öffnete und mit Gegenständen herumklapperte. Als sie wieder zurückkam brachte sie ein Glas mit einer neonblauen Flüssigkeit mit.
Was ist das? Cindy staunte über die außergewöhnliche Farbe.
Das ist ein Trank der deine Seele in die Zwischenwelt geleitet. Du musst ihn austrinken und dir deinen Traum bildlich vor Augen ausmalen. Dann wird er wahr. Erwartungsvoll blickte sie ihre Tochter an. Sie wusste, es würde keinen Abschied geben. Es gab niemals einen Abschied. Cindy setzte an und schluckte den süßlich-bitteren Trunk hinunter. Ein paar Augenblicke später sank sie in sich zusammen.
Sina Nussbaum öffnete ein Geheimfach in der Mitte des Tisches und entnahm ihm ein blutiges Skalpell. Sie dachte bei sich, schade um das Talent meiner Kleinen. Auch wenn Cindy ihrer Mutter ähnelte, hatte sie im Gegensatz zu Leon die dämonischen Mächte leider nicht geerbt. Sie hätte dann vielleicht ein einfacheres Leben gehabt. Doch nun war es zu spät. Während sich ihre Tochter in den Tod dämmerte, schnitt sie ihr langsam und bedächtig mit dem Skalpell die Hände ab. Das Blut spritzte nur so auf Sinas Hände, Brust und in ihr Gesicht. Doch ihr Körper absorbierte sofort jeden einzelnen Tropfen des kostbaren Lebenssaftes. Was für ein Festmahl! Ihre Wangen bekamen langsam wieder Farbe.
Träume meine Kleine ... solange du noch träumen kannst, flüsterte sie leise, während sie sanft über das blutleere Gesicht ihrer Tochter streichelte. Ein ironisches Lächeln zierte ihre feuerroten Lippen. Sie war sich sicher, von jetzt ab, würde sie niemand mehr Hexe oder Mörderin nennen.
30. Jul. 2010 - Arcana Moon
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