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Roks Kinder
von Stefanie Pappon

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

SIEBEN VERLAG
A. Bionda
4 Beiträge / 26 Kurzgeschichten vorhanden
Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Eska rannte, bis sie erschöpft auf dem eiskalten Boden zusammenbrach. Die weißen Fäden krochen über die Stadtmauer von Rega, spannten sich über die Straßen, wucherten bis zum Schloss des Herzogs, über die Zugbrücke, den Hof, die Treppe hinauf über endlose Korridore, verfolgten Eska, wo immer sie sich zu verstecken versuchte. Sie fühlte eine Armee von weißen Fäden über ihre Füße kriechen. Eska schrie verzweifelt um Hilfe. Niemand kam, um sie zu retten.
Das Weiß griff mit winzigen weißen Klauen nach dem Saum ihrer Robe, rankte wie Raureif über den Rock, die Brust, die Ärmel hinauf zu ihrem Gesicht. Starr vor Entsetzen hörte Eska auf zu schreien, presste die Lippen zusammen, damit die weißen Wucherungen nicht in ihren Mund eindringen konnten. Die Fäden glitten in ihre Nase und sie bekam keine Luft mehr. Sie erstickte!
Eska schreckte hoch, einen pochenden Schmerz hinter den Schläfen. Es war eiskalt und dunkel. Nur langsam wurde ihr bewusst, dass sie geträumt hatte.
Dann klopfte es an der Tür. Langsam öffnete sie sich um einen Spalt. Ein Lichtschein erhellte den Raum, das Bett ihres Vaters, sein verschwitztes Gesicht, seinen unnatürlich aufgedunsenen Körper, das weiße Gespinst, das an seinem Hals wucherte.
Eska biss sich auf die Lippen, versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Es gab kaum mehr Heiler in der Stadt. Die Seuche hatte die meisten von ihnen schon geholt. Deshalb waren die Bürger gezwungen ihre Kranken selbst zu pflegen und in die Fratze der Seuche zu blicken. Niemand wusste, was die Krankheit auslöste, niemand kannte ein Gegenmittel, niemand überlebte.
Der Diener ihres Vaters trat leise ins Zimmer und deutete eine Verneigung an. Er trug eine brennende Kerze auf einem Kerzenhalter und einen Teller Suppe herein. Beides stellte er auf dem Nachttisch ab.
„Ihr habt heute noch nichts gegessen, Mistress“, mahnte er eindringlich. „Seit drei Tagen schon wacht ihr am Krankenlager eures Vaters. Ihr müsst bei Kräften bleiben, um ihn pflegen zu können. Esst die Suppe!“
Gerade jetzt bekam sie keinen Bissen herunter. Schon beim Gedanken an Essen drehte sich Eska der Magen um. Sie schüttelte deshalb den Kopf: „Nein, Mer, ich kann nicht. Aber ich muss mich bei dir bedanken. Du hast mich mit deinen Pilzsuppen am Leben gehalten. Ich hoffe, ich kann mich einmal bei dir angemessen dafür bedanken.“
Sie blickte ihm ins faltige Gesicht, versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. Mer war erst vor einem halben Jahr in die Dienste ihres Vaters getreten und hatte sich seither unentbehrlich gemacht.
„Gewiss“, antwortete er unverbindlich. „Sicher könnt Ihr Euch bald erkenntlich zeigen.“
Er zog sich auf die andere Seite des Bettes zurück, wo er schweigend wie der Tod in den Schatten wartete.
Das Licht der Kerze zeigte Eska, dass es mit ihrem Vater zu Ende ging. Er glühte vor Fieber und kämpfte röchelnd um jeden Atemzug. Seit dem letzten Schüttelanfall lag er reglos auf den Laken, das altersgraue Haar und der weiße Bart schweißnass. Die Krämpfe in Armen und Beinen waren vor zwei Tagen so schlimm geworden, dass Eska ihn mit breiten Lederbändern ans Bett gefesselt hatte, damit er sich nicht selbst Schaden zufügte.
Nun drehte er den Kopf und starrte sie aus Augen an, die keine Iris mehr hatten. Heute Morgen hatte ein weißer Schleier die Augäpfel überzogen und den obersten Richter des Herzogs erblinden lassen.
Er bewegte die Lippen, flüsterte etwas, das sie nicht verstand. Er warf den Kopf hin und her, murmelte erneut. Eska beugte sich vor, legte ihre Hand sanft auf seinen Brustkorb, fühlte sein Herz wie ein Huhn auf dem Schlachtblock flattern.
Plötzlich spannte sich sein Körper, er rang nach Luft. Eska wich zurück.
„Rok“, stieß er so heftig hervor, als wollte er einen Fluch aussprechen. „372! Rok!“, würgte er mit letzter Kraft. Dann sackte er zurück.
Rok? Sie hatte diesen Namen noch nie gehört. Und was hatte diese Zahl zu bedeuten?
Eska wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn ihr Vater bäumte sich erneut auf. Eine milchig gelbe Flüssigkeit sickerte aus seinen Ohren. Seine Augäpfel wölbten sich unter einem inneren Druck, bogen sich nach außen, durchstießen die Hornhaut und quollen wie aufgeschlagene Eier aus den Höhlen. Dann fiel er zurück und rührte sich nicht mehr.
„Vater!“
Eska tastete verzweifelt nach einem Puls, legte den Kopf auf seinen Brustkorb, um seinem Herzschlag zu lauschen. Doch sie hörte nichts. Hermanus von Umat war tot.
Tränen brachen sich die Bahn. Schluchzend fummelte sie an den Lederbändern herum, um sie zu lösen. Warum hatte sie ihm nicht helfen können? Sie hatte versagt! All der Kummer und die Hilflosigkeit der letzten Tage stiegen in Eska auf. Sie begann haltlos zu weinen.
„Du hast das Totenlicht gebracht, Mer“, flüsterte sie nach einer Weile erschöpft dem alten Mann zu, der immer noch auf der anderen Seite des Bettes stand. „Vater ist in die Weite gegangen.“
Sie versuchte sich zusammenzureißen. Hilflos hatte sie zuschauen müssen, wie die weiße Seuche ihren Vater tötete. Nun wollte sie wenigstens ergründen, was seine letzten Worte zu bedeuten hatten, solange noch ein Quäntchen Kraft in ihr steckte. Sie blickte hinüber zu dem Diener:
„Du hast es selbst gehört, Mer. Weißt du etwas über Rok oder diese Zahl?“
Mer schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß, dass Euer Vater vor drei Tagen in der Bibliothek war“, fügte er hinzu. „Der Bibliothekar fand ihn dort zwischen den Regalen zusammengebrochen auf dem Boden.“
„Dann muss ich in die Bibliothek, Mer. Wirst du mir helfen?“
„Mistress, es ist zwei Uhr nachts“, gab er zu bedenken. „Gönnt Euch eine Pause. Schlaft! Ich lasse den Herzog vom Tod des obersten Richters wissen. Ich werde auch den Bibliothekar befragen und Euch berichten, ob er etwas weiß.“
Eska schüttelte den Kopf. „Wie könnte ich jetzt schlafen? Ich muss in die Bibliothek. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, Mer. Lass mir das Gefühl, wenigstens dieses Rätsel lösen zu können, wenn ich schon meinem Vater nicht helfen konnte. Vielleicht kann ich dann schlafen.“
Der Diener nickte: „Dann werde ich Gon, den Bibliothekar, aus dem Bett werfen. Er hat Euren Vater gefunden und er weiß auch, welches Dokument Euer Vater las, als er zusammenbrach.“
„Ich danke dir, Mer.“ Sie brachte fast nicht über die Lippen, was sein musste. „»Sag auch der alten Totengräberin Bescheid. Der Leichnam meines Vaters muss sofort verbrannt werden.“

Es war so kalt, dass sich kleine Wölkchen bildeten, wenn Eska ausatmete. Ein Schauer stahl sich über ihren Rücken und ihr war ein wenig schwindelig. Das Pochen hinter ihren Schläfen war heftiger geworden und kündigte eine Migräne an. Sie musste sich bald hinlegen, sonst würde sie irgendwann zusammenbrechen. Sie lehnte sich an die Wand und hielt die Öllampe näher an die Eichenholztür, damit sie Gon besser sehen konnte. Der Junge war grade mal fünfzehn Jahre alt. Trotz seiner Jugend begleitete er das verantwortungsvolle Amt des Bibliothekars, nachdem sein Lehrmeister vor zwei Wochen an der weißen Seuche gestorben war.
Er rührte umständlich mit einem Ungetüm von Schlüssel im altersschwachen Schloss des Dokumentenarchivs herum. Endlich sprang das Schloss auf. Gon stemmte sich gegen das schwere Eichenholz und öffnet die Tür. Eska trat hinter ihm ein. Der Schein der Öllampe wanderte über einen Irrgarten aus Regalen, auf denen sich Schriftrollen, Bücher und Karten stapelten. Zielstrebig wieselte der Junge los und steuerte eine morsche Treppe an. Gemeinsam kletterten sie hinunter in ein uraltes Gewölbe. Hier roch es nach modrigem Leder und feuchtem Holz.
Gon nahm Eska die Öllampe aus der Hand und ließ sie damit in der Dunkelheit zurück.
„Wartet hier“, hörte sie nur, als er zielstrebig davoneilte. Der Lichtschein verschwand hinter einer Wand, die nur aus Dokumentenköchern zu bestehen schien, tanzte kurz an einer Stelle des Gewölbes, dann kam Gon mit einem der Lederköcher zurück.
„Hier!“ Er zog das Dokument vorsichtig aus der Hülle und überreichte es ihr. „Das ist die Rolle, die Euer Vater las, als ich ihn fand.“
Eska stellte die Öllampe neben sich auf ein Regal. Das breite, blaue Band, das die Rolle zusammenhielt, zeigte an, dass es sich um ein Gerichtsprotokoll handelte. Als sie an der Verknotung nestelte, fiel ihr das Datum auf dem Band ins Auge. Sie wunderte sich.
„Dieses Schriftstück ist ja schon fünfundzwanzig Jahre alt!“
Sie erhielt keine Antwort. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sie Gon allein gelassen hatte. Im Schein der Öllampe rollte sie das Schriftstück auseinander. Es handelte sich um die Gerichtsakte 372. Die Rolle berichtete vom Todesurteil gegen Rok, Rebell gegen das Reich und Stadtzauberer, das durch Enthauptung vollzogen worden war. Der Richter war ihr Vater gewesen. Truppen des Königs hatten damals Rega belagert, weil sich die Stadt für reichsfrei erklärt hatte, sich weigerte Abgaben an den König zu zahlen und andere Städte des Reiches aufforderte, sich ebenfalls unabhängig zu erklären.
Der Befehl des Königs war unmissverständlich: Er wünschte diese Rebellion im Keim zu erstickten, gefährdete sie doch seine Kriegspläne in finanzieller und politischer Hinsicht. Nachdem das Heer des Königs die Stadt eingenommen hatte, befahl der König ein Exempel zu statuieren. Wer nicht bei der Eroberung umgekommen war, starb auf dem Richtblock. Die verwaiste Stadt wurde mit reichstreuen Untertanen besetzt.
Die Rolle berichtete davon, dass Rok, der Stadtzauberer schallend lachte, als das Beil auf seinen Nacken nieder sauste. Vor seinem Tod hatte er noch prophezeit, dass ihn seine Kinder rächen würden, dass ganz Rega bei lebendigem Leibe verfaulen und die Stadt wieder an die Rebellen zurückfallen würde. Um Racheaktionen auszuschließen, hatte man sofort nach Roks Verwandten geforscht. Doch weder in der Stadt noch im ganzen Reich fand man jemanden.
Eskas Vater hatte wohl angenommen, dass mit der weißen Seuche Roks Prophezeiung in Erfüllung ging. Wie war er bloß auf die Idee gekommen, einen schon fast drei Jahrzehnte toten Stadtzauberer für seine Krankheit verantwortlich zu machen? Eska kam zu dem Schluss, dass er schon fiebrig gewesen sein musste, als er diese Idee ausbrütete.
Sie rollte das Protokoll zusammen, um es wieder in die Lederhülle zu stecken. Doch ein heftiger Schlag auf ihren Hinterkopf ließ alles um sie herum dunkel werden.

Auf Morwina Schrats Karre passten entweder zwei Leichen oder vier Körbe ihrer speziellen Champignons. Heute Morgen waren es mal wieder Champignons. Die Bürger von Rega, die die Seuche noch nicht geholt hatte, würden sich wie immer auf die Lieferung freuen, versprachen doch Pilze eine Abwechslung auf dem winterlichen Speiseplan. Und Morwina wollte gut verdienen, so lange es noch möglich war. Die Alte klemmte sich also ihre dicke Zigarre zwischen die Zähne und packte den letzten Pilzkorb. Sie schleppte ihn die ausgetretenen Steinstufen der Katakomben hinauf ins Dämmerlicht des Wintermorgens. Am Ausgang angekommen, schob sie den Weidenkorb zu den anderen auf der Ladefläche. Man hätte Morwina auf siebzig Jahre schätzen können, doch sie schwang sich wie eine junge Magd auf die kleine Sitzbank des Karrens, schmauchte kurz an der vor sich hin qualmenden Zigarre und griff dann die Zügel. Morwina schnalzte mit der Zunge und ließ die Zügel auf den Rücken des angespannten Maultiers klatschen. „Hüh, Hippe!“
Alles was sich an Hippe regte, war ein Maultierohr, das sich nach hinten drehte.
„Hüh!“ knurrte Morwina unwirsch und kaute auf der Zigarre herum. Dabei schwang sie die Peitsche in der Luft. „Jeden Tag das gleiche Theater. Was bist du nur für ein Faulpelz!“, schimpfte sie.
Hippe schnaubte und legte sich halbherzig in die Riemen. Raureif knirschte unter den Rädern, als das Gespann den Weg entlang zuckelte, an den kokelnden Scheiterhaufen für die Opfer der Seuche vorbei und hinauf in die Stadt Rega. Das Morgenrot berührte gerade die trutzige Stadtmauer und kroch über sie hinweg. Morwina grinste schadenfroh bei diesem Anblick. Stadtmauern waren Relikte einer anderen Zeit. Sie konnten keinen Schutz mehr bieten. Man brauchte zur Eroberung einer Stadt keine Heere mehr. Jetzt rumpelten Bedrohungen auf einem Maultierkarren in die Stadt. Aber es würde noch eine Weile dauern, bis sich diese Erkenntnis durchsetzte. Morwina sah schon von weitem, dass das Stadttor offen und die Stadtwachen damit beschäftigt waren, Dutzende von Toten außerhalb der Stadtmauer zu stapeln.
Morwinas Grinsen wurde noch ein wenig breiter, als Mer, ihr Vetter, auf sie zukam. Er stieg zu ihr auf den Kutschbock.
„Heute holst du Ehrengäste ab!“, sagte er, „den Richter und seine Tochter.“
Morwina tat einen Zug an ihrem Zigarrenstummel und grunzte vergnügt. Sie grüßte die Soldaten, als sie das Tor passierte und versprach, sich mit ihren Helfern um den Stapel Leichen zu kümmern, wenn sie ihre Pilze in der Schlossküche und im Wirtshaus ‚Zur wilden Sau’ abgeliefert hatte.
Schon bald fuhr sie wieder zum Tor hinaus, auf der Ladefläche die beiden Todesfälle aus dem Schloss und auf dem Leichentuch, das die Leichen bedeckte, die leeren Körbe. Mer saß immer noch bei ihr auf dem Kutschbock. Den Wachen hatte er erzählt, seinen Herrn zur Verbrennung begleiten zu wollen.
An den Scheiterhaufen angekommen, hielt Morwina den Karren kurz an und begutachtete die Feuerstellen. Unzufrieden schüttelte sie den Kopf.
„Das qualmt nicht genug“, wandte sie sich an Mer und deutete dabei auf einen Berg modernder Strohballen. „Tu mir den Gefallen und wirf noch ein bisschen von dem nassen Zeug in die Feuer. Wir wollen doch die Stadtwachen in dem Glauben lassen, dass wir zur Bekämpfung der weißen Seuche unser Bestes geben.“
Der Diener stieg vom Wagen und lachte: „Du hast den Humor deines Vaters geerbt. Fahr nur vor. Ich erledige das und treffe dich dann bei den Katakomben.“
Schon bald war Morwina an ihrem Ziel angekommen. Sie stieg von der Karre und schnippte dabei mit dem Finger. Augenblicklich zerfloss das Maultier zu zwei Männern, die hintereinander im Zuggeschirr standen, der vordere mit dem Kummet um den Hals.
„Hip, Pe, steht hier nicht faul rum, als hättet ihr nichts zu tun“, pfiff die Totengräberin sie an. „Nehmt die Beine in die Hand und schafft unsere erlauchten Gäste runter.“
Damit stieg sie schon mal die ausgetretenen Stufen zu den alten Katakomben Regas hinunter, während sich ihrer Helfer noch von dem Maultiergeschirr befreiten. Unten angekommen entzündete Morwina eine Fackel. Das schummrige Licht zeigte ein Labyrinth von Gängen. Hip und Pe schleppten gerade den Richter und Eska in Leichentücher gewickelt die Treppe herunter.
„Müht euch nicht mit der Kleinen ab“, rief sie den zweien zu. „Lasst sie selber dahin gehen, wo sie das Schicksal ereilt. Da ihr Vater schon tot ist, soll sie an seiner Stelle für das büßen, was mein Vater durchmachte, als man ihn zum Richtblock schleifte.“
„Glaubst du, sie ist wach?“, wollte Pe wissen.
Morwina nickte. „Sicher. Als ich bei den Scheiterhaufen anhielt, hat sie schon mal gezuckt.“
Damit schlug sie das Leichentuch zurück, in das Eska gehüllt war. Die Richtertochter war gefesselt und geknebelt, aber wieder bei Bewusstsein. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihr Gesicht mit einem Schweißfilm überzogen. Sie blinzelte und starrte aus glasigen Augen die Totengräberin an.
„»Im Gegensatz zu euch zwei Nieten kann man sich auf meinen Vetter immer verlassen“, belehrte die Alte Hip und Pe. „Mers Pilzsuppe hat die Mistress infiziert und wie es aussieht, fiebert sie schon.“
Hip löste Eskas Fesseln und zerrte sie auf die Füße.
„Na, wie fühlt es sich an, wenn der Vater tot ist? Seit ich geboren bin, musste ich mit diesem Schmerz weit weg von hier leben“, fragte Morwina und spuckte dabei den herunter gebrannten Zigarrenstummel auf den Boden. „Euch Königstreue hat es nie gekümmert, wie das schmerzt. Nun lernt ihr es!“
Sie schnippte wieder mit dem Finger. Ihre Gestalt verschwamm und nahm die einer Mitzwanzigerin an.
Eska schnappte nach Luft und schrie auf. Sie versuchte sich aus Pes Griff zu winden. Offensichtlich hatte sie die unerwartete Verwandlung erschreckt oder sie hielt sie für einen Fieberwahn.
„Du träumst nicht, Schätzchen!“ kicherte Morwina. „Ohne, dass ihr es gemerkt habt, hat eure Totengräberin schon lange das Zeitliche gesegnet. Ein Zauber, der mich wie sie aussehen lässt, war für unsere Pläne äußerst nützlich. Darf ich mich vorstellen, Mistress?“ Sie deutete eine gespielte Verbeugung an. „Ich bin Rin, Tochter des Kriegszauberers Rok. Mein Vater war weise genug, mich vor der Eroberung Regas ins Ausland zu schaffen, damit ich Rache üben und seine Ideen weitertragen konnten, wenn ich alt genug dafür war und er nicht überlebte. Vor seiner Hinrichtung schluckte er das Samengeflecht seiner letzten Studien, die weißen Seuchenpilze. Und er belegte ihre Keimung mit einem Zeitzauber von zwanzig Jahren. Ihr habt den Körper meines Vaters, wie all der anderen Rebellen, dummerweise in diesen alten, ungenutzten Katakomben hier verrotten lassen, anstatt ihn zu verbrennen. So konnte ich ihn wiederfinden und die erste Ernte, die aus seinen Überresten wuchs, in Rega verkaufen. Und nun, edles Fräulein, zeige ich dir dein Schicksal.“
Sie drehte sich um und betrat einen der dunklen Tunnel. Das Fackellicht tanzte über Spinnweben und in den Stein gehauene Grabnischen, in denen zerfallene Skelette ruhten. Während Hip den toten Richter geschultert und mit einer Öllampe in der Hand Rin folgte, stieß Pe Eska so grob vor sich her, dass sie immer wieder hinfiel. Schließlich schleifte er sie hinter sich her, weil sie nicht mehr die Kraft hatte aufzustehen oder zu gehen.
Schon bald mündete der Gang in eine große Felsenhalle, deren Decke so hoch war, dass das Fackellicht sie nicht erreichte. Einige Fledermäuse zischten an Rin vorbei, als sie ihre Fackel in die dafür vorgesehene Halterung steckte. Dann nahm sie ein großes Messer aus einer Steinnische. Hip hob währenddessen die Lampe und ließ ihren Schein über etliche Steinplatten gleiten, auf denen die bisherigen Seuchenopfer aufgebahrt waren. Er schritt die langen Reihen der Leichen ab, die feines, weißes Gespinst überzog. Ein süßlicher Duft ging von den feinen Fäden aus und überdeckte den Verwesungsgeruch. Aus tiefen Schnitten im Unterleib der Leichen drängten Handteller große Pilzköpfe nach oben. Sie gaben dabei schmatzende Geräusche von sich, ganz so, als verspeisten sie etwas.
Hip hatte einen freien Stein entdeckt, auf den er den Richter legte und ihn entkleidete. Pe zerrte Eska zu dem Stein und zwang sie zuzusehen, wie Rin das Messer ansetzte und mit einem sauberen Schnitt den aufgeblähten Bauch des Richters aufschlitzte. Dabei entwich ein übler Gestank. Im Schein der Lampe schimmerten Daumennagel große, weiße Pilzhütchen im Bauchinneren.
„Wenn dein Vater reif ist, wird er der Erste sein, den wir unseren Brüdern und Schwestern der Freiheitsbewegung in der nächsten Stadt schenken“, wandte sich Rin an Eska, die vor Fieber glühend an dem Stein lehnte. „Auch sie werden Roks Kinder wie ich züchten und verkaufen.“
„Mögt ihr alle an der weißen Seuche eingehen“, murmelte Eska kraftlos. Sie verlor den Halt und sackte vor der Steinplatte auf den Boden.
Rin schmunzelte. „Wir kennen den Gegenzauber, der uns schützt! Roks Kinder können uns nichts anhaben.“
Pe, der sich im Halbdämmer zu schaffen machte, kam mit einer langen Kette, die mit Handschellen verbunden war, zurück. Er bückte sich zu Eska hinunter und presste ihre Handgelenke so roh in die eisernen Fesseln, dass sie aufschrie. Dann wickelte er die Kette um den Stein und verschloss das Ganze mit einem Vorhängeschloss.
„Vielleicht erlebst du noch, wie Roks Kinder aus deinem Vater hervorgehen“, sagte Rin schadenfroh zu Eska. „Aber bis du die ersten Krämpfe kriegst, kannst du ihnen ja auch zuhören.“
Rin schlenderte mit ihren beiden Helfern davon. Die Leichenhalle versank in Dunkelheit, als sie die Fackel mitnahmen. Nur noch das Schmatzen der Pilze klang an den Höhlenwänden wider.

03. Sep. 2010 - Stefanie Pappon

Bereits veröffentlicht in:

DAS HERZ DER DUNKELHEIT
M. Campbell (Hrsg.)
Anthologie - Phantastische Geschichten - Sieben Verlag - Dez. 2008

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