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Die Mittlerin
von Thorsten Schweikard

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
98 Beiträge / 29 Interviews / 31 Kurzgeschichten / 5 Artikel / 66 Galerie-Bilder vorhanden
Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/

Eine SunQuest-Geschichte
Alle Serienromane auf einen Blick



»Manchmal saß ich dort, im Schatten der Pagode zu Raimi, und sang die Ode der Dreieinigkeit für euch«, sagte Tes-Shae sinnierend und mit melancholischem Unterton in der Stimme.
Ich blickte ins tiefe Gelb ihrer Augen, das so nur dann erstrahlte, wenn die Mittlerin ihre quasi-weibliche Erscheinung annahm. In ihren Blick stand Schmerz geschrieben, aber auch Erschöpfung nach dem langen Marsch.
»Weißt du Jon-She«, fuhr sie fort. »Mer-Sha und du, es war nie eine Frage, dass ich euch beide erwählen würde. Ihr passt wundervoll zusammen.« Sie zögerte. »Wäre sie doch nur bei uns gewesen.«
Tes tauchte ihre linke Greifklaue in die Tasche ihres Gurts, fischte den Samen einer Schirmlilie heraus und ließ ihn fallen. Mit der Handlungsklaue ihres rechten Arms berührte sie den Boden, konzentrierte sich und weckte ihre Psimagie. Der Samen keimte und trieb innerhalb eines Atemzugs aus.
»Mach dir keine Vorwürfe«, erwiderte ich und betrachtete das prachtvolle Gewächs, das uns bereits um mehr als das Doppelte überragte. »Weder du noch ich können etwas dafür, dass sie auf den Feldern war, als die Söldner kamen.«
»Sie werden sie auf dem Sklavenmarkt anbieten«, äußerte Tes ihre Befürchtungen. Ihr Nackenkragen richtete sich auf, das Federkleid sträubte sich. »So, wie die Schergen des Grunjar es immer tun, wenn sie ihr Einkommen aufbessern wollen.«
Grunjar: Name des Usurpators. In Gedanken verfluchte ich ihn, der im Fürstentum Dertupan und der gleichnamigen Stadt ein Terrorregime führte. Gewöhnlich verschonte er uns, die Nirtu, da er offenkundig einen Narren an unserem Volk gefressen hatte. Das schien sich geändert zu haben. Seine Tributsöldner hatten vor zwei Diarien unsere Heimat am Fuß der Zunn-Berge überfallen. Bald nachdem sie verschwunden waren, zogen wir bittere Bilanz. Mer-Sha fehlte, als Einzige unseres Clans.
»Notfalls kaufen wir sie eben zurück«, gab ich mich zuversichtlich. Über die entsprechenden Mittel verfügten wir, wie auch über den Segen der Älteren, die hinter unserem Vorhaben standen. Ein Nirtu ließ einen anderen nie im Stich.
Unabhängig davon stand es für Tes-Shae und mich außer Frage, dass wir nicht ruhen würden, bis wir erfolgreich sein würden oder unser Scheitern offenbar wurde. Ein Leben ohne Mer-Sha war für uns nicht vorstellbar. Sie, die Dritte in unserem Bund. Sie, die die männliche Seite in Tes weckte. Sie, ohne die wir nicht komplett waren.
»Sie fehlt«, klagte die Mittlerin.
»Sie fehlt«, pflichtete ich bei.
Tes zog mich zu sich unter den Kelch der Schirmlilie. Allein zu zweit verschliefen wir die größte Mittagshitze im Schatten der Pflanze.

Am frühen Nachmittag erreichten wir die Stadtmauer von Dertupan.
Viele Lunarien waren seit meinem letzten Besuch vergangen. Wesentliches hatte sich nicht verändert. Es war dieselbe kleine Stadt geblieben, die Gebäude wuchtig, kompakt, hässlich. Protzbauten, wie Menschen sie gern zur Schau stellten.
Und doch. Etwas stimmte nicht.
Wir verharrten.
Massen von Menschen und Mitglieder einiger andere Völker strömten durch die Stadttore hinaus, mit Sack und Pack, zu Fuß, auf Reittieren, mit Wagen.
Was ging da vor sich?
»Fliehen sie?«, rätselte Tes.
Damit mochte sie richtig liegen, wenn man in den Mienen der Menschen las. Angst und Verbitterung standen darin geschrieben.
»Wenn ja, vor was oder wem?«, lautete meine Gegenfrage.
»Da!« Die Mittlerin deutete zum Himmel. Dann sah ich es auch: Vier, nein, fünf schwarze Objekte flogen in V-Formation über der Stadt, zogen einen Halbkreis und entfernten sich in hohem Tempo in östliche Richtung.
Viele der Flüchtenden starrten wie gebannt den seltsamen, bedrohlich wirkenden, vogelartigen Wesen hinterher. Hier und da vernahm ich ängstliches Raunen.
Ich glaubte zu wissen, um was es sich bei den Fliegern handelte; Nomaden, mit denen wir regen Handel betrieben, hatten von ihnen berichtet.
»Es sind Orgavögel, organisch-mechanische Fluggeräte, die von den mysteriösen ›Stummen‹ benutzt werden«, erklärte ich, obwohl auch Tes die Geschichten der Nomaden bestens kannte.
Ihr Nackenkragen zitterte. »Es ist also wahr. Sie existieren wirklich.«
Die Nomaden wussten Schauerliches zu berichten über diese Unheimlichen, die wie aus dem Nichts über Less herfielen, an vielen Orten gleichzeitig ihre Eroberungsfeldzüge führten und unsere Welt in Angst und Schrecken versetzten.
»Hm.« Ich überlegte und erkannte schnell die Chance, die sich uns bot. »Das muss nicht zu unserem Nachteil sein!« Die Stummen bedrohten Dertupan. Das hieß, die gesamte Aufmerksamkeit würde sich auf sie konzentrieren. »Komm mit!«
Entgegen dem Strom der Flüchtlinge bewegten wir uns durch eine Stadt, die man zwar gefährdet, aber längst nicht verloren sah. An Kreuzungen wurden Barrikaden errichtet. In Häusern, die strategisch günstig standen, gingen Söldner und reguläre Ordnungstruppen ein und aus. Aus den Fenstern ragten die Läufe von Waffen. Dertupan war dabei, sich in ein gewaltiges Heerlager zu verwandeln. Der Fürst zeigte sich offenkundig nicht gewillt, sein Reich kampflos dem Feind zu überlassen.
Tes und mir wurde kaum Beachtung geschenkt. Ohne Schwierigkeiten kamen wir voran und erreichten alsbald den Ort, an dem man die Sklaven gefangen hielt, um sie höchstbietend zu verkaufen.
Abrupt blieb ich stehen.
Tes stieß gegen mich, sie gurrte überrascht auf. »Was ist?«
Konfusion und Ernüchterung bemächtigten sich meiner. »Daran kann ich mich nicht erinnern«, erklärte ich knapp.
»Wieso? Sind wir falsch?«
»Nein. Aber hier handelt niemand mehr.«
Der Bunker, in dem sie die Sklaven hielten, stand nicht mehr, die große asphaltierte Freifläche war weg. Den Ort zierte stattdessen Grün, Blumenpracht und ein Teich, in dem sich Wasservögel tummelten.
»Ich fasse es nicht! Sie haben einen Park daraus gemacht!« Ich fauchte voller Wut.

»Ende des Weges«, bemerkte ich. »Wer weiß, ob sie überhaupt noch hier ist.« Meine Enttäuschung war riesengroß. Möglich, dass man Mer-Sha in Anbetracht der Gefahr bereits aus der Stadt geschafft hatte.
Tes-Shae ließ nicht erkennen, ob sie meine Annahme teilte, stattdessen sage sie: »Sie werden den Sklavenhandel einfach in einen anderen Stadtteil verlegt haben. Fragen wir doch nach.«
Sie marschierte schnurstracks auf eine Gruppe Söldner zu, die im Park Stellung bezog.
Der Schreck plusterte meine Federn auf. »Halt! Bist du denn von allen Windgöttern verlassen?«
Ich stürmte hinterher und packte Tes am Arm. In diesem Moment wünschte ich nichts sehnlicher, als dass sie mich nicht begleitet hätte. Ihr Verhalten stellte ein Risiko ersten Ranges für uns dar. Wie alle Mittler war sie sprunghaft, folgte oftmals nur ihren Gefühlen. Wäre das dritte Geschlecht doch nur so berechenbar in seinen Handlungen, wie die Frauen es waren!
Sogleich schalt ich mich für diese Überlegung. Aus ihren Augen bedachte mich Tes mit einem unschuldigen, geradezu naiven Blick
»Wenn du dich erkundigen willst, frag jemanden anderen, aber doch nicht die Schergen des Fürsten, die uns Mer geraubt haben! Willst du im Kerker des Grunjar landen?!«
»Verzeih.« Traurig zog sie die Mundwülste zusammen und schaffte es dadurch, dass ich mich schlecht fühlte.
»Schon gut.«
Wir wandten uns an eine Großfamilie, die gerade die Straße herunterkam, einen voll beladenen Handkarren hinter sich herziehend.
»Lasst uns ins Frieden, Federvolk!«, lautete die harsche Reaktion.
Beim nächsten Versuch hatten wir mehr Glück. Am Rand des Parks saß ein alter Mann. Heruntergekommen und in schmutziger Kleidung zeichnete er mit einem Stock Kreise ins Gras.
»Entschuldige bitte«, sprach Tes ihn an.
Er unterbrach seine sinnlose Tätigkeit und blickte uns an. »Na, auch ohne Heim?«, murmelte er kaum verständlich. »Haben mich einfach aus der Herberge geworfen. Machen jetzt einen Befehldingsbums draus, oder so was.«
»Vielleicht kannst du uns helfen«, bat Tes. »Wir sind auf der Suche nach unserer Partnerin. Sie wurde von Söldnern verschleppt und hierher gebracht.« Sie machte eine umfassende Geste. »Wir dachten, sie würden sie auf dem Sklavenmarkt feilbieten, aber den gibt es wohl nicht mehr.«
Unvermittelt lachte der Mann schallend auf. »Eure Partnerin?« Sein Blick pendelte zwischen der Mittlerin und mir. »Komische Vögel seid ihr. Nein, mit Sklaven handelt man nicht mehr, in der Tat. Kein Profit mehr. Wird wahrscheinlich ins Konkubinat gesteckt worden sein, eure Frau. Im Palast. Bringt mehr ein.«
»Konkubinat?«, hakte ich nach. Mir war nicht bekannt, dass es eine Einrichtung solchen Namens in Dertupan geben sollte. »Was ist ein Konkubinat?«
Der Alte legte den Kopf schief. »Wisst ihr es nicht? Dann tut ihr mir leid. In der Haut, äh, den Federn eurer Frau möchte ich jedenfalls nicht stecken.«
»Wieso?« Ein mulmiges Gefühl stieg in mir auf.
»Hübsche Exotinnen sind so manche Sünde wert. Sex! Sold in Naturalien, ihr versteht?«
Ich brauchte einige Momente, um den Sinn seiner Worte zu begreifen. Dann gurrte ich verzweifelt auf. Tes stöhnte. Ihr Nackenkragen legte sich grau und runzlig um ihren Hals.
Zeit, den Schock zu verdauen blieb uns keine, denn ein lauter Knall holte uns abrupt in die Wirklichkeit zurück.
Am östlichen Rand der Stadt stieg eine riesige Rauchsäule auf. Schreie und Rufe mischten sich in ein dumpfes Rumpeln, das durch Mark und Bein ging.
»Sieh da, die Stummen kommen zurück!«, sagte der Mann und fuhr fort, seine Kreise mit dem Stock zu ziehen.

Um uns herum brach Panik aus. Flüchtende verstopften die Straßen. Schüsse waren zu hören.
Und wir waren mittendrin.
»Ich verstehe nicht, was sie mit Mer-Sha wollen«, stieß Tes-Shae hilflos hervor, während wir in Richtung des weithin sichtbaren Palastes eilten. »Was kann ein Mensch schon mit einer Nirtu anfangen? Mich hätten sie an ihrer Stelle nehmen sollen. Ich meine, nach ihren Maßstäben komme ich einer Frau näher als Mer. Ich trage den Nachwuchs aus, nicht sie!«
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, daher schwieg ich. Ich hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, aber nicht mit so etwas.
Wir erreichten den Palast. Eine Zentralkuppel mit kegelförmiger Spitze, umgeben von vier sechseckigen Türmen, alles grau in grau. Eine Mixtur, wie sie das ästhetische Empfinden eines Nirtu kaum schlimmer beleidigen konnte. Eine breite Allee trennte das Bauwerk von kleineren, nicht minder unförmigen Gebäuden auf der gegenüberliegenden Seite. Bei ihnen handelte sich um Verwaltungsgebäude und Ministerien.
Am Ende der Allee wurde eine Verteidigungsstellung eingerichtet. Ansonsten präsentierte sich die Gegend um den Regierungssitz verwaist.
Aus dem Alten hatten wir noch herausbekommen, dass sich das Konkubinat in einem Anbau des Palastes befand. In Frage kam nur dafür nur ein kleiner, offenkundig neu erbauter zweistöckiger Nebentrakt. Unscheinbar wuchs er, grau marmoriert, aus dem Boden.
Das Portal des vermeintlichen Konkubinats stand weit offen. Weder kam jemand daraus hervor, noch ging jemand hinein. In der Wachkabine davor befand sich niemand.
Tes-Shae beschleunigte ihre Schritte. Nur mit Mühe gelang es mir, ihr zu folgen. Sie erreichte das Konkubinat als erste. Einen Augenblick später rannte auch ich über die Schwelle.
Der Vorraum war leer, überall herrschte Unordnung. Vermutlich war das Konkubinat evakuiert worden, und bei der Gelegenheit auch gleich geplündert.
Plötzlich hörte ich ein schauerliches Krächzen.
Tes stand fassungslos am Eingang zu einem der Zimmer. Ihre Federn bleichten aus, ihr Mund stand vor Entsetzen offen.
Von schrecklicher Vorahnung getrieben, trat ich zu ihr – und sah das Grauen.

Es war nicht Mer-Sha, die da blutüberströmt lag.
Eine Menschenfrau, nackt, mit aufgeschnittener Kehle auf einem überdimensionalen Bett, in einem Raum mit vergitterten Fenstern und heruntergebrannten Kerzen. Einfach so zurückgelassen.
Wer tat so etwas einem Geschöpf seiner eigenen Art an? Mir wurde schlecht.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Tes sich aus ihrer Starre löste und davonrannte.
»Warte!«, rief ich.
Ich hörte hastige Schritte, Rufe nach Mer. Eine Tür knallte.
Ich folgte der Mittlerin und kam an weiteren Zimmern vorbei; allesamt leer.
Tes huschte gerade über die Treppe ins obere Geschoss.
Mit Riesensätzen nahm ich die Stufen. Oben gab es zwei Dutzend Räume, deren Türen von außen mit schweren Riegeln blockiert werden konnten. Jetzt allerdings standen sie weit offen.
Im zweiten Raum auf der linken Seite erblickte ich eine weitere Tote. Wiederum eine Menschenfrau, gehüllt in hautengen durchsichtigen Stoff. Ihre linke Hand umklammerte eine Glasscherbe, die von dem zerbrochenen Wandspiegel stammte, dessen Überreste den Boden bedeckten. Am rechten Unterarm klaffte eine Wunde. Eine große Blutlache bedeckte den Teppich, auf dem die Bedauernswerte ihr Leben selbst beendet hatte.
Jetzt hoffte ich nur noch eines: Mer-Sha nicht zu finden.
Ein schrilles Gurren von Tes-Shae eliminierte diese Hoffnung. Die Mittlerin taumelte aus dem Zimmer ganz am Ende des Gangs. Ihre Greifklaue kratzte über das Holz des Türrahmens.
Sofort war ich bei ihr und stützte sie. »Was hast du?«, wollte ich wissen, obwohl die Antwort auf der Klaue lag.
Tes’ Federkleid zeigte eine dunkelblaue Färbung. Ihre Augen leuchteten in ungesund wirkendem Rot. Sie hatte ihre quasi-männliche Erscheinung angenommen – und das tat sie nicht ohne Grund.
Ich schob sie ein Stück zur Seite, sodass ich über ihre Schulter sehen konnte.
Mer-Sha! Sie war halb von dem Bett heruntergerutscht. Ihr Oberkörper lag auf den Marmorfliesen des Bodens, die Beine steckten noch zur Hälfte unter dem zerwühlten Laken.
Man hatte Mer zurückgelassen, wie die anderen.
Mit einem Unterschied.
Als ich bereits glaubte, an Ort und Stelle sterben zu wollen, sah ich es.
Ich stieß ein befreites Lachen aus.
Unsere Partnerin lebte!

Man hatte Mer-Sha schlimme Dinge angetan. Ihr Gefieder war zerrupft, Schwellungen verunstalteten ihr Gesicht, ihr Zustand war mehr als beklagenswert. Aber sie atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, kaum erkennbar, aber gleichmäßig. Zudem war sie bei Bewusstsein. Ihre Augen standen offen, wenngleich blicklos.
»Sie lebt!«, sagte ich zu Tes. »Hilf mir, sie auf die Beine zu bringen. Und dann lass uns von hier verschwinden.« Sie reagierte nicht. Der Schock über den Zustand unserer Partnerin hielt sie fest im Griff.
»Tes!«, forderte ich die Mittlerin erneut auf. Ich packte sie am Arm.
Das wirkte. Wir hoben Mer-Sha vorsichtig aufs Bett zurück und untersuchten sie flüchtig. Zum Glück waren die Verletzungen lediglich oberflächlich.
Mer schien uns nicht zu erkennen. Immerhin brachten wir sie dazu, aufzustehen. Wir nahmen sie in die Mitte und führten sie langsam die Treppe hinunter zum Ausgang.
In dem Augenblick, an dem wir ins Freie traten, gab es einen Riesenknall. Donnergrollen brachte das Konkubinat zum Erzittern.
Wir hatten den Gegner, der Dertupan bedrohte, fast vergessen. Nun, er war noch da, und griff an.

Wir fanden uns in einem Alptraum wieder.
Die Gegend rund um den Herrschaftssitz hatte sich in eine Kampfzone verwandelt. Am östlichen Ende der Allee brannte es, einer der Palasttürme war in sich zusammengesunken. Im Westen hatten sich die Einheiten des Fürsten verschanzt, von Osten aus – ich wagte meinen Augen kaum zu trauen – rückten Wesen vor, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Gleichwohl kannte ich sie aus den Beschreibungen der Nomaden. Es handelte sich um massige Geschöpfe, geschützt von unförmigen Anzügen mit verspiegelten Helmen. Stumme!
In ihren Händen hielten sie klobige Waffen von massiver Schlagkraft. Wohin sie feuerten wuchs im Sinne des Wortes kein Gras mehr. Eines der Wesen nahm einen der Bäume zum Ziel, hinter dem ein Söldner Deckung suchte. Ein lautes Zischen, ein dünner Rauchstreifen; Baum und Mann wurden zerfetzt.
Damit nicht genug. Ich glaubte an meinem Verstand zweifeln zu müssen, als ich sah, was hinter den Stummen um die Ecke kam.
Eine Maschine, oder auch nicht. Etwas Technisches und gleichzeitig Organisches, denn es besaß Adern und Muskeln. Etwas, das aussah, wie ein ins Riesenhafte vergrößerter Käfer, stakste unbeholfen auf sechs abgeknickten Beinen auf die Allee. Es wandte seinen wenigstens zwanzig Meter langen schwarzen Körper fast provozierend langsam in Richtung der Söldner, die in ihren Verteidigungsbemühungen nicht nachließen.
Die Kreatur wurde sofort massiv unter Beschuss genommen. Das Monstrum schwankte nicht einmal, als die Geschosse von ihm abprallten.
Stattdessen heulte das tonnenförmige Aggregat auf dessen Rücken schrill auf, Flammen schossen daraus hervor. Der Kopf des Käfers drehte sich nach rechts. Dort, wo man bei seinem Vorbild in der Natur die Zangen erwarten würde, lugten zwei stummelartige Rohre aus dem Schädel. Diese richteten sich dorthin, von wo der Beschuss kam.
Dann geschah alles so schnell, dass ich kaum folgen konnte. Rasendes Rattern. Aus den Rohren leckten Feuer und Qualm. Die Stellung der Söldner verschwand in einer Wolke aus Staub. Der Schädel des Käfers ruckte ein Stück hoch. Wieder hämmerte das Zwillingsgeschütz los.
Ein Querschläger traf das Konkubinat knapp unterhalb des Dachs. Splitter prasselten auf uns herab.
Tes-Shae geriet in Panik. »Wir müssen hier weg!«
Ein wundervoller Plan. Nur, wie? Auf der anderen Straßenseite, fast genau gegenüber unserer Position, lockte eine kleine Nebenstraße, die in die Allee mündete. Um dahin zu gelangen, hätten wir jedoch den Marsch durchs Kreuzfeuer wagen müssen – mit nur allzu geringen Erfolgsaussichten.
Tes tauschte einen hilflosen Blick mit mir.
Gerade wollte ich vorschlagen, uns in der einzigen Deckung, im Konkubinat zu verstecken, bis die Kampfhandlungen abgeklungen waren, da legte sich eine Klaue auf meine Schulter. Ich erschrak und fuhr herum. Es war Mer-Sha. Die geistige Abwesenheit war zumindest teilweise von ihr abgefallen. Der Blick, mit dem sie mich ansah, war einigermaßen klar.
»Tes«, gab sie mit schwacher Stimme von sich.
Mer ...«, gab ich zurück. »Ich bin es, Jon …«
Ein schrilles Pfeifen in der Luft unterband jedes weitere Wort.
Mehrere Schemen – Orgavögel? – jagten über uns hinweg, etwas löste sich von ihnen und taumelte dem Erdboden entgegen.
Dann trafen die Objekte den Palast.
Grelles Aufblitzen! Ich wollte schreien!
Eine Riesenfaust packte mich, schleuderte mich irgendwohin.

Licht, Feuersbrunst, unbeschreibliches Getöse.
Aber ich fühlte!
Welch unfassliches Erleben. Die Welt versank im Inferno, ich lag zwischen Trümmern, aber ich empfand noch!
Mer! Tes! Die Namen meiner Partnerinnen drängten sich mit der Gewalt eines Wirbelsturms in meinen Verstand. Wo waren sie?
Mer entdeckte ich zwei Armlängen von mir entfernt hinter einem Steinblock.
Aber wo steckte Tes? Ich wandte den Kopf.
Das erste, was ich wahrnahm, war die Tatsache, dass der Palast des Fürsten nicht mehr existierte. Die Bombardierung hatte ihn vollständig eingeebnet. Auch vom Konkubinat war nicht viel geblieben. Das Dach war eingestürzt, die Vorderfront eingerissen. Anklagend ragten die Seitenwände in den rauchgeschwängerten Himmel.
Mein Kehlsack plusterte sich auf bei dem Gedanken, wie knapp wir dem Tod entronnen waren.
Tes lag neben dem herausgerissenen Portal des Konkubinats. Ich richtete mich auf und rannte geduckt zu ihr. Sie war äußerlich unverletzt, aber ohne Besinnung.
»Tes!«, stieß ich hervor. »Komm zu dir!« Verzweifelt schüttelte ich sie. Erfolglos. Ich versuchte es erneut, mit mehr Nachdruck. Wiederum vergebens.
Hinter mir erklang ein Heulen, das mich daran erinnerte, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt war. Die Kampfmaschine und die Stummen kamen näher. Wenn sie uns entdeckten, war es um uns geschehen.
»Tes!«, hörte ich Mer-Shas Stimme. »Die Bäume!«
Ich drehte meinen Kopf zur Allee, die nicht mehr als solche zu nennen war. Mehr als die Hälfte der Bäume brannte, waren zertrümmert oder von der sich nähernden Kampfmaschine zermalmt worden. Aber das konnte Mer-Sha nicht meinen.
»Was ist mit den Bäumen?«, fragte ich hilflos.
»Tes ... er muss ...« Krächzend brach sie ab, den Arm hilfesuchend zur Mittlerin ausgestreckt.
Endlich verstand ich.
»Mer, du bist genial!«, rief ich. »Aber wir müssen sie näher dorthin bringen! Traust du dir das zu?« Sie gab keine Antwort, sondern kam zu mir und half mir die Mittlerin anzuheben und zur Allee zu tragen.
Im zweifelhaften Schutz mehrerer Trümmerstücke schleppten wir uns weiter. Geschosse pfiffen über uns hinweg, hämmerten vor uns in den Boden. Aufspritzender Schmutz nahm uns die Sicht, raubte uns den Atem.
Ich ließ Tes-Shae fallen und zog Mer-Sha mit mir nach unten zu Boden. Hier war unser Weg zu Ende.

Die Laufmaschine stapfte heran, ein riesiges Ungetüm auf der Suche nach frischer Beute. Stumme rückten in breiter Front durch die brennende Allee vor. Keine Chance, ihnen auszuweichen. Uns blieben allenfalls noch Augenblicke.
Ich schrie Tes-Shae an, gab ihr eine Ohrfeige. Der Leib der Mittlerin zuckte.
»Komm zu dir!«
Sie riss die Augen auf. Endlich!
»Du musst uns hier heraushelfen!«, brüllte ich gegen den Kampflärm an. Aus ihrem Gesichtsausdruck sprach Unverständnis. »Keine Zeit für Erklärungen!« Ich packte ihren rechten Arm und drückte ihn auf die Erde. »Deine Gabe! Setz einfach nur deine Gabe ein! Leg all deine Kraft hinein!«
Mer klammerte sich an mich. In ihren Augen schimmerte es feucht. Es blieb nur Hoffen.
Hoffen auf Überleben.
Hoffen auf Tes.
Der Orgakäfer blieb stehen, seine Geschützrohre senkten sich, richteten sich auf uns.
Tes-Shae fuhr ihre Handlungsklaue aus. Dann ging ein Ruck ging durch die Mittlerin.
Verzweifeltes Warten, einen Atemzug lang.
Ein Feuerstoß. Das Ende?
Nein! Er verfehlte uns!
Plötzlich infernalisches Krachen, den Lärm der Schlacht leichthin übertreffend.
Denn die Bäume wuchsen!

Sie wuchsen aus dem Nichts. Über die gesamte Breite der Allee hinweg schossen sie in die Höhe, als tausende Samenkapseln unter dem Schotter der Straße auskeimten.
Die Kampfmaschine der Stummen wurde von den sich aus dem Boden reckenden Gewächsen abrupt in die Höhe gehoben. Wo die Truppen des Fürsten versagt hatten, siegte psimagisch gepeinigte Natur.
Der Orgakäfer, nicht rechtzeitig darauf gefasst, nicht dafür gebaut, kippte um. Die Turbine auf seinem Rücken explodierte mit sattem Knall. Der Hinterleib der Maschine wurde glatt weggesprengt. Aus dem Wrack stieg dichter Qualm auf.
Ein Wald entstand und wurde zu unserer Rettung.
Feuer sprang auf die Bäume über. Gerade entsprossen, verging der Wald bereits wieder. Aber noch bot er uns Schutz vor Stummen und Söldnern. Ich schnappte mir Mer und Tes. Wir schlüpften zwischen den Stämmen der Bäume hindurch und erreichten unangefochten die Seitenstraße.
Unangefochten erreichten wir auch die Stadtgrenze. Wir quälten uns weiter, querfeldein, bis die untergehende Stadt nicht mehr zu sehen war.

Tes sang die Ode der Dreieinigkeit. Wir hielten uns an den Klauen. Die Mittlerin hatte jenen sagenhaften geschlechtlichen Zwischenzustand angenommen, der Mer-Sha und mich gleichermaßen in seinen Bann zog. Blau mit einem Stich ins Rote, so zeigte sich Tes’ Federkleid, dunkelgrün leuchtete der voll ausgestellte Nackenkragen, vibrierend erklang das dunkle Timbre ihrer Stimme.
Ich spürte, wie Mer positiv darauf reagierte, fühlte selbst die heilende Wirkung auf die Psyche unserer Partnerin. Trotzdem würde die kommende Zeit keine einfache für sie und uns sein. Zu tief waren die Wunden, die der Missbrauch geschlagen hatte.
Immerhin waren unsere Bemühungen, Mer aus den Klauen des Fürsten zu befreien, von Erfolg gekrönt worden. Aber ebenso waren es die Bemühungen des unfassbaren Feindes, unsere Welt nach und nach zu erobern.
Am Horizont standen Rauchwolken, die der Wind langsam nach Osten trieb. Die Herrschaft des Grunjar war vorüber, doch ich war unschlüssig, ob ich mich darüber freuen sollte.
Ich wollte nicht darüber nachdenken, nicht jetzt. Ich wollte nach Hause. Sacht aber bestimmt drängte ich zum Aufbruch, als Tes-Shaes Gesang endete.
Wir nahmen Mer-Sha in unsere Mitte.
Aus der Ferne hörten wir das Flügelschlagen der Orga-Vögel und die knisternden Feuer der Zerstörung. All das verstummte mehr und mehr, bis sich nur noch unser Atem und unsere Schritte mit den Geräuschen der Natur mischten.


Diese Geschichte spielt zum Beginn des zweiten Zyklus »Quinterna«
© Fabylon Verlag und Thorsten Schweikard August 2010



22. Aug. 2010 - Thorsten Schweikard

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