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Startseite > Kurzgeschichten > Ruth M. Fuchs > Phantastik > Das Gastrecht der Moyren
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Das Gastrecht der Moyren
von Ruth M. Fuchs

Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
„Nadette, ich hab es geschafft!“ Freudestrahlend betrat Dalan den Wohnraum, in dem seine Frau mit ihrem Vater saß.
„Was ist es denn?“, wollte sie neugierig wissen.
Dalan stellte seine neueste Erfindung auf den Esstisch. Sie sah aus wie ein großer Topf mit einer Kurbel oben. Am unteren Drittel des Topfes stand außerdem ein Rohr schräg nach unten ab.
„Eine Saftpresse!“, erklärte der junge Mann. „Schaut, da oben tut man die Früchte hinein, schließt den Deckel und dreht dann die Kurbel. Gib mir doch mal ein paar Äpfel, Nadette.“
Er füllte das Obst, das seine Frau ihm reichte, in den Topf und schloss den Deckel mit einer Klammer. Dann stellte er einen Becher unter das Rohr und drehte an der Kurbel. Es dauerte eine Weile, bis aus dem Rohr Flüssigkeit in das Trinkgefäß rann.
„Probier mal“, forderte Dalan seinen Schwiegervater auf. Der betrachtete das trübe Getränk skeptisch, ehe er einen Schluck nahm.
„Schmeckt gut“, stellte er ein bisschen erstaunt fest. „Nach Äpfeln.“
„Sag ich doch“, Dalan strahlte übers ganze Gesicht. „Damit geh’ ich auf den Markt nach Reiling! Wir verdienen ein Vermögen!“
„Aber der Markt ist schon morgen. Das schaffst du nie. Der Weg ist viel zu weit“, widersprach Nadette.
„Nicht, wenn ich die Abkürzung durch den Nachtwald nehme“, winkte Dalan ab. Seine Frau und sein Schwiegervater starrten ihn an.
„Das meinst du nicht ernst“, flüsterte Nadette schließlich.
„Aber ja doch.“ Dalan zuckte die Achseln. „Wenn ich durch den Wald gehe, brauche ich nicht mal einen halben Tag.“
„Du bist ja verrückt“, mischte sich sein Schwiegervater ein, während Nadette ihren Mann noch immer ungläubig anstarrte.
„Der Markt in Reiling ist der letzte in diesem Jahr. Ich muss dahin, wenn ich nicht unnötig viel Zeit verlieren will. Diese Erfindung wird uns gutes Geld bringen“, gab Dalan zu bedenken. „Mein Entschluss steht fest. Ich gehe morgen früh bei Sonnenaufgang.“
„Oh Gott!“ Nadette stürzte schluchzend aus dem Zimmer. Ihr Vater sah seinen Schwiegersohn ernst an und schien noch etwas sagen zu wollen. Doch dann stand er nur kopfschüttelnd auf und ging ohne Abschied nach Hause.

Bei Sonnenaufgang machte sich Dalan auf den Weg. In einem Wägelchen, gut abgepolstert mit Stroh, zog er seine Erfindung hinter sich her. Nadette hatte geweint und gedroht, in ihr Elternhaus zurückzukehren. Aber Dalan blieb bei seinem Entschluss. Wenn er mit den Taschen voller Geld heimkam, würde sie ihre Meinung schon ändern. Kaum hatte er den Forst betreten, wurde er schon von Dunkelheit umgeben. Er sah zurück, konnte aber den Waldrand nicht mehr erkennen, obwohl die Sonne draußen hell schien. Der junge Mann tat das mit einem Achselzucken ab und wartete, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Bald konnte er einzelne Schemen erkennen, und wenn er seine Augen anstrengte, konnte er einen Weg sehen, der sich durch den Wald schlängelte. Und der sah durchaus benutzt aus. Pfeifend setzte sich Dalan wieder in Bewegung. Na also, war doch gar nichts dabei. Nur ein besonders dunkler Wald eben. Wie dumm von ihm, dass er keine Laterne mitgenommen hatte. Aber es würde auch so gehen.

Nach einer Weile wurde Dalans Gepfeife zaghafter und seine Schritte langsamer. Irgendetwas stimmte hier nicht. Schließlich blieb er stehen und horchte. Kein Laut war zu hören. Kein Zwitschern von Vögeln, kein Wind, der in den Blättern säuselte. Es herrschte Stille, Totenstille. Irgendwie doch ein klein wenig unheimlich. Da, ein Knacken! Dummkopf, er war selbst auf einen trockenen Zweig getreten, nichts weiter. Oder doch? Unter den toten Blättern, die hier den Boden bedeckten raschelte etwas. Bestimmt nur ein Eichhörnchen. Aber jetzt vernahm er plötzlich nichts mehr. Gar nichts. Gewiss nur eine Maus, die gerade in ihr Loch geflitzt war. Deshalb hörte er sie jetzt nicht mehr. Ja, so musste es sein. Dalan atmete tief durch und setzte seinen Weg fort. Das einzige Geräusch kam von seinen eigenen Schritten. Trotzdem hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Jemand beobachtete ihn. Aber nein, da war niemand. Er spürte ein Prickeln im Nacken, fühlte sich angestarrt. Der junge Mann fuhr herum. Für eine Sekunde meinte er, so etwas wie ein Paar brennender Augen zu sehen. Aber da war nichts. Er hatte sich das ganz sicher nur eingebildet. All die Schauermärchen über menschenverschlingende Monster im Nachtwald, die man sich überall erzählte, hatten ihn wohl ganz wirr gemacht. Mehr war nicht dahinter.
Da war wieder ein Rascheln! Beinahe wie ein Wispern. Ganz nahe, rechts von ihm. Wieder nur eine Maus. Zweifellos.
„Hast du dich verirrt, Fremdling?“
Dalan sprang vor Schreck einen Schritt zurück, stolperte über sein Wägelchen und stürzte der Länge nach hin. Als er sich wieder aufrappelte, sah er aus den Augenwinkeln ein Licht, oder war es doch ein Glänzen? Dalan kauerte sich hinter sein Gefährt und starrte zu dem fremdartigen Leuchten hinüber. Es war lebendig. Bewegte sich. Kam näher. Mist. Hätte er doch nur auf seine Frau gehört. Wie sollte er sich jetzt wehren? Während Dalan solche Gedanken durch den Kopf schossen, behielt er das herankommende Wesen im Auge. Es sah aus wie ein junges Mädchen, schlank und zierlich. Seine helle Haut war so zart, das sie fast durchsichtig und von innen erleuchtet wirkte. Das lange, weiße Haar schien wie aus Mondlicht gemacht und die Augen des Mädchens strahlten wie kleine Lichter. Es wäre ein Schönheit gewesen, hätte es nicht so große, vorstehende Zähne gehabt.
„Bist du vom Weg abgekommen, Fremdling?“, fragte es noch einmal und trat noch einen Schritt auf ihn zu.
„Äh, nein“, Dalan riss sich zusammen. „Ich kann den Weg ganz gut erkennen, danke.“
Was für einen Unsinn redete er da? Bestimmt würde sie sich gleich auf ihn stürzen und ihn zu ihrem Mittagessen machen. War es überhaupt schon Mittag? Himmel, das war doch jetzt völlig egal. Aber das seltsame Mädchen machte keine Anstalten, über Dalan herzufallen. Es schien sich stattdessen merklich zu entspannen. Und dann seufzte es erleichtert: „Wunderbar.“
„Was? Wieso?“ Dalan war so überrascht, dass er seine Furcht für einen Moment vergaß. Dann wurde er doch wieder misstrauisch. „Heißt das, du frisst nur die, die sich verlaufen haben?“
„Was?“ Nun schien das Wesen erstaunt zu sein. Es betrachtete Dalan eine Weile stumm, dann sagte es: „Ich bin Asalé, Tochter des Häuptlings der Moyren.“
„Sehr erfreut. Ich heiße Dalan.“
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, sie neigte huldvoll den Kopf.
„Äh, Moyren sagtest du? Wer ist das?“ Dalan konnte nicht anders. Wenn er schon gefressen werden sollte, dann wollte er wenigstens wissen, von wem.
„Nun“, sie zögerte. Dann fasste sie einen Entschluss: „Komm mit mir.“
Dalan erwog, ob jetzt nicht der rechte Zeitpunkt wäre, um die Beine in die Hand zu nehmen und zu fliehen. Aber würde er weit kommen? Wohl kaum. Vielleicht standen die Chancen besser, wenn er diesem Mädchen folgte? So ließ Dalan sein Wägelchen stehen und ging hinter dem fremden Mädchen her tiefer in den Wald hinein.

Nach einer Weile wurde es heller. Dalan erwartete, auf eine Lichtung oder den Waldrand zu treffen. Stattdessen kamen sie zu einer felsengesäumten Stelle, an der sich weitere Moyren versammelt hatten. Und alle leuchteten, wie diese Asalé. Sie schienen an diesem Ort zu leben. In der Mitte stand so etwas wie ein Thron und auf dem saß ein achtunggebietender Moyre. Als er Asalé mit dem Fremden kommen sah, sprang er auf: „Ein verirrter Wanderer?“
„Nein, Vater“, Asalé lachte. „Er sagt, er kennt seinen Weg.“
„Oh“, staunte der Häuptling. „Und was will er dann hier?“
„Was soll das alles?“, platzte Dalan heraus. „Wer seid ihr? Und warum ist es so wichtig, ob ich mich verlaufen habe?“
Der Häuptling sah den jungen Mann lange nachdenklich an. Dann sagte er: „Folge mir.“
Schon wieder. Dalan seufzte. Wozu sollte dieses Rumgerenne gut sein? Mochten sie Fleisch etwa lieber gut durchgeschwitzt? Aber bitte. Gehorsam trottete Dalan hinter dem Moyren her.

Bald standen sie am Rand einer Lichtung, in deren Mitte ein großes Feuer brannte. Drum herum saßen etliche Männer und aßen und tranken – vor allem letzteres. Der Häuptling drehte sich von der Lichtung weg.
„Das Feuer schmerzt meine Augen“, erklärte er. „Hier hast du die Antwort auf deine Frage. Unsere Gäste.“
„Jetzt versteh ich gar nichts mehr“, gestand Dalan und blickte auf die fröhliche Gesellschaft vor sich. „Gäste? Weshalb nennt ihr sie Gäste?“
„Unser Gesetz gebietet, dass wir verirrte Wanderer aufnehmen und bewirten“, erzählte Asalé, die den beiden gefolgt war. „Manche von ihnen sind schon sehr lange hier. Es ist anstrengend, sie jeden Tag zu verpflegen. Vor allem die Mengen an Wurzelschnaps sind kaum noch zu beschaffen. Und vor kurzem meinte einer, anstelle von Früchten wäre Fleisch auch mal ganz schön. Aber ein Tier zu töten wäre uns unerträglich.“
„Dann fresst ihr sie gar nicht auf?“
„Nein, es gibt hier nur deshalb so wenige, weil es so dunkel ist.“
„Ich meine nicht die Tiere, sondern die Menschen. Die da!“ Dalan wies auf die fidelen Männer auf der Lichtung.
„Menschen? Essen? Wir?“ Der Häuptling sah den jungen Mann verblüfft an. „Wir Moyren ernähren uns nur von Rinde und Wurzeln.“
Jetzt fiel Dalan auch ein, woran ihn Asalés Zähne die ganze Zeit erinnert hatten: An das Gebiss eines Bibers. Natürlich. Soviel zu den Schauermärchen von Blutsaugern und Menschenfressern im Nachtwald. Aber das mit den Gästen verstand er immer noch nicht.
„Warum schickt ihr eure Gäste nicht einfach wieder heim?“
„Unser Gesetz gebietet uns, sie zu bewirten. Das Gebot ist seit Jahrhunderten in den großen Gesetzesstein eingemeißelt. Es ist unumstößlich.“
„Heißt das, es ist so etwas wie heilig?“
„Nein. Aber der Felsen rückt und rührt sich nicht. Wir haben schon alles versucht, ihn zu Fall zu bringen.“
„Oh. Und was steht da genau drauf?“
Auf diese Frage hin richtete der Häuptling seine Augen gen Himmel, hob die Arme und deklamierte: „Dies sei euer oberstes Gebot: Wenn sich ein Wanderer in eurem Wald verirrt, dann nehmt ihn in Freundschaft auf und bewirtet ihn für eine Nacht. Kein böses Wort soll gegen ihn gerichtet werden, jeder Zwist soll schweigen. Dies ist das Gastrecht der Moyren.“
„Sehr nobel“, fand Dalan. „Aber das gilt doch nur für eine Nacht.“
„Aber hier im Wald ist immer Nacht“, schluchzte Asalé. „Und von allein will keiner mehr gehen.“
„Wann wurde das denn geschrieben?“
„Als der Wald noch jung war.“
„Da war er vermutlich noch nicht so dicht.“
„Anzunehmen.“
„Dann solltet ihr das Gesetz ändern.“
„Unmöglich. Es ist tief eingemeißelt.“
„Nun gut, dann vielleicht eine Anpassung, in der ihr berücksichtigt, dass der Wald jetzt dichter ist.“
„Unmöglich.“
„Wieso?“
„Kein Platz mehr.“
„Dann eben eine Auslegung auf einem Ergänzungsfelsen ...“
Der Häuptling überlegte. „Ja, das wäre vielleicht eine Möglichkeit. Aber wir sollten einen handlichen Felsen nehmen, den man notfalls wieder austauschen kann.“ Er lächelte, wurde dann aber wieder ernst. „Doch was machen wir mit denen da?“
„Zufällig weiß ich, dass es draußen zur Zeit hell ist, ich könnte sie mitnehmen“, bot Dalan an.
„Wunderbar!“ Der Häuptling schlug dem jungen Mann heftig auf die Schulter und Asalés Augen leuchteten noch mehr als sonst.

„Ich habe tolle Neuigkeiten! Ich werde euch nach Hause bringen“, rief Dalan den zechenden Männern zu, als er die Lichtung betrat. Aber seine Worte stießen auf wenig Gegenliebe.
„Hä?“
„Wieso'n das?“
„Ist doch recht gemütlich hier.“
„Heim zu meiner Ollen? Niemals!“

Dalan kratzte sich am Ohr. So kam er nicht weiter. Er musste es anders anpacken.
„Recht habt ihr“, verkündete er also und setzte sich neben einen der Männer. Leiser fügte er dann hinzu: „Obwohl ...“
Der Mann neben ihm horchte auf: „Obwohl was?“
„Ach nichts. Ich hab die Moyren nur beratschlagen hören. Nicht so wichtig, nehme ich an.“
„Vielleicht lässt du das uns entscheiden.“
„Ich hab wirklich nur ein bisschen was gehört.“
„Gut, und was war das?“
„Na ja. Scheint, einer von euch hätte verlangt, dass sie mal zur Abwechslung Fleisch auftischen.“
„Klar, das war ich“, der Mann grinste selbstgefällig. „Immer nur so ein Pflanzenfraß. Das hält doch keiner aus.“
„Ja, aber im Dunkelwald gibt es keine Tiere.“
„Nicht?“
„Hast du schon mal eins gesehen?“
„Äh, nein.“
„Eben. Und jetzt suchen die Moyren Ersatz. Du weißt ja, wie wild sie darauf sind, jeden Wunsch zu erfüllen.“
„Oh ja, sie nehmen das Gastrecht ernst“, feixte Dalans Nachbar. „Und wie!“
„Genau. Es muss also Fleisch her. Die Idee, einen von sich selbst zu opfern, haben sie allerdings schon verworfen.“
„Na, das wär’ aber auch ...“ Der Mann stutzte. „Und was dann?“
„Na ja, eine Fleischquelle gibt es noch“, Dalan schaute sich vielsagend um. „Vielleicht kommen sie dabei ja auch selber auf den Geschmack ...“

Die Moyren sahen erstaunt, wie eilig ihre Gäste es plötzlich hatten, sie zu verlassen. Dalan führte alle aus dem Wald, wo dann jeder seiner Wege ging. Auch er kehrte heim. Die Saftpresse und der Markt waren jetzt nicht mehr wichtig. Er würde seiner Nadette auch so ein schönes Leben bieten können. Denn dies waren Asalés Abschiedsworte: „Von jetzt an wird das Glück dir hold sein, was immer du tust. Das ist der Dank der Moyren. So steht es auf dem großen Gesetzesstein geschrieben.“
Was wollte man mehr?

18. Jan. 2011 - Ruth M. Fuchs

Bereits veröffentlicht in:

IM BANN DES NACHTWALDES
F. Woitkowski (Hrsg.)
Anthologie - Fantasy - Lerato-Verlag - Mar. 2007

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