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Der Löwe von Michael Pick
Peter Wall © http://www.picturewall.eu Im Vertrauen: Müller ist ein Idiot. Schon seine Art, die Bürotür aufzureißen, seinen kahlgeschorenen Kopf durch den Spalt zu stecken, brachte mein Beamtenblut zum Brodeln. Ich meine: wem nutzte diese Hektik? Das war doch keine Grundlage, um in Ruhe über das Leben nachzudenken. Nicht einmal die Zeitung konnte man zu Ende lesen.
Müller sprang auf jedes Gerücht an und davon gab es in Ratzeburg mehr als genug. Doch was er eben von sich gegeben hatte, war die Krönung.
Der Löwe ist weg, presste er mit letzter Luft heraus.
Ich sah abwechselnd auf meine Kaffeetasse, aus der es verführerisch dampfte, und auf Müllers rotes Gesicht.
Müller, Sie machen mich schwach. Von welchem Löwen reden Sie? Zur Zeit gastiert kein Zirkus in Ratzeburg.
Ich bemühte mich ruhig zu bleiben. Jede Art von Aufregung würde mir schaden, hatte mir mein Arzt gesagt. Er hätte es auch Müller mitteilen sollen.
Heinrichs Löwe wurde gestohlen. Meine Schwiegermutter hat es heute auf dem Wochenmarkt von der Apfelverkäuferin erfahren. Und die muss es wissen; wohnt sie doch in der Domstraße, zehn Schritte vom Löwendenkmal entfernt.
Müller nickte, als würde er Rockmusik hören.
Müller, das ist der größte Mumpitz, den Sie je erzählt haben oder erzählen werden.
Aber, Herr Oberamtsrat, es ist die Wahrheit. Wenn meine Schwiegermutter etwas sagt, ist es so heilig wie die Lottozahlen. Erst neulich hat sie vorhergesagt, dass der alte Ollenburg bald unter die Erde ...
Mensch Müller, konzentrieren Sie sich! Ich kann nicht das ganze Rathaus in Aufruhr versetzen, nur weil Ihre Schwiegermutter irgendetwas gesagt oder gehört hat.
Aber Chef! Ich schwöre Ihnen ...
Hören Sie auf zu schwören. Sie gehen sofort zum Dom und überprüfen die Angelegenheit mit eigenen Augen. Mit eigenen Augen, verstanden, Müller?
Mit einem Schlag war ich Müller los und zum anderen war es offensichtlich, dass sich die Angelegenheit auflösen würde.
Ich schmunzelte. Vielleicht war der Löwe des langweiligen Stehens vor dem Dom überdrüssig geworden, aufgesprungen und spazierte jetzt seelenruhig durch Ratzeburg. Neuen Abenteuern entgegen. Dieser Gedanke hatte etwas Faszinierendes. Manchmal träumte ich davon, aus diesem Büro auszubrechen.
Ich schalt mich einen Esel. Hatte keine Zeit, herumzuspringen, galt es doch, das Bürgerfest vorzubereiten. Nur gut, dass die wöchentliche Besprechung mit dem Bürgermeister ausgefallen war. Es hieß, er bereite heute mit der Wendemann von der Touristik-Info eine neue Attraktion vor.
Ich vertiefte mich in die städtische Ständeordnung, als mich lautes Schreien und Gestöhne aus dem Vorzimmer aus meinen Gedanken riss. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie sollte ich mich auf meine Aufgaben konzentrieren, wenn ich dauernd gestört wurde.
Ich wartete fünf Minuten, ob sich der Lärm nicht von alleine legen würde. Mitnichten. Müllers Stimme zerstörte meine Hoffnungen. Der würde mir noch den Bürgermeister auf den Hals hetzen.
Ich stürmte los wie ein angekratzter Löwe und brüllte meinen Unmut ins Vorzimmer. Müller blieb unbeeindruckt. Kaum hatte ich die heiße Luft abgelassen, als Müller lossprudelte wie ein isländischer Geysir.
Herr Oberamtsrat! Herr Oberamtsrat! Der Löwe vom Heinrich ist entführt worden. Wo einst ein steinernes Denkmal stand, ist jetzt nicht mehr als frische Luft, ein Loch in der Landschaft, quasi.
Ich war überzeugt, Müller war verrückt geworden. Vielleicht halfen ihm ein oder zwei Tage Zwangsurlaub mir halfen sie auf jeden Fall. Bevor ich diese Anordnung treffen konnte, zückte Müller sein Handtelefon und zeigte mir den Schnappschuss, den er vom Sockel des Denkmals gemacht hatte.
Er hatte recht.
Ratzeburgs Löwe war verschwunden. Ausgerechnet zum Bürgerfestwochenende. Mir wollten die Sinne schwinden. Wer würde dafür verantwortlich gemacht werden? Richtig: der Ordnungsamtsleiter und der war ich.
Müller, wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen den Löwen wiederfinden und zwar so schnell wie möglich.
Ich war so verzweifelt, dass ich Müller um Hilfe bat. Der war aufgeregt wie eine Springmaus.
Was ist mit Ihnen, Müller?
Es gibt eine Spur, Müller sprang in die Luft und krachte mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Löwentatzen, alle zwei, drei Meter Löwentatzen. Er hielt sich die gestoßene Stelle, an der allmählich eine Beule wuchs, mit der Hand. Sie sind farbig und verkehrt herum, ergänzte er noch.
Verkehrt herum?, stammelte ich.
Ja. Als wäre der Löwe rückwärts vom Domgelände geschritten. Am besten, Sie sehen sich das selbst einmal an.
So gut es möglich war, schlichen wir uns zum Tatort. Ich gebe es ungern zu: Müller hatte in allem Recht. Löwe verschwunden, farbige Löwentatzen auf dem Asphalt, verkehrt herum. In dem Augenblick war ich froh, eine Spur zu haben.
Folgen!, raunzte ich Müller zu.
Wir folgten den Tatzenspuren, die uns tiefer in die Innenstadt Ratzeburgs führten. Am Markt vorbei, am Ernst-Barlach-Museum hinunter zum Kurpark. Müller und ich fühlten und rochen, dass wir den Entführern näher kamen.
Je weiter wir voranschritten, umso frischer wurde die Farbe, dass mir ihr Geruch in der Nase juckte und die Fingerspitzen vom Probieren ganz bunt waren. Nach jeder Biegung erwarteten wir, den Entführern zu begegnen. Müller und ich spürten keine Erschöpfung obgleich wir einer nahe waren als Beamter war man nicht gewohnt, sich in diesem Maße zu bewegen.
Auf der Höhe der Realschule, die wie eine Mischung aus Schloss und Kirche über dem Küchensee thronte, bekamen wir die Entführer in Sicht und Griff. Es waren zwei. Sie kehrten uns den Rücken zu.
Warten Sie, Müller. Wir müssen erst das tun, was wir am besten können.
Müller sah mich ratlos an. Ich zog die Augenbrauen bis zum Haaransatz.
Nachdenken, Müller, ich meine nachdenken.
Darauf wäre ich nie gekommen, Chef, erklärte Müller und ich glaubte ihm.
Was, wenn dies ein Hinterhalt ist? Vielleicht lauern in der Nähe vier oder fünf Halunken, die sich auf uns stürzen, sobald wir uns den Verdächtigen nähern?
Müller zog die Mundwinkel nach unten. Fehlte noch, dass der sich in die Hose machte.
Chef, kommt Ihnen der Dicke nicht bekannt vor?
Obgleich die beiden Verdächtigen uns den Rücken zukehrten, waren sie leicht als Mann und Frau auszumachen. Der graue Mantel des Mannes konnte die stattliche Leibesfülle nicht verbergen.
Fast wie der Bürgermeister. Müller griente.
Ich warf ihm einen Blitzblick hinüber. Zu meiner Zeit waren die Angestellten nicht so unverschämt.
Müller, kann ich mich auf Sie verlassen?
Natürlich, Chef. Ich geh wohin Sie mich schicken.
Ich stellte mir vor, welchen Empfang ich erhalten würde, wenn ich allein Müller zählte wohl kaum die Löwenentführer fangen würde. Ich musste es wagen.
Dann vorwärts Müller! Für Stadt und Ordnung!
Wir erhoben ein wahrhaftiges Gebrüll, das jedem Löwen zur Ehre gereicht hätte und warfen uns auf die Entführer. Ich erkannte im Vorwärtssetzen, dass sie die Löwenspuren mit Farbe auf den Gehweg pinselten. Ablenkungsmanöver.
Keine Zeit für weitere Überlegungen. Dem grauen Typen sprang ich kurzerhand ins Kreuz. Mein Schwung warf uns beide zu Boden. Ich riss seinen linken Arm auf den Rücken und drückte ihn nach oben, dass der Entführer vor Schmerz aufstöhnte. Da ich meinen dingfest hatte, warf ich einen Blick zur Seite, wie es bei Müller gelaufen war. Für einen Moment schloss ich die Augen. Es war nicht zu glauben.
Da stand Müller mit den Händen in den Taschen und erzählte mit der Verbrecherin. Als wären sie in ihrer Frühstückspause.
Los, Müller, schnappen Sie sich die Entführerin! Worauf warten Sie noch?
Aber, Herr Oberamtsrat, Frau Wendemann von der Tourismus-Information ist schwerlich eine Verbrecherin. Und der Bürgermeister, auf dem Sie gerade knien, bestimmt auch nicht.
Oh!, entkam es mir und ich sprang von dem Kerl, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Herr Bürgermeister, wir, Müller, hat Sie für einen Entführer gehalten.
Für einen Entführer? Dachten Sie, ich würde entführt werden?, mischte sich die Wendemann ein.
Nicht Sie! Der steinerne Löwe von Herzog Heinrich ist entführt worden. Gerade jetzt, wo das Bürgerfest ansteht. Ich rang die Hände.
Der Löwe, presste der Bürgermeister hervor, ist zur Restauration. Ja, lesen Sie denn keine Zeitung?
Peter Wall © http://www.picturewall.eu
26. Nov. 2010 - Michael Pick
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