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Mann oh Manna
von Regina Schleheck

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Als Oma Pachulkes Kekse auf dem Charlottenburger Weihnachtsmarkt im Winter 2008 Furore machten, war das eigentlich nur ein kleiner Nachgeschmack eines viel größeren Furors, eines Volkszorns nämlich, der Jahre davor bereits zum Ausbruch gekommen war. Auslöser waren ebenfalls Oma Pachulkes Kekse, auch wenn der ursächliche Zusammenhang zwischen Keksen und Krawallen bis zu jenem Zwischenfall im Dezember 2008 keinem bewusst war. Auch danach erfuhren die wenigsten davon. Genau genommen eigentlich nur ihr Neffe, Paulchen und meine Wenigkeit, Kommissar Weinstein. Und das ist auch gut so. Die Menschen würden sich nur unnötig aufregen. Solche Kekse wie Oma Pachulkes wird ohnehin kein Sterblicher mehr gebacken kriegen. Dazu war nämlich ein noch viel größerer Furor nötig, bei dem ich besser gleich diese Geschichte beginnen lassen sollte. Als Ermittler zäumt man das Pferd ja in der Regel von hinten auf. Mangels eines amtlichen Feststellungsverfahrens werde ich diesmal dem Leser zuliebe in die Rolle des ordentlichen Chronisten schlüpfen.
Der liebe Herrgott war es nämlich, der im Herbst 1982 ganz schön stinkig war, was seine Schöpfung anging. Und so tat er etwas, was er sich lange verkniffen hatte: Er mischte sich ein. Während er noch darüber nachdachte, ob er sich lieber in Form eines Wunders, einer großen Flutwelle oder einer neuen Kreatur manifestieren sollte, fiel sein Blick auf Oma Pachulke und sein Zorn erhielt einen Dämpfer. Oma Pachulke stand nämlich in ihrer kleinen Wohnküche in der Zillestraße und buk Plätzchen für ihren Führer. Sie knetete den Teig und sang dazu aus vollem Halse einen Schlager der Zwanziger: „Amalie geht mit ’nem Gummikavalier ins Bad!“ Wo sie nicht mehr textstark war, summte oder pfiff sie vor sich hin. Ihr ganzes Erscheinungsbild war so rund und rosig und appetitlich, dass Gott sich dachte: „Wer von dem Backwerk dieser Frau isst, der soll meine Offenbarung empfangen.“ Und er flüsterte Oma Pachulke etwas ins Ohr, so dass sie beflügelt weiterknetete und mischte und buk. Als sie aber am Ende das Blech aus dem Ofen zog, wies das Ergebnis mit den Pachulkeschen Zimtsternen nur noch eine entfernte Ähnlichkeit auf, denn in Wirklichkeit handelte es sich um göttliches Manna.
Oma Pachulkes gute Laune war hin. Ihr Zug fuhr am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe los, und sie würde es nie und nimmer schaffen, vor Ladenschluss die Zutaten für einen neuen Teig zusammenzukriegen. Also verstaute sie die missratenen Plätzchen, nachdem diese und ihr Ärger einigermaßen abgekühlt waren, in drei Keksdosen: eine kleine für sich selbst, damit sie nach ihrer Rückkehr auch noch etwas zu schnabulieren hätte, eine für Ilse und eine für ihren Führer, mit dem sie auf dem Leipziger Bahnhof ein Stelldichein vereinbart hatte.

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Anderntags machte sie sich mit Sack und Pack und einem Taxi auf den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße, von wo aus sie zu der ersten Auslandsreise ihres Lebens aufbrach: Sie wollte in Prag ihre Busenfreundin aus Volksschultagen, Ilse Bendix, treffen. Ilse, deren Eltern in den dreißiger Jahren mangels lückenloser Arier-Ahnen Böses ahnend nach Amerika ausgewandert waren, war nach einem halben Jahrhundert endlich auf einen Europa-Trip zurückgekommen, der sie allerdings in einem großen Bogen um Deutschland herum von Prag über Pisa nach Portugal führte. Da Oma Pachulke eine äußerst patente Frau war, wollte sie das Schöne gleich mit dem Nützlichen verbinden. „Warum sollten Plätzchen nur zum Advent schmecken?“, fragte sie sich. „Das Porto für das Weihnachtspäckchen kann ich mir sparen.“
Die meiste Zeit hatte sie ohnehin nur für die Stasi gebacken und Christian hatte in die Röhre geguckt. Diesmal würde sie ihrem geliebten Neffen, den sie zärtlich „meinen Führer“ zu nennen pflegte, die Kekse höchstpersönlich und schon am 19. September aushändigen. Was Oma Pachulke nicht bedacht hatte: Sie befand sich auf einer Transitstrecke. Die Mitnahme von Waren war ihr durchaus gestattet, aber deren Einfuhr während der Durchfuhr sorgte für einigen Aufruhr im Getriebe des Arbeiter- und Bauernstaats. Während Christian Führer, nachdem er seine Tante in Leipzig geherzt und geküsst und zu ihrem Anschlusszug nach Prag geleitet hatte, von wo ihm die schusselige Alte die für ihn bestimmte Keksdose aus dem Fenster des anfahrenden Zuges heraus noch überreichte, mit seinem vorzeitigen Weihnachtsgruß unbehelligt im Bahnhofsgetümmel abtauchen konnte, wurde Oma Pachulke im Zug unverzüglich vom Sicherheitspersonal der Deutschen Reichsbahn gestellt und aufs Übelste bedroht. Sie konnte sich weiterer Verfolgung nur entziehen, indem sie die für Ilse bestimmte Keksdose zu Untersuchungszwecken preisgab.
An dieser Stelle geben wir nun auch Oma Pachulke, wenn auch mit einem gewissen Bedauern, preis und richten unsere geteilte Aufmerksamkeit auf das Zimtstern-Manna in Dosen. Der Schaffner, der sich, kaum dass er im Zugbegleiter-Abteil angekommen war, an der für Ilse Bendix bestimmten Keksdose vergreifen wollte, kriegte Gottes Botschaft zur Strafe in den falschen Hals. Er lief rot und blau an und gab den Löffel ab, ehe ein Notarzt zu Hilfe eilen konnte. Seiner Kollegin hatte es den Appetit verschlagen. Sie händigte die beschlagnahmte Dose samt Rapport über den Unglückfall brav ihrem zuständigen Kader aus. Der schickte das Corpus Delicti ins Labor, wo die sozialistisch-lebensmittelchemiewissenschaftliche Elite der Arbeiterpartei ihren Forschungstrieb an Ilses Keksen auslebte, ohne auch nur die mindesten landesverräterischen Spurenelemente sichern zu können. Die Restkekse verschwanden schließlich samt Dose in den Untiefen der Stasi-Magazine und nach der Wende in den Klauen der Ramscher und Schrottverwerter.

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Pfarrer Christian Führer jedoch hielt am darauffolgenden Tag, dem Montag, 20. September 1982, in der Nikolaikirche zu Leipzig eine Messe, die er mit dem berühmten Friedensgebet schloss. Wir können nicht ausschließen, dass er zu dem Zeitpunkt bereits von den Keksen seiner Tante gekostet hatte und daher möglicherweise so mitreißende Worte fand. Gesichert ist, dass er im Anschluss an seinen Gottesdienst mit der Keksdose durch die Reihen der versammelten Gläubigen schritt. Nachdem alle sich gütlich getan hatten, standen sie auf wie ein Mann und begaben sich auf die erste Montagsdemonstration, der viele weitere folgen sollten.
An dieser Stelle müssen wir nun einen Zeitsprung machen und den Bogen zum Charlottenburger Weihnachtsmarkt schlagen, wenn wir die Geduld des geneigten Lesers nicht überstrapazieren wollen. Ich hatte im Dezember 2008 den Job des Charlottenburger Adventsmarktansprechpartners übernommen, einen Dienst, um den mich viele Kollegen insgeheim beneideten, wähnten sie mich doch jeden Abend an Glühweinständen herumlungernd, um schickerten Touristinnen Geleitschutz ins Hotel anzubieten. In Wirklichkeit war dies einer der stressigsten Jobs meiner dreißigjährigen Kriminalerlaufbahn. Die osteuropäischen minderjährigen Geldbeutel-Beutejäger waren mir an Zahl und Sprintschnelligkeit einfach Kilometer voraus. Ich schob also schon reichlich Frust, als ich am zweiten Advent der für die Schlossanlagen zuständigen Kuratorin der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg in die Arme lief, die mich offensichtlich händeringend gesucht hatte. Ein Einbruch im Mausoleum! Ich müsse sofort mitkommen! Gerade eben habe sie den Frevel erst festgestellt, habe gar nicht erst bei der Polizei angerufen, die ja doch Stunden brauchen und aufgrund des Weihnachtsmarktes sowieso keinen Parkplatz finden würde, sondern sie habe sofort an mich gedacht, wo sie mich doch neulich so bewundert habe, als sie mich hinter diesen rumänischen Kindern her rennen sah. Das sei doch noch ein richtiger Mann, habe sie gedacht, wie in diesen James-Bond-Filmen, die sie seit ihrer Jugend immer gerne schaute und ... Ehe sie mir weitere Details aus ihrem Privatleben offenbaren konnte, hatten wir den Tatort erreicht und ich konnte sie zum Zwecke der Spurensicherung auf sicheren Abstand beordern. Tatsächlich hatte jemand das schwere Metalltor geknackt – mit einem primitiven Brecheisen, wie es aussah. Luises Sarkophag war unversehrt. Überhaupt sah nichts danach aus, als habe der Eindringling irgendetwas entwendet oder beschädigt. Allerdings hatte er etwas hinterlassen: eine leere Lambrusco-Flasche und einige Kekskrümel. Ich begutachtete sie genauer und stellte fest, dass es sich um Überreste von misslungen Zimtsternen älteren Datums handeln musste. Steinhart. Zu Ermittlungszwecken ließ ich mir einen der Krümel auf der Zunge zergehen. Augenblicklich durchfuhr mich der Strahl der Erkenntnis und alles war sonnenklar: Paulchen! Der Penner Paul musste in der vergangenen Nacht hier Obdach gesucht haben! Na warte, dem würde ich die Leviten lesen! Die Kuratorin stellte ich ruhig, indem ich ihr versicherte, ich sei dem Täter bereits auf der Spur, dann flitzte ich los in Richtung Weihnachtsmarkt. Ihre bewundernden Blicke in meinem Rücken beflügelten meine Schritte.
Paulchen stand mit einer Keksdose in der Hand am Kinderkarussell und verhandelte gerade mit einem älteren Herrn, mit dem sich der Kreis an dieser Stelle wieder schließen soll. Auch wenn es nur ein kleiner Krümel Manna war, dessen ich teilhaftig geworden war, war mir sofort klar, was hier gebacken war: Der von göttlicher Erkenntnis durchleuchtete Paul hatte die Kindlein an Gottes Wort teilhaben lassen wollen. Hier sei die Antwort auf Pisa, hatte er gelallt, wer von diesen Keksen koste, habe sein Studienplätzchen bereits sicher. Während die Eltern unverzüglich ihre Kinder in Sicherheit brachten, hatte sich der ältere Herr genähert, der sich als Christian Führer vorstellte, Pfarrer im Ruhestand. Er sei eben aus dem Seniorenheim der Caritas am Klausenerplatz gekommen, wo er die letzten Habseligkeiten seiner jüngst verstorbenen Tante in Empfang genommen habe: eine alte Dose, in der sich eine Fahrkarte der Reichsbahn nach Prag und zurück und ein steinharter Zimtstern befanden, genau die gleiche Sorte, die die gute Oma Pachulke ihm vor sechzehn Jahren mitgebracht hatte auf dieser Reise nach Prag ...

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Wir haben die letzten Kekse an die Fische im Schlosspark verfüttert. Ist der Fisch nicht das Symbol des Herrn, sein besseres Ebenbild? Paulchen hat mit der Kuratorin einen Deal geschlossen: Er darf im Mausoleum nächtigen und betätigt sich dafür als Müllsammler im Park. Ich mache jetzt die Wettervorhersage beim Sender Freies Berlin. Ein angenehmer Job. Sollen andere doch die Welt retten!

20. Dez. 2010 - Regina Schleheck

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