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Dead End
von Dave T. Morgan

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Das Licht erstarb jeden Tag ein wenig früher, der Frost stahl dem Boden das Grün und die kleinen Wolken beim Atmen machten mir klar: Weihnachten war ebensowenig aufzuhalten wie der allmähliche Verfall meines Körpers.
Sebastian, dachte ich, du bist ein Narr und wahrscheinlich der einzige Mensch in dieser Stadt, der das Fest der Liebe abschaffen würde. Liebe, pah!
Nachdenklich drehte ich den Strick in meinen Händen, legte ihn zusammen, zog ihn auseinander, strich mit dem Daumen prüfend darüber. Er fühlte sich gleichzeitig rau und glatt an; andere Lebewesen erzeugen dieses Gefühl durch Schuppen. Hier aber waren kleine Nylonbänder so dicht ineinander gewoben, dass sich meine Finger nicht entscheiden konnten, was sie fühlen wollten. Meine Augen zumindest wussten, dass sie die grellen Farben abstoßend fanden: Orange, blaue und gelbe Fasern, dicht um einen weißen Kunststoffkern gezogen. Sehr haltbar.
„Das Einzige, auf das man achten muss“, hatte der Verkäufer erklärt „ist, dass man es am Ende abschmelzt. Dann fasert es nicht aus und hält ewig.“
„Ewig? Ein Seil für die Ewigkeit.“, sagte ich tonlos und versuchte zu lächeln. Aber der Blick, den ich erntete zeigte, dass sich der junge Mann unangenehm berührt fühlte.
„Wenn ich irgendwie helfen kann ...?“
„Nein, das wäre dann alles!“, sagte ich ihn absichtlich missverstehend. „Geben Sie mir zweieinhalb Yards.“ Die ungewöhnliche Länge sprach für sich, schrie es deutlicher heraus, als ein Plakat. Der hilflose Blick eines überforderten Jünglings war die einzige Antwort.
Zweieinhalb Yards Bergsteigerseil gegen 48 Jahre von Sebastians Leben – ich ahnte wer den Vergleich gewinnen würde. 576 Monate, sinnentleert und unbrauchbar. Nichts das blieb, keine Werte und schlimmer noch: Keine Aussichten, dass sich etwas ändern würde. Ein tröger Job in einem Großkonzern, der mir die Farben des Lebens nahm; die Chance auf eine Familie zerrieben zwischen beruflichen Ambitionen und den Streitereien des Alltags. Nadia, die Frau meines Lebens! Ihre Liebe zu gehaltlosem Sand geworden und durch meine Hände geronnen.
„Nadia“, flüsterte ich leise und fühlte, wie meine Zungenspitze dabei zweimal den Gaumen streichelte. Sie ist Russin und heißt eigentlich Nadeschda, was auch immer das auch bedeuten mochte. Mir gefällt die Kurzform besser. Schon ihr Name hatte immer ein Kribbeln in mir ausgelöst. Ich hatte sie nicht halten können und so war sie zu meinem Zwillingsbruder Steve geflüchtet. Steve. Verhasster, geliebter Bruder. So leer wie mein Leben war, so angefüllt war das von Steve. Er lebte mit meiner wunderschönen Nadia zusammen, hatte zwei Kinder mit ihr, ein Haus am See, den Pool – das unbeschwerte Leben eines Investmentbankers.
Das Einzige, was mir hingegen blieb, war die Erinnerung an eine kurze Zeit des Glücks mit Nadia: Ein Urlaub in Ostafrika. Unglaubliche Landschaften eingebettet in einen Zauber aus Wärme und unberührter Natur. Was ich von dieser Zeit mit nach Hause nahm, waren wunderbare Erinnerungen. Die Serengeti mit ihren endlosen Gnuherden, der Ngorogoro Krater im Schein des Halbmondes und als besonderes Souvenir – eine Malaria Tropicainfektion.
Die Krankheit lag eingebrannt in meinem Blut, lauernd und jederzeit bereit, mein aktuelles Leben zu zerstören. Manchmal für Jahre Ruhe und dann wieder ein Fieberschub nach dem anderen. Ausfälle, Schwäche, Krankenhäuser ... Niereninfektion. Was ich am meisten daran hasste war die Unsicherheit. Dass ich nie wusste, wie lange ich einsatzfähig war, wie lange ich funktionieren konnte. Es gab Zeiten, in denen ich mich lebendig, frisch und stark fühlte und dann wieder ... es war meine ganz private Hölle. Keiner konnte sie mit mir teilen, keiner mir ein Stück davon abnehmen. Lange Zeit war es so dahingegangen und ich hatte meine Krankheit vor den meisten verbergen können. Die Malarianfälle an sich konnte ich inzwischen gut überstehen, was meine Theorie bestätigte, dass man sich prinzipiell an so ziemlich alles gewöhnen kann – auch oder besonders an Schmerzen. Doch die Diagnose nach dem letzten Anfall? Starke Schädigung der Nieren und nur eine fünfprozentige Heilungschance. Wieder drehten meine Hände das Seil, zogen es schnell voran, stoppten es ruckartig. Die Farben verschwammen, erschienen wieder. Noch immer beleidigten sie meine Augen. Meine Hände drehten weiter. Das Seil. Der bessere Weg? Auf jeden Fall der leichtere. Fünf Prozent. Was war das schon?
Wie sehr beneidete ich im Moment meinen gesunden Bruder Steve. Er brauchte sich die Worte von Dr. Jackson nach dem letzten Anfall nicht anzuhören. Aber mir zerbrachen sie die dünnen Wände meiner illusorischen Welt.
„Es tut mir leid es Ihnen mitteilen zu müssen, aber mit ziemlicher Sicherheit werden sie demnächst regelmäßig auf unsere Dialysestation kommen müssen.“
„Dialyse?“, ungläubig sah ich ihn an. „Wie soll ich das bezahlen, ich bin nicht versichert.“
„Ich, äh ... .“
„Werde ich noch arbeiten können? Wie oft ...?“
„Das hängt davon ab. Entweder dreimal die Woche vier bis acht Stunden, oder täglich zwei Stunden, aber ... .“
Damit zerschlug sich die Hoffnung die Kosten über meine Arbeit finanzieren zu können. Ich hörte die restlichen Scherben meines Lebens unter den Füßen des Schicksals knirschen. Irgendwann hob ich wieder den Kopf und sah Dr. Jackson an.
„Aber?“
„Wissen Sie Mr ... .“
„Sebastian geht schon in Ordnung. Nein, wirklich, das Ende meines unabhängigen Lebens würde ich gerne mit einer persönlichen Anrede hören. Wenn’s Recht ist.“ Zynismus, der Fluchtweg der Hilflosen.
„Dann will ich es kurz machen ... Sebastian. Die Dialyse ist nur eine zeitweilige Station. Den nächsten Anfall werden Ihre Nieren nicht überstehen. Sie brauchen in jedem Fall so schnell wie möglich eine Transplantation!“
„Transplantation? In meinem Alter? Sind Sie verrückt oder einfach nur bescheuert?“
Dr. Jackson reagierte nicht auf meine Beleidigung, sah nur betreten zur Seite. Ich hatte wohl den entscheidenden Punkt getroffen. Irgendwann quetschte er hervor: „Ja, sehr hoch werden Sie auf der Prioliste nicht gerade stehen. Es tut mir leid!“
Da war er, der Blick auf mein Ende. Mein persönlicher Styx, die Grenze auf die jeder einmal traf. In meinem Fall gezogen von einer verfluchten, kleinen, blutgierigen Mücke. Scheiße.
Das war vor zwei Monaten gewesen. Ich hatte zunächst einmal meine Wohnung verkauft, um die Schulden bei den Ärzten tilgen zu können. Den Rest verlebte ich langsam.
Ich wollte meinem Bruder keine Schulden hinterlassen. Doch großzügigerweise hatte er mich sogar bei sich aufgenommen. Nur ... . Die Qual Nadia jeden Tag mit ihm und seinen wunderbaren Kindern zu sehen, gab mir den Rest. Ob er das wusste, ob er es mit Absicht getan hatte? Eigentlich glaubte ich das nicht, doch mein zynischer, mit dem Schicksal hadernde Verstand traute ihm zur Zeit alles zu. Warum? Nun, weil Weihnachten war und mein Herz in der gezwungene Weihnachtsharmonie der heiligen Tage zerrieben wurde. Gab es nicht eine Statistik die zeigte, dass in diesen Tagen die Selbstmordrate extrem nach oben ging? Dieser Statistik glaubte ich jedes Wort! Irgendwann mutet einem das Schicksal einfach zu viel zu. Andererseits konnte es einem auch gnädig sein: Immerhin hatte ich ja ein Zimmer im Dachgeschoß meines Bruders, mit eigenem Bad und einem soliden Dachbalken. Was blieb vom Leben?
Ich sah den Strick an und er mich. Ich lächelte zuerst, wenn auch nicht aus ganzem Herzen. Wenigstens würde ich freiwillig gehen. Die Entscheidung war gefallen, mein Kopf wurde leer und meine Hände fügten sich endlich dem mir vorgezeichneten Weg. Zielsicher formten sie den Henkersknoten. Warum fast jeder von uns wusste, wie man ihn band? Weil es uns eine Wahl gab?! Zwischen dem Schicksal und ... . Ich riss den Kopf nach oben als ein gewaltiges Dröhnen durch das Haus donnerte. Ein Schuss! Aus einem Gewehr! Ich hörte Nadias Schreie nach oben gellen und der Weg meiner Finger war vergessen. Ich raste die Treppe nach unten. Hier war nichts! Die Kellertüre stand offen. Eine zweite Treppe und verzweifeltes Schluchzen drang herauf. Schneller als mein Gehirn mögliche Erklärungen formen konnte, stand ich im Keller. Vor Nadia, vor dem Blut meines Bruders, vor seinem sterbenden Körper, als ihm die Schrotflinte aus den Händen fiel.

Der erste Brief war kurz gewesen. Nur drei Sätze.
Nadia: Ich kann so nicht mehr weitermachen. Sie trägt keine Schuld. Kümmere dich bitte um unsere Kinder. Auf ewig, dein Steve!
Eine Affäre, Kokain.

Der zweite Brief war genauso kurz, aber er brachte mich weit mehr aus der Fassung. Ich las ihn während die Sirenen gellten und die Sanitäter die Treppe herabkamen.
Sebastian: Ich habe alles Notwendige veranlasst. Bitte nimm mein Leben und mache etwas Besseres daraus. Tu es für unsere Liebe, tu es für Nadia!
Darunter lag ein Organspendeausweis.

Schicksal?! Wer glaubt den Fortgang deiner Melodie zu kennen, beginnt mit dem Teufel zu tanzen.

15. Dez. 2010 - Dave T. Morgan

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