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Die Mühlenkönigin von Fabienne Siegmund
Peter Wall © http://www.picturewall.eu Die alte Frau stand nur wenige Schritte vom Ufer des Mühlenbachs entfernt. Stumm betrachtete sie das Wasser, das hinter der kleinen Brücke im Mondlicht schimmerte. Still lag es da. Ein Geräusch ließ sie erschreckt zusammenfahren, aber es war nur ein Kaninchen, das im Gras verschwand. Die Greisin wandte sich wieder um. Sie war lange nicht mehr hier gewesen hier, an der kleinen Brücke hinter den Häusern des Brunnenweges. Die Straße hieß nun anders, aber sie kannte sie nur unter diesem Namen.
Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht und spähte wieder zum Bach. Hinten, auf der anderen Seite der kleinen Brücke, lag die Pferdekoppel, dahinter der kleine dunkle Wald. Sie hatte ihn als Kind oft durchstreift. Zur Oebelmühle führte er, wenn man den Weg über den knisternden Laubteppich gefunden hatte.
Heute aber würde sie den Wald nicht betreten, sondern auf die Brücke gehen, hin zum Mühlenbach, obwohl nichts auf der Welt ihr mehr Angst hätte machen können.
Ein tiefer Atemzug, dann fasste sie sich ein Herz und ging, gestützt auf ihren Stock, weiter. Unterwegs umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Wie viele Schuhe von ihr wohl in seinem morastigen Ufer versunken waren? Als Kind war sie oft nur mit einem Schuh von hier davongerannt, noch aufgeregt und rotwangig von einem gerade erlebten Abenteuer. Die Mutter hatte geschimpft, so manches Mal hatte sie den Gürtel des Vaters zu spüren bekommen, aber all das hatte sie nicht aufgehalten wieder zum Bach zu laufen und weiter zu spielen, mit Zwergen und Feen, Nixen und Nymphen, die sich im Wald, im Gras und im Bach verborgen hielten, bis sie kam. Gegen Kobolde hatten sie gekämpft, Gnome besiegt und selbst das Nixenkind konnten sie aus den Händen des Trollkönigs befreien, der in einer kleinen Hütte im Wald gelebt hatte. Ob die Zwerge, Feen, Nixen und Nymphen noch da waren?
Sie würde es vielleicht erfahren, wenn sie die Brücke erreichte. Es waren nur noch ein, zwei Schritte. Dann würde sie ihren Stock ins Wasser führen und rühren dreimal, während über ihr der Vollmond schien. Und dann musste sie warten, bis das Wasser anfing zu brodeln, wie es schon einmal geschehen war. Damals, als sie als junge Frau das letzte Mal den Mühlenbach besucht hatte.
Verliebt war sie gewesen. So verliebt, wie nur ein Backfisch es sein konnte. Herzen hatten ihre Augen in den Himmel gemalt, wenn er nur an ihr vorbeigegangen war. Nie bemerkte er sie, was sie natürlich traurig stimmte. Dann machte er ihrer Freundin den Hof. Was sie noch trauriger stimmte, auch wenn er sie dadurch bemerkte und sogar ihren Namen rief. Eines Tages hatte die Freundin ihn geküsst, und sie war fortgerannt, hin zum Mühlenbach und hatte sich an sein Ufer gesetzt und bittere Tränen geweint, vor Wut und Schmerz.
Die Zwerge, Elfen, Nixen und Nymphen waren gekommen und hatten versucht sie zu trösten, doch welchen Trost gab es schon für ein Herz, das zum ersten Mal brach?
Nach und nach zogen sich die Fabelwesen von ihr zurück, nur eine Nixe blieb. Es war die, die sie aus der Hütte des Trollkönigs befreit hatten. Sie hatte eine nasse Hand auf ihr Kleid gelegt und ich kann dir helfen, geflüstert, mit Glucksern in der Stimme. Ich hole die Mühlenkönigin.
Von der Mühlenkönigin hatte sie gehört. Die Zwerge sprachen mit Ehrfurcht von ihr, die Feen und Nymphen mit Angst und die Nixen mit dem Wissen, dass sie ihr am nächsten waren. Wünsche sollte sie erfüllen. Einst soll sie eine Magd bei der Mühle gewesen sein, aber niemals wurde davon gesprochen, was genau sie jetzt war, und sie hatte sich in ihrer kindlichen Vorstellung immer eine mächtige, wunderschöne Königin ausgemalt. Aber Vorstellungen, das hatte sie an diesem Tag gelernt, waren eine trügerische Sache und deckten sich nur selten mit der Wirklichkeit.
Die Nixe war abgetaucht, tief hinein in das klare Wasser und bald war sie auf den Grund verschwunden und sie wartete, immer noch mit tränennassen Augen und Wut im Herzen, weil ihre beste Freundin ihn geküsst hatte.
Eine Weile lang blieb es still, die Nacht brach über ihr herein und brachte den Vollmond mit. Immer noch wartete sie, auch wenn sich die Mutter sicher schon vor Sorgen den Kopf zerbrach.
Dann begann das Wasser zu brodeln und eine Gestalt stieg auf. Sie war groß, und als sie vor ihr stand, verdeckte sie den Mond. Die alte Frau erinnerte sich daran, wie ihr jüngeres Ich erschrocken die Hände auf den Mund gepresst hatte um nicht zu schreien. Die Mühlenkönigin war eine mächtige Frau, in diesem Punkt hatte sie sich nicht geirrt. Aber ihr Aussehen war schrecklich. Ihr Gesicht war ein kahler Schädel bedeckt mit grünen Algen, ihre Augen standen weit aus ihren knöchernen Höhlen und erinnerten an die stumpfen Augen toter Fische. In ihrem Mund wuchsen spitze Zähne. Ihre Körper, ebenso schmal und knochig wie das Gesicht, zeichnete sich unter einem Kleid ab, das aus allem zu bestehen schien, was der Mühlenbach hergab Algen und Schlick, Fischhaut und Krebsschalen, ja, sogar Teile menschlicher Knochen konnte sie sehen.
Eines meiner Kinder sagte, dass wir in deiner Schuld stehen. Die Stimme der Mühlenkönigin klang dumpf und brodelnd wie unter Wasser gesprochen. Die junge Frau hatte sich gezwungen sie anzusehen und zu nicken. Verzweifelt suchten ihre Augen nach der Nixe, aber sie tauchte nicht auf. Nur die Mühlenkönigin war da, und sie fragte, was ihr Wunsch war.
Die junge Frau hatte mit stockender Stimme ihren Wunsch vorgetragen und am Ende hatte die Mühlenkönigin genickt.
Er wird dich lieben.
Das waren die blubbernden Worte gewesen und ihr Herz hatte einen Sprung gemacht. Aufgestanden war sie, völlig aufgeregt, und hatte sich vor der Mühlenkönigin verbeugt, deren brackiger Geruch ihr fast den Magen umdrehte.
Sie brachte ein Danke hervor und dann wollte sie gehen, doch die Stimme der Mühlenkönigin war erneut glucksend durch die Nacht geschallt: Du musst mir ein Pfand bringen.
Fragend hatte sie die Gestalt aus Knochen, Schlamm und Schlick angesehen. Es muss ein schlagendes Herz sein, eines, das ihr beide missen müsst. Bring mir deine Freundin.
Ihr Herz, eben noch freudig erregt, hatte einen Moment innegehalten. Ihre Freundin? Das konnte sie nicht, nein! Die Mühlenkönigin bewegte den mit Morast behangenen Arm und das Bild des Kusses tauchte wieder vor ihren Augen auf. Langsam nickte sie. Die Mühlenkönigin tat es ihr gleich und entließ sie mit einem Wink ihrer Hand in die Nacht. Ehe sie außer Sicht war, rief sie ihr noch etwas nach, und diese Worte hatten sie heute hergeführt.
Einen Tag später hatte sie ihre Freundin hierher gebracht. Zusammen setzten sie sich zu einem Picknick an den kleinen Bach, die Decke nah am Ufer, und als die Freundin am Ende das Geschirr abspülte, kamen Hände aus dem Schlamm, knochig und voller Algen, Schlick und Tang. Ihre Freundin schrie, flehte sie an ihr zu helfen, doch sie hatte es nicht getan, sondern nur das Brodeln des Wassers beobachtet, das sich nach und nach im stillen Gluckern des Baches verlor, wie ihre Freundin, die sie verraten hatte. Die ihn geküsst hatte.
Und wie die Worte der Mühlenkönigin es verheißen hatten, hatte er sie geliebt. Ein Leben lang. Sie hatten geheiratet und ihnen waren zwei Kinder beschert worden, die selber schon wieder Kinder hatten. Vor einem Monat dann war ihr Mann gestorben. Und sie war nun hier, zurück im Reich der Mühlenkönigin, um das Angebot, das in ihren letzten Worten gelegen hatte, anzunehmen.
Sie lehnte sich über das alte Brückengeländer, steckte ihren Stock ins Wasser, genau dort wo sich die runde Scheibe des Vollmonds abzeichnete und rührte dreimal. Nichts geschah.
Damals waren da zuerst die Tränen gewesen. Und der Zorn.
Tränen die konnte sie aufbringen, denn seit seinem Tod war die Welt für sie nicht mehr so, wie sie einst war. Er hatte ein Stück von ihr mitgenommen, den Teil, in dem sie glücklich war.
Eine einzelne Träne kullerte durch die Furchen ihrer Wangen und tropfte schließlich vom Kinn in den Mühlenbach.
Der Zorn war schwerer. Längst hatte sie es aufgegeben, der Welt oder Gott zu zürnen, dass er ihren Mann von ihr genommen hatte. Es war der Lauf der Dinge.
Die Tränen müssen reichen, dachte sie. Sie müssen einfach reichen.
Eine zweite Träne fiel ins Wasser, die Oberfläche kräuselte sich und schickte Ringe ans Ufer. Eine dritte Träne folgte ihr, und als auch ihre Kreise ausgelaufen waren, begann das Wasser wie einst zu brodeln und schon bald war der Himmel durch die Gestalt der Mühlenkönigin verdunkelt.
Ihr Körper war breiter geworden. Erkennen lag in ihren Fischaugen. Du bist gekommen, sagte sie. Ihre Stimme hatte sich nicht verändert.
Die alte Frau nickte.
Du willst das Pfand auslösen, wie ich es dir angeboten habe?
Wieder ein Nicken.
Du weißt, welchen Preis ich dir genannt habe?
Auch ein drittes Mal nickte sie. Dann sah sie die Mühlenkönigin an. Wie wird sie sein?
Wie früher. Nur in einer neuen Welt.
Erschrocken klammerte sich die alte Frau an das Brückengeländer. So hatte sie es nicht vorgestellt. All die Verwandten der Freundin waren tot. Die Welt, wie sie gewesen war, hatte sich weitergedreht.
Sie sah der Mühlenkönigin in die trüben Augen. Das ist nicht fair, wisperte sie. Ich dachte, sie könnte dort weitermachen, wo sie aufgehört hat. Damals
Ihre Stimme versiegte zu einem leisen Flüstern, dass sich in einem glucksendem Lachen der Mühlenkönigin verlor.
Nicht fair? Nicht fair?
Angstvoll blickte die alte Dame sie an.
War es fair, die Liebe deines Mannes durch meinen Zauber zu erkaufen?
Sie schwieg. Die Worte der Mühlenkönigin sprachen die Wahrheit aus, vor der sie sich all die Jahre im Glück ihrer Ehe versteckt hatte: Es war nicht fair gewesen, niemals.
Sie musste es tun. Mit ihrem Mann hatte sie ihr Versteck verloren, jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte es ihm versprochen. Auf dem Sterbebett hatte sie ihm die Geschichte gestanden. Er war nicht zornig gewesen, auch wenn seine Augen sie befremdet gemustert hatten. Gesagt hatte er nur: Befreie sie. Versprich es!
Sie hatte es ihm versprochen, denn sie liebte ihn und hatte den warmen Blick seiner Augen zurückgewünscht.
Wird sie sich zurechtfinden?
Die Mühlenkönigin zuckte mit ihren Schlammschultern. Das geht mich nichts an, sagte sie nur und die alte Frau wusste, dass es ihr egal war. Sie überlegte für einen kurzen Moment. Sollte sie ihre Freundin wirklich befreien?
Sie fürchtete sich vor dem, was geschehen würde. Aber sie hatte es versprochen. Und ein Versprechen brach man nicht, ohne dass einem das Herz zerbrach. Aber ihres war schon zersprungen was machte da ein Sprung mehr noch aus?
Sie seufzte und sah hinauf zu den Sternen. Einer blinkte auf. Ihr Mann? Wollte er sie an ihr Versprechen erinnern? Der flehende Blick der Freundin tauchte in ihrer Erinnerung auf.
Ihr Kopf neigte sich wieder, sie sammelte sich für einen Moment, dann sah sie der Mühlenkönigin fest in die Augen.
Ich möchte das Pfand einlösen, sagte sie mit fester Stimme. Sie hatte es versprochen.
Die Mühlenkönigin nickte und beugte sich über sie. In ihrem Leib öffnete sich ein Gang, der nach unten führte, hinab ins Reich unter dem Bett des Baches. Sie sah dort eine Gestalt stehen, die Silhouette einer jungen Frau, und erinnerte sich der Worte der Mühlenkönigin: Wenn du einst wiederkommst, kannst du sie befreien, wenn du für immer bleibst.
Was wird mit mir geschehen?, fragte sie, ehe sie den Gang betrat. Die Mühlenkönigin schwieg und hinter ihr schloss sich die Tür zur Welt, die sie kannte. Eine Hand, warm und menschlich wie die ihre, streifte sie in der braunen, stickigen Dunkelheit. Ob es ihre Freundin war, auf dem Weg nach draußen?
Du, tönte die Stimme der Mühlenkönigin dumpf zu ihr, und in ihr überschlugen sich die Gedanken: Würde sie auf ewig im Reich des Bachbettes gefangen bleiben wie ihre Freundin? Oder würde sie sterben und wieder vereint mit ihrem Mann sein? Hoffnung keimte in ihr auf.
Die Mühlenkönigin fuhr fort: Du wirst nun die neue Mühlenkönigin sein, solange bis jemand ein Pfand einlöst, das du angenommen hast.
Die alte Frau spürte, wie ihr Körper im Gehen eins mit ihrer Umgebung wurde und als sie die Welt unter dem Mühlenbach erreichte, war sie längst schon nicht mehr die, die sie gewesen war.
Peter Wall © http://www.picturewall.eu
20. Feb. 2011 - Fabienne Siegmund
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