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EXITUS PER PEDES von Robert Heracles
Joe Kurz © http://www.joes3dfantasyworlds.com/index.htm Die Sonne stand hoch über den Dächern der Stadt, doch sie vermochte es nicht so richtig, die grauen Schlieren zu vertreiben, die im Laufe des Vormittags vom Harz heraufgezogen waren. Als der Wagen mit einem absterbenden Brummen im Parkhaus zum Stehen kam, befiel den Inspektor ein schrecklicher Verdacht. Es war nicht der erste, der ihn an diesem Tag befallen hatte, und es würde auch nicht der letzte sein. Durch die dreckigen Scheiben des alten Passat schaute er in den grauen Himmel von Braunschweig. Es sah nach Regen aus.
"Hier sieht's eigentlich immer nach Regen aus", sagte er nachdenklich zu sich selbst.
Dann fasste er den Schlüssel fest mit den Fingern seiner rechten Hand und drehte ihn entschlossen um. Der Wagen gab seltsame Geräusche von sich, die alles andere als gesund klangen. Langsam sank der Kopf des Inspektors gegen das Lenkrad. Möglicherweise konnte man es "subjektives Empfinden" nennen, aber er hatte das Gefühl, dass sich die Stadt gegen ihn verschworen hatte. Gerade gestern hatte er die Karre doch aus der Werkstatt geholt!
"So gut wie neu", hatte der fette Typ im Blaumann gesagt.
Aber was hatte er schon erwartet? Immerhin war es eine Braunschweiger Werkstatt gewesen.
Das Klopfen an der Scheibe ließ ihn zusammenfahren. Er sah hoch und winkte dem blonden Jungspund, der ihn aus seiner düsteren Meditation gerissen hatte, kurz zu, so als wolle er ein paar Mücken verscheuchen. Dann kurbelte er die Scheibe herunter.
"Hier sind sie, Inspektor! Ich habe schon überall nach Ihnen gesucht!"
"Nur die Ruhe, Milton!"
Der Inspektor griff lustlos in das Handschuhfach und holte die Zeitung heraus. Was den Wagen betraf, so machte er sich keine Hoffnung mehr. Vielleicht sollte er die Kiste einfach hier stehen lassen. Er fühlte sich plötzlich unendlich müde. Dann aber fiel sein Blick auf die Schlagzeile.
"VIKTOR VON DUE ERMORDET", stand da.
Und auf einmal kehrte seine Energie zurück. Sein Kampfgeist. Das, was er da in den Händen hielt, war seine Chance. Die Möglichkeit, endlich einmal einen großen Treffer zu landen und vielleicht sein Ticket in eine andere Stadt. Endlich raus aus dem verregneten Braunschweig. Er öffnete die Fahrertür und stieg aus.
Milton sah ihm gespannt entgegen. Der junge Ermittler, der erst vor ein paar Monaten den Status des Anwärters abgelegt hatte und sich nun als rechte Hand des Inspektors seine ersten Sporen verdienen konnte, kam diesem wie die leibhaftige Ausgeburt an Übereifer vor.
"Haben Sie schon eine Spur?", sprudelte es aus dem jungen Mann heraus. "Wissen Sie schon, wer von Due ermordet haben könnte?"
"Nur die Ruhe, Milton", sagte der Inspektor erneut. "Wir werden den Fall schon lösen."
Er warf seinem Partner die Autoschlüssel zu.
"Jetzt sehen Sie zu, dass Sie mir die Frau des Ermordeten und diesen ausländischen Geschäftsmann heranschaffen, mit dem sich von Due zuletzt getroffen hat."
Der Inspektor setzte sich in Bewegung und ließ den jungen Braunschweiger etwas verwirrt zurück.
"Die Frau ... und den Geschäftsmann ...", wiederholte Milton.
"Genau. Und währenddessen gehe ich rein und quetsche den dritten Verdächtigen aus: den Butler."
Hinter sich hörte der Inspektor, wie Milton die Fahrertür öffnete. Er machte Halt und drehte sich noch einmal um.
"Ach, und Milton!" Er sah dem jungen Mann fest in die Augen. "Dieser Fall ist einmalig in meiner Karriere. Wenn ich ihn löse, dann wird endlich jedem klar, was für ein schlauer Kopf ich bin."
Milton nickte nervös, als die Stimme des Inspektors laut und eindringlich wurde.
"Also strengen Sie sich an. Und etwas Tempo, wenn ich bitten darf!"
Gerade als er die zahlreichen Stufen des Treppenhauses hinabgestiegen war und vor dem Parkhaus auf die Straße trat, fielen die ersten Tropfen vom Himmel. Grummelnd schlug er den Kragen seines Mantels hoch, stapfte mürrisch voran und wollte gerade wieder beginnen, das ewig trübe Wetter Braunschweigs zu verfluchen, als ihm bei dieser Gelegenheit auch die zahlreichen anderen Nachteile der Stadt durch den Kopf schossen. Ganz besonders ihre Werkstätten!
Während er noch überlegte, ob er wirklich kehrtmachen und die vielen Stufen auf sich nehmen sollte, nur um sich bei seinem Partner für seine Zerstreutheit zu entschuldigen, hörte er das Hupen und mit der sprichwörtlichen Verblüffung im Gesicht sah er den jungen Mann hinter dem Steuer seines Wagens vorbeifahren und fröhlich winken. Wie zum Teufel hatte er die Karre starten können?
"Braunschweig!". sagte er kopfschüttelnd und ging weiter.
Das Haus des Viktor von Due lag von der Straße aus ein gutes Stück weit zurück. Während er durch den großen Vorgarten schritt, ordnete der Inspektor seine Gedanken. So wie er die Sache einschätzte, konnte ein Mann wie Viktor von Due durchaus Feinde in den eigenen Reihen haben. Nun, es gab viel zu tun und er würde sich nicht beirren lassen, egal wie viel Widerstand man gegen seine Ermittlungen aufbringen würde. Geschwind trat er die Stufen aus weißem Marmor hinauf und klingelte entschlossen.
Erst nach dem zweiten Klingeln rührte sich etwas. Ein alter, grauhaariger Mann im makellosen, schwarzen Frack öffnete die Tür und sah ihm entgegen.
"Schön Sie zu sehen, Javue", sagte der Inspektor.
"Um Himmels willen, Sie schon wieder! Wie oft soll ich es noch sagen, es heißt de Javue! Und jetzt scheren Sie sich weg!"
Ohne sich beirren zu lassen, schob der Inspektor den mürrischen Alten beiseite und trat ein. Zielstrebig ging er zu der großen Holztreppe, die ihn zum Arbeitszimmer und zugleich zum Ort des Verbrechens führte. Der Butler, einen grauen Staubwedel in der rechten Hand, folgte ihm grummelnd.
Auf dem braunen Holzparkett des Arbeitszimmers war der Fundort der Leiche noch abgeklebt, und auch der Hinweis der Spurensicherung zu den frischen Kratzern am Fensterrahmen war noch vorhanden. Auf den ersten Blick machte das Zimmer den Eindruck, als sei es unberührt geblieben, seit der Inspektor und seine Leute den Tatort heute Morgen gesichert hatten. Seinem wachsamen Auge entging jedoch nicht, dass sich die zahlreichen Vasen und Bilderrahmen, welche die Schränke und Wände des eindrucksvollen Raumes schmückten, leicht verändert hatten und nunmehr prachtvoller zu glänzen schienen, als zuvor in der frühen Morgensonne. Sein Blick fiel auf das Instrument in der rechten Hand des Butlers.
"Soso, Staubwischen, wie? Wollen Sie etwa Spuren beseitigen?"
Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch. "Selbst wenn hier Spuren wären, würden Sie bestimmt nichts finden."
Der Inspektor zückte sein Notizbuch. "Hahaha, so ein Schelm." Er lachte gekünstelt. "Aber Spaß beiseite, Sie kennen das Spiel: Wo waren Sie gestern Abend zwischen neun und elf Uhr?"
"Nicht hier", grummelte der Butler.
"Na klar, und gibt es dafür irgendwelche Zeugen?"
Der alte Mann kniff die Augen zusammen. "Hören Sie, an Ihrer Stelle würde ich mir mal Madame von Due vorknöpfen. Da finden Sie bestimmt mehr Hinweise."
Der Stift des Inspektors huschte geschwind über das Notizbuch.
"Tatsächlich?"
"Tatsächlich", erwiderte der alte Mann spöttisch.
Bevor der Inspektor etwas dazu sagen konnte, klingelte es an der Tür und mit einem Seufzen verließ der Butler den Raum.
Rasche Schritte waren zu hören, als Milton mit seiner Begleitung an dem alten Mann vorbeistürmte und die Stufen erklomm. Ein wenig außer Atem blieb er vor seinem Chef stehen, holte tief Luft und deutete hinter sich.
"Wie Sie gewünscht haben, Inspektor: Madame von Due."
Damit machte er kehrt und verschwand sogleich wieder, während ein Wirbelsturm aus blondem Haar und rotem Stoff das Zimmer betrat, den verblüfften Inspektor erblickte und sich schluchzend in seine Arme warf.
"Oooh, 'err Inspecteur", rief der Wirbelsturm mit einem starken, französischen Akzent, "was bin isch froh, dass Sie da sind. Es ist ja soo schrecklisch! Moi lieber Victeur ..."
Unterhalb der schönen, blonden Haarpracht und oberhalb des ausladenden Dekolletés blickten dem Inspektor zwei schimmernde Augen entgegen. Er war sprachlos.
"Und schon wirft sie sich dem Nächsten an den Hals", kommentierte der Butler, der mittlerweile wieder die Stufen hinauf und ins Zimmer gekommen war.
Madame von Due fuhr herum. "Ach, seien Sie doch still! Reischen Ihnen denn all die Jahre der Anfeindung nischt? Müssten Sie nischt froh sein, dass Ihr Peiniger jetzt tot ist?"
"Eine billige Taktik, Madame", gab der Butler zurück. "Glauben Sie ja nicht, dass irgendjemand darauf hereinfällt!"
"Jetzt beruhigen Sie sich mal wieder", unterbrach der Inspektor die Streitenden. Dann wandte er sich an die aufgebrachte Dame. "Entschuldigen Sie, Madame, es ist mir unangenehm, aber ich muss Sie das fragen: wo waren Sie gestern Abend zwischen neun und elf Uhr?"
"Isch, äh, 'abe eine Freundin besucht."
"Mumpitz!", unterbrach der Butler. "Wahrscheinlich hat sie sich schon um das viele Geld gekümmert, das ihr nun zufällt."
"Seien Sie still!"
"Oder haben Sie dem Rotschopf nachgestellt, der Ihrem lieben Mann das Bett gehütet hat, während Sie nicht da waren?"
"Was erlauben Sie sisch? Selbst wenn es dieses rot'aarige Flittschen gegeben 'at, dann wüsste isch doch zu gerne, wer ihr immer die Tür geöffnet 'at. Am Ende stecken Sie mit der unter einer Decke!"
"Nicht so schnell bitte", warf der Inspektor ein, der sich die ganze Zeit über Notizen gemacht hatte.
Der Butler sah den Inspektor an, deutete abfällig auf Madame und sagte trocken: "Schreiben Sie einfach: Eifersucht und Geldgier."
"Non!", erwiderte Madame und deutete ihrerseits auf den Butler. "Schreiben Sie: Rachsucht und Geldgier."
Bevor der Inspektor seine Notizen vervollständigen konnte, klingelte es erneut an der Tür und der Butler verdrehte die Augen.
Keuchend drängte sich Milton zum zweiten Mal an dem mürrischen Mann vorbei und eilte die Stufen hinauf. Während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, betrat er das Arbeitszimmer, holte tief Luft und deutete hinter sich. "Wie Sie gewünscht haben, Inspektor: der ungarische Geschäftsmann."
Diesmal warf sich niemand dem Inspektor an den Hals. Stattdessen richteten sich aller Augen auf die dubiose Erscheinung, die mit Sonnenbrille und Lederjacke das Zimmer betrat. Mit verschränkten Armen baute sich der Ungar stumm vor dem Inspektor auf. Dieser reichte ihm etwas verwundert die Hand, zog sie aber schnell wieder zurück, als keine Reaktion erfolgte.
"Ja nun, Herr äh ... Herr Ungar", begann der Inspektor, bemüht, seine Autorität nicht zu verlieren. "Sie haben ja zuletzt mit dem Verstorbenen Geschäfte gemacht, nicht wahr?"
Der Ungar antwortete nicht.
"Auch Sie muss ich fragen: wo waren Sie gestern Abend zwischen neun und elf Uhr?"
Erneut erhielt der Inspektor keine Antwort.
"Der hat seine Zunge verschluckt", meinte der Butler.
"Das ist sehr verdächtig", meinte Madame von Due.
"Na schön, also ..."
Plötzlich regte sich der Ungar, und ein unglaublicher Schwall an seltsamen Lauten drang dem Inspektor aus seinem Mund entgegen. Hilflos blickte er die anderen an.
"Wenn mich nicht alles täuscht, dann hat er gerade von viel Geld geredet", sprang Milton ein. "Und er wiederholt immer wieder: WO SIND DIE BRIEFE? UND WO SIND DIE VERTRÄGE, DIE WIR HIERHER GESCHICKT HABEN?"
Einen kurzen Moment lang überlegte der Inspektor, ob er den jungen Braunschweiger fragen sollte, woher zum Teufel er eigentlich Ungarisch konnte, doch Madame von Due, die die Frage des Geschäftsmanns sofort verstanden zu haben schien, kam ihm zuvor.
"'a! Da müssen Sie ihn 'ier fragen!", meinte sie triumphierend und deutete auf den Butler.
Der Ungar wandte sich dem Butler zu, doch dieser zuckte mit Unschuldsmiene die Schultern.
"Unterschlagen 'at er sie!" regte sich Madame auf. "Er wollte wohl nischt, dass das Geschäft zustandekommt!"
"Ach, halten Sie doch die Klappe!", gab der Butler zurück. "Kein Wunder, dass Ihr Mann Sie betrogen hat, mit Ihnen ist es ja nicht auszuhalten!"
Genüsslich beobachtete der Inspektor, wie der Streit zwischen Butler, Madame und Ungar eskalierte. Milton kam es vor, wie im Affenkäfig. Zwischen lautem Brüllen, Gackern und Kreischen konnte er immer wieder Madame und den Ungarn ausmachen: "WER IST DIESE FRAU?" "WO SIND DIE BRIEFE?"
Der Inspektor zerrte seinen Partner beiseite. "Milton, es läuft hervorragend! Die Verdächtigen beschuldigen sich gegenseitig. Der größte Fall in meiner Karriere und ich stehe kurz vor dem Durchbruch! Nur die Kratzspuren am Fenster kann ich noch nicht deuten."
Milton schien die Begeisterung des Inspektors noch nicht so ganz nachvollziehen zu können.
"Hören Sie mir gut zu, Milton, Sie sollen ja auch was lernen: Es ist vollkommen klar, dass eine der hier anwesenden Personen der Täter ist. Ein Motiv haben sie alle. Der Butler war derjenige, der unter dem Ermordeten am Meisten zu leiden hatte. Die Ehefrau wurde von dem Ermordeten schändlich betrogen und dieser ungarische Geschäftsmann, der hier so lautstark seine Briefe und Verträge fordert, will in Wirklichkeit das Geld, das von Due ihm schuldete aber nicht zahlen konnte!"
Milton nickte langsam.
"Das ist noch nicht alles. Sie haben es vielleicht nicht bemerkt, aber meinem detektivischen Spürsinn ist es nicht entgangen, dass der Butler ein Objekt aus diesem Raum entfernt hat, das heute Morgen noch hier stand. Es handelt sich um einen schweren Leuchter! Die Dame, die sich mir vorhin an den Hals geworfen hat, ist nicht so hilflos, wie sie scheinen mag. Bei der engen Berührung unserer Körper spürte ich einen harten Gegenstand, dessen Form eindeutig die einer sogenannten 'Stupsnase' hat, einer Pistole, Milton! Und zu diesem Ungarn muss ich Ihnen gewiss nichts weiter erzählen. Würde ich Sie dazu auffordern, ihn hier und jetzt zu durchsuchen, dann würden die Schlagringe und Klaviersaiten nur so aus seinen Taschen purzeln!"
Milton räusperte sich unruhig, während der Inspektor begann, in seinen Taschen herumzukramen.
"Das Motiv ist also bei jedem Einzelnen klar. Es fehlt nur noch eine Sache, um den Fall aufzuklären! Hier, gehen Sie mit diesem Ausweis los ..."
Der Inspektor schien nicht das zu finden, was er suchte. Er zog eine rote Perücke aus der Tasche seines Mantels, runzelte kurz die Stirn und warf sie achtlos weg. Im Hintergrund war Madame zu vernehmen: "WER IST DIESE FRAU?"
Er fischte weiter in seinen Taschen herum und zog ein paar Umschläge hervor, die er ebenfalls gedankenlos fortwarf. Milton hörte die Stimme des Ungarn, achtete aber nicht weiter darauf:
"WO SIND DIE BRIEFE?"
"Da ist ja der Ausweis!" Der Inspektor grinste und überreichte ihn Milton feierlich. "Gehen Sie hiermit zur Forensik und holen Sie mir die Leiche des Viktor von Due! Wenn wir wissen, wie er gestorben ist, dann werden wir auch wissen, wer der Täter war!"
Milton schluckte kurz, nahm dann aber den Ausweis entgegen und verschwand.
Der Inspektor bemerkte nicht, wie der Lärm der Streitenden im Hintergrund langsam abgeklungen war. Er hatte sich erneut dem Fenster zugewandt und studierte die Kratzspuren, die den Fensterrahmen verunstalteten. Für kurze Zeit beschlich ihn der leise Verdacht, dass er noch nicht alle Möglichkeiten in Betracht gezogen hatte. Dann schüttelte er den Kopf und drehte sich um.
Drei wütende Gestalten sahen ihm entgegen. Madame von Due hatte die Perücke aufgehoben und der Ungar die Briefe, die er so achtlos weggeworfen hatte.
"Eine rote Perücke und vertrauliche Briefe aus Ungarn?", grummelte der Butler.
"Äh, also, ich ...", erwiderte der Inspektor.
"Tja, um einen Fall zu lösen und als großer Ermittler berühmt zu werden, muss man erst mal einen Fall haben, nicht wahr, Inspektor?"
Die drei Verdächtigen rückten bedrohlich näher.
"HALT!", rief der Inspektor. "Selbst wenn ich ein Motiv hätte, müssten Sie mir erst nachweisen, wie ich die Tat vollbracht habe!"
Der Butler, die Madame und der Ungar sahen sich kurz an.
"WO WAREN SIE GESTERN ABEND ZWISCHEN 9 UND 11 UHR?"
Bevor der Inspektor etwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, klingelte es ein drittes Mal und die drei Ankläger wandten sich irritiert der Tür zu. Der Inspektor atmete auf.
Milton rann der Schweiß in dicken Perlen die Stirn herunter, als er sich mit seiner schweren Last beladen an dem Butler vorbeidrängte und die Stufen hinaufstieg, so schnell er eben konnte. Mit rasendem Puls und einem Anflug von Schwindel betrat er das Arbeitszimmer, lud den länglichen, schwarzen Sack von seinen Schultern und deutete atemlos darauf.
"Wie Sie gewünscht haben, Inspektor: Viktor von Due!"
Ein wenig fassungslos starrten die Anwesenden auf den schwarzen Leichensack, der nun mitten im Zimmer lag. Nur der Inspektor schien wenig geschockt von der Präsenz des Verstorbenen, grinste über beide Ohren und rieb sich siegessicher die Hände.
"Endlich einmal das richtige Tempo, Milton", meinte er. "Also dann, die Stunde der Wahrheit. Denken Sie an das, was ich vorhin sagte: Wenn wir herausfinden, wie er gestorben ist, werden wir auch wissen, wer der Täter war. Milton!"
Auf den Wink des Inspektors hin beugte sich der junge Mann hinab und griff zum Reißverschluss. Die anderen beugten sich langsam vor, als er ihn geschwind der gesamten Länge nach aufzog. Kopf, Bauch und Beine wurden sichtbar, doch sie wiesen keinerlei Spuren auf. Als Milton die Unterschenkel freilegte, wurde ihm kurz mulmig, doch erst als er die Füße aufdeckte ... fielen der Butler, die Madame, der Ungar und der Inspektor der Reihe nach um.
Die Sonne stand nicht mehr so hoch über den Dächern der Stadt, doch mittlerweile hatte sie den Kampf gegen die Regenwolken gewonnen. Der graue Himmel von Braunschweig hatte sich in einen strahlend blauen solchen verwandelt und die Luft war nach dem reinigenden Regen frisch und klar.
Im Haus des Viktor von Due lagen sechs Gestalten, von denen sich zwei noch regten. Eine hielt sich die Hand an die Kehle, kämpfte verzweifelt gegen die Todeszuckungen an und brachte es mit einer unglaublichen Willensanstrengung zustande, einige wenige, röchelnde Laute zu artikulieren: "Milton, machen sie das Fenster auf! Von Due hatte Käsefüße! Milton, das Fenster!"
Seine Hand griff verzweifelt in die Luft. Seine Sinne schwanden. Er hörte ein verzweifeltes Kratzen am Fensterrahmen, dann eine Stimme: "Es klemmt."
Der Inspektor brach zusammen.
20. Mar. 2011 - Robert Heracles
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