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Der rote Drache
von Fabienne Siegmund

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
„Du musst aufpassen“, hatte die alte Li geflüstert, wenn er wieder einmal zu spät in der Nacht nach Hause geschlichen war.
Sie hatte ihn immer gehört, wie leise seine Schritte auch immer gewesen sein mochten.
Ihm zugeflüstert, dass er aufpassen müsste. Und dass es ihm oblag, den Roten Drachen zu rufen, wenn der Himmel brennen würde.
Er wusste nicht, was sie damit meinte, und so rannte er nur achselzuckend an ihr vorbei und legte sich auf seine Reismatte, darauf hoffend, weiterzuträumen.
Aber oft waren die Worte der alten Li zu stark.
Sie vertrieben den Schlaf und die Träume, und er verfluchte sie.
Weil sie ihn nie in Ruhe lassen konnte.
Nie fragte er, was sie ihm mit den Worten sagen wollte.
Brennender Himmel.
Roter Drache.
Pah. Alte Märchen, an die nur noch die Alten glaubten.
So wie Li, die ihn auch diese Nacht wieder ermahnte.
„Du musst aufpassen, Jin, aufpassen. Wenn der Himmel brennt, musst du den Roten Drachen rufen. Den Gong musst du schlagen, wo die Tempel in feuerrote Schatten fliehen.“
Er knurrte etwas Unverständliches, wollte die Worte nicht hören, die ihn aus seinen Träumen rissen, die er in den Reisfeldern fand.
Träume, die die dunklen Gedanken vertrieben.
Es war nicht leicht, ein Kind in den Feldern zu sein, das zu niemandem gehörte.
Eltern waren rar in diesen Tagen.
Die Mütter bauten Waffen aus Feuer und Metall.
Die Väter fochten einen Kampf aus, dessen Gründe sie nicht begriffen.
Nur die Alten waren im Dorf geblieben, um die Kinder zu hüten.
Den Reis zu ernten, und was es sonst so gab.
Gebete zu sprechen, zu Schutzgeistern, an die nur noch sie glaubten.
Jin lebte nun im Dorfhaus, so wie alle.
„Es ist leichter eine Tür zu bewachen, als viele.“
So hatten die Alten gesprochen, und die Kinder gehorcht.
Jin hätte lieber im Haus geschlafen. Dort hatte ihm niemand mit Worten seine Träume gestohlen.
Brennender Himmel.
Roter Drache.
Jin schüttelte den Kopf.
Vielleicht sollte er einfach auf den Reisfeldern bleiben.
Wo die Träume wuchsen, Korn für Korn.
Li und die anderen wussten davon nichts.
Und Jin wusste nichts von deren Sorgen.
Doch als er auf seiner Reismatte lag, die Augen geschlossen, darauf hoffend, dass der Schlaf kommen würde, hörte er ihre Stimmen.
Li war es, und andere.
„Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie sie hier sind.“
Jin wusste, dass sie von Soldaten sprachen, von fremden Soldaten, die nichts als Leid, Schmerz und Tod mit sich brachten.
„Die Geister allein können uns nicht schützen“, eine andere, tiefe Stimme.
Vielleicht Jao, vielleicht jemand anderes.
„Der Rote Drache wird erweckt werden“, versetzte Li.
„Du hast viel Vertrauen in den Jungen“, warf eine dritte Stimme ein, die Jin nicht zuordnen konnte.
„Er wird es schaffen“, entgegnete Li.
„Er ist ein Träumer“, die Stimme, die so tief war wie die Jaos, klang abfällig.
„Gerade deswegen“, sagte Li.
„Er kennt den Weg nicht.“ Wieder die dritte Stimme.
„Die Geister werden ihn führen.“
„Wie sollen ihn Geister führen, an die er nicht glaubt?“, fragte Jao missbilligend.
„Wenn der Himmel brennt, wird er ihnen glauben“, erwiderte Li bestimmt.
Die Stimmen schwiegen.
Und Jin, der wusste, dass sie über ihn geredet hatte, schlief ein, obwohl er es diesmal nicht wollte.

Mit dem Schlaf kamen die Träume.
Voll von Feuer und Rauch und Schreien waren sie.
Er sah seine Mutter, die Hände vors Gesicht gepresst.
Sein Vater lag irgendwo, wo weder sie noch er sein konnten.
Und überall war Lärm, schrecklicher Lärm.
Jin wollte aufwachen, aber der Traum ließ ihn nicht los, er floss weiter, und mit einem Male lief Jin einen Weg entlang, vorbei an menschenverlassenen Dörfern und leeren Feldern, zum Tempel auf den Berg hinauf.
Er sah niemanden, doch noch ehe er den Tempel erreichte, tauchte ein Drache davor auf.
Schlängelte sich durch die Luft, lang und rot und schuppig, mit Dornenflügeln und scharfen Fängen.
In der nächsten Sekunde erwachte Jin mit einem Keuchen.
Es wurde schon wieder hell.
Die anderen, zum Teil schon auf den Beinen, sahen ihn verwundert an.
Wortlos stand Jin auf und machte sich bereit, wie die anderen.
Aber als er an der Tür vorbeikam, an der Li saß und ihm ein Lächeln schenkte, fauchte er: „Lass mich in Ruhe.“
Dann lief er einfach weiter.
Er sah nicht, wie das Lächeln auf den Lippen der alten Li verblasste und Tränen ihre Augen füllten, und er hörte nicht, wie sie flüsterte: „Wenn ich das tue, sind wir verloren. Dann werden sie uns die Donnervögel vernichten. Sie kommen schon näher, sie, und der Tod.“
Jin aber lief zum Reisfeld und arbeitete, und wie immer fand er im Reis die Geschichten, die vor seinen Augen zu lebendigen Bilden wurden.
Er dachte nicht mehr an seinen sonderbaren Traum aus der Nacht und vergaß sogar die Worte der alten Li.
Bis der Abend kam und die Kinder zurückliefen.
Für gewöhnlich blieb er noch etwas dort und genoss die Stille.
Doch an diesem Tag gab es keine Stille.
Aus der Ferne erklang unheilvolles Donnern, und Jin meinte, der Wind würde den Duft von Feuer zu ihm tragen, vermischt mit dem Klang von flehenden Schreien.
Doch als er sich umsah, waren da nur die Felder, von Wegen durchzogen, und dahinter die Berge, an deren Hänge sich die Tempel schmiegten.
Eine Grille zirpte.
Sie saß direkt vor ihm, und ihm war, als würde sie ihn anstarren.
Erschrocken sprang Jin auf und rannte ins Dorf.
Auch in dieser Nacht träumte er von dem Tempel, dem Weg und dem roten Drachen, und alles vermischte sich mit dem Lied einer einsamen Grille.

Als er aufwachte, sah er im fahlen Licht des Mondes, dass da eine Grille war. Direkt neben ihm, und wie auf dem Reisfeld sah sie ihn an.
Er wusste, dass es die selbe war.
„Was willst du?“, flüsterte er, denn er wollte nicht, dass ein anderes Kind mitbekam, wie er mit einer Grille redete.
Diese zirpte leise, und natürlich verstand Jin sie nicht.
In der Ferne hörte er jenes schreckliche Donnern, das schon am Tag dagewesen war.
Nur lauter.
Näher.
Eine Hand berührte ihn an der Schulter.
Jin fuhr herum und sah in das runzlige Gesicht des alten Jao.
„Du musst aufbrechen“, flüsterte der Alte und bedeutete ihm, zu folgen.
Jin wollte Fragen stellen, aber Jao schüttelte den Kopf.
Draußen standen auch Li und Tamoha.
Jin begriff, dass Tamoha die dritte Stimme gewesen war.
Sie sah angespannt aus, wie Tao. Nur Li lächelte ihn an. Die Grille landete auf ihrer Hand.
Zirpte.
„Bist du bereit, Jin?“, fragte Li.
„Bereit wofür?“
„Den roten Drachen zu wecken. Damit er uns beschützt.“
„Wovor?“, flüsterte er.
„Vor den Donnervögeln.“
Das war das Wort, was Li benutzte. Die anderen nannten sie Flugzeuge.
„Hier gibt es keine Flugzeuge“, sagte er, und dachte dabei: Und wenn, könnte kein Drache der Welt uns beschützen.
Jao spitzte unwillig die Lippen. „Er wird den Drachen nicht wecken können. Er glaubt nicht einmal an ihn.“
Li schüttelte den Kopf. „Er wird es können. Er hat ihn gesehen. Nicht wahr, Jin, du hast ihn gesehen.“
Jin dachte an den Drachen aus seinen Träumen und nickte unwillig.
„Siehst du“, meinte Li. „Er weiß es. Er kennt den Weg, die Grille wird ihn führen. Und dann wird er den Gong schlagen, denn nur ein Junge, der im Reis Träume sieht, kann es.“
Die Worte ließen Jin schwindeln, weil er nie geglaubt hatte, dass Li und die anderen von seinen Träumen wussten.
Tao nickte. „So müssen wir sein Leben in seine Hände legen. Und die Flügel einer Grille.“
Li lächelte. „Die beiden werden ihren Weg gehen.“ Sie wandte sich wieder an Jin. „Folge der Grille. Eile dich. Der Weg zum Tempel ist weit, und die Donnervögel sind schnell.“
Wieder wollte Jin ihr sagen, dass es hier keine Flugzeuge gab, doch das Donnern in der Ferne, das näher und näher kam, verwandelten die ungesagten Worte in eine Lüge, und er schwieg. Mit einem Mal hoffte er, dass der rote Drache wirklich kommen würde, sie zu schützen. Sie, und die Soldaten, die für sie kämpften.
Er ließ zu, dass die Grille auf seine Hand sprang.
Das Tier fühlte sich seltsam unbeständig darauf an, so, als wäre sie dort und dann wieder nicht, obwohl sie sich nicht bewegte.
„Nun eile dich, Jin, eile dich“, wisperte Li, und Jao und Tamoha verbeugten sich leicht, als die Grille von seiner Hand sprang und zirpend vorauseilte. „Die Geister werden dich beschützen.“
Jin folgte ihr. Nicht, weil er wollte, sondern weil er musste.
Die ganze Nacht lief er.
Erst am Morgen hielt die Grille an und erlaubte ihm, auszuruhen. Sie führte ihn in ein Gebüsch und Jin rollte sich zusammen. Er hätte lieber auf dem Weg übernachtet, aber er spürte, dass die Grille ihn nicht ohne Grund dorthin geführt hatte.

Schritte weckten ihn.
Er schlug die Augen auf beobachtete, wie Männer in festen Stiefeln und Uniformen an ihm vorbeimarschierten. Soldaten.
Jin duckte sich tiefer unter das Geäst und selbst die Grille hielt in ihrem Zirpen inne, bis die Soldaten vorbeigezogen waren.
Dann rannte Jin weiter, der Grille hinterher.
Denn dort, wo Soldaten waren, waren auch Flugzeuge.
Und hier gab es nichts sonst außer dem Dorf, in das sie gehen könnten.
Tränen rannten ihm im gleichen Maße über die Wange, wie er lief. Sie ließen ihn fast blind werden, und das einzige, was ihn führte, war das zirpende Geräusch der Grille.
Sie leitete ihn an Feldern vorbei, nach links, nach rechts, und dann in Richtung der Berge.
Manchmal warnte sie ihn vor weiteren Soldaten und Jin versteckte sich, auch wenn es manchmal nicht einmal Feinde waren.
Einmal waren es Männer, die aus dem Dorf kamen. Er erkannte ihre Stimmen, aber er wagte nicht, sich zu zeigen. Sie sprachen von Toten.
Nannten Namen.
Viele kannte er.
Manche schmerzten ihn.
Einer tat furchtbar weh.
Das Zirpen der Grille versuchte ihn zu trösten, aber da gab es nichts, was ihn trösten konnte.
Sein Vater war tot.
Vielleicht von den Soldaten gemeuchelt, die ihm zuvor begegnet waren.
Am liebsten wäre er ihnen hinterhergerannt, aber was hätte er tun können?
Nichts.
Nicht gegen ausgewachsene Männer.
Er hatte eine Aufgabe.
Er musste den Roten Drachen wecken.
Deutlich sah er ihn jetzt, und plötzlich wusste er auch, dass der Drache Wirklichkeit werden würde.
Also lief er weiter und weiter und weiter, immer der Grille nach.
Bald erreichten sie den Berg.
Erneut war es Nacht geworden.
In der Ferne hallten Schritte, Rufe und Donner, und abermals trug der Wind Feuergeruch zu ihm.
Die Nacht aber blieb dunkel.
Die alte Li hatte gesagt, wenn der Himmel brenne, müsse er den Drachen rufen.
Aber wie konnte der Himmel brennen?
Müde schlief er über diesen Gedanken ein, bis der Morgen kam und ihn weckte.

Die Grille trieb ihn weiter, höher hinauf, bis zum Tempel.
Dort war niemand.
Kein Mönch kam ihm entgegen.
Er drehte sich um und sah ins Tal hinab. Irgendwo dort war sein Dorf, aber er konnte es nicht sehen, denn da waren überall Flugzeuge.
Mit fremdem Zeichen, wie auf den Uniformen der Soldaten mit den fremden Worten im Mund.
Das erste Flugzeug warf eine Bombe ab.
Dann folgten weitere, und der Himmel, bereits wieder in Nachtblau getaucht, leuchtete hell orange, gelb und rot, als würde er brennen.
Das Zirpen der Grille, im Getöse der Flieger kaum zu hören, riss ihn fort von dem Anblick.
Der Gong.
Er rannte in das Kloster.
Fand die Mönche, leblos lagen sie auf den Stufen und in Gängen.
Bald klebte Blut an seinen Füßen, aber er achtete nicht darauf, er dachte nur an den Gong, den er schlagen, den Drachen, den er wecken musste.
Der Drache würde die Donnervögel vertreiben.
Und die Soldaten.
Alle.
Jin fand den Gong.
Den Schläger.
Und schlug.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Viermal.
Und weiter und weiter und weiter. Dann wartete er.
Auf den Drachen aus seinen Träumen.
Über Jin zogen die Flugzeuge hinweg und ihre Bomben fielen.
Tempelmauern stürzten ein.
Und dann kam der Drache.
Mit einem Donnerknall, der die Erde beben ließ, erwachte er zum Leben.
Rot und heiß und gefräßig.
Und Jin jubelte, denn der Drache brachte weitere Artgenossen mit, und wie die Donnervögel der Feinde warfen auch sie mit Feuer und Bomben.
Solange, bis niemand mehr da war, der kämpfen konnte. So lange, bis niemand mehr weinen konnte.
Nicht einmal mehr Jin.

07. Aug. 2011 - Fabienne Siegmund

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