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Die Ma-Ma, die bellen konnte von Klaus-Peter Walter / K. Peter Walter
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Uns alle beschäftigen doch pausenlos
die ewigen Menschheitsfragen:
Wer bin ich? Woher komme ich?
Wohin werde ich gehen? Was kann ich erkennen?
Und wo ist eigentlich meine Mama?
Manchmal glaube ich, die Welt hat ihren Sinn verloren. Jedenfalls die Welt, die wir kennen. Oder die ich kenne. Wir, das sind mein anderer Kopf und ich. Ob mein anderer Kopf die Welt kennt, weiß ich nicht. Weiß und kahl wächst er genau neben mir aus meiner Schulter, ein wenig seitwärts nach hinten links versetzt. Es ist ein Wasserkopf, viel größer als mein Kopf. Manchmal nickt er weise. Was er denkt, weiß ich nicht. Aus halbgeschlossenen Lidern schaut er verträumt durch das Glas nach draußen. Vielleicht träumt er wirklich. Vielleicht auch nicht. Aber ich glaube, mein anderer Kopf ist einfach blöd.
Wir schwimmen in einem Glas voll ätzender Flüssigkeit, leicht und schwerelos. Wir können nicht raus. Durch die konkave Wand schauen wir die Welt an. Es ist eine sehr kleine Welt, und es ist ganz still in ihr, man kann kaum hören, was draußen los ist. Die große Welt draußen verändert sich nie. Fast nie. Außer, dass es in gleichmäßigen Abständen dunkel und wieder hell wird.
Ich weiß nicht mehr, wie mein anderer Kopf heißt. Vielleicht wusste ich es auch nie. Ich weiß aber auch nicht, wie ich heiße. Vielleicht habe ich nie geheißen. Oder geheißt. Oder gehissen.
Schwimmen in einer bräunlich-trüben Erinnerung. In der Erinnerung an damals, als wir noch nicht an diesem dunklen Ort waren, sondern an einem hellen. Draußen. Dort. Damals. Ai-Fel sagten die Leute immer zu diesem Ort. Hierher kommt nur sehr selten ein Mensch. Sie haben uns vergessen. So wie ich vieles vergessen habe, was ich früher noch wusste. Wörter. Namen. Wo wir hier sind. Eigentlich alles. Manchmal weiß ich sogar das nicht mehr, was ich eben noch genau wusste. Es ist dann einfach weg.
Von unserem Platz aus kann ich eine Schrifttafel erkennen, sie lehnt hochkant neben der Tür.
DEU SC ES FI IM USEU I ERLIN
Keine Ahnung, was das bedeutet. Vielleicht bezeichnet es den Ort, an dem wir uns befinden.
Irgendwann waren wir noch nicht hier. So viel steht fest. Damals gab es eine Frau. Das war unsere Frau. Ja, wir hatten eine Frau! Wir nannten sie Ma-Ma. Ich nannte sie so. Der Wasserkopf nannte sie nicht. Aber er saugte an ihrer einen nackten Brust. Ich saugte an ihrer anderen. Das tat gut. Ich weiß es noch.
Ich habe zwei Beine und zwei Arme, aber mir gehorchte damals nur der linke. Der rechte gehorchte meinem anderen Kopf. Und der fasste mir immer an mein Stückchen Fleisch. Als wüsste er, was man damit macht. Als wollte er etwas damit machen. Aber er wusste nicht, was. Er griff einfach danach, und das tat weh. Schmerz. Mein anderer Kopf war schon damals blöd.
Ma-Ma gab uns schon lange nicht mehr ihre nackte Brust und sie hatte schon ein paar Mal Burx-Taak mit uns gespielt und uns ganz viel geküsst und uns Spielsachen hingestellt. Wir konnten schon laufen, fielen aber immer wieder um, da geschah etwas. Ich weiß noch, dass es so wehtat, ich einschlief und erst hier, in unserer kleinen Welt, wieder aufwachte. Unsere Ma-Ma war nicht mitgekommen. Vielleicht hatte sie uns nicht mehr lieb, ich weiß nicht. Vielleicht waren wir auch unartig gewesen. Jedenfalls haben wir sie nie wiedergesehen. Bestimmt hat sie uns längst vergessen.
Der alte Mann im schwarzen Gewand war böse. Immer wenn er uns sah, fuchtelte er mit den Armen, erst nach links und rechts und dann von oben nach unten und bellte etwas vom Tai-Fel. Vielleicht hat das etwas mit Ai-Fel zu tun. Ich weiß es nicht. Manchmal bellte er auch etwas vom Sa-Tang.
Ma-Ma hat immer gesagt, wir würden später einmal zu jemandem kommen, der Gott hieße und uns lieb hätte und immer bei uns bliebe. Das stimmt aber nicht. Es gibt viele, bei denen wir schon waren, aber ob die alle Gott hießen? Der Erste war ein alter Mann, der hatte lange weiße Haare und lange Jacken und Hosen, die ganz eng um die Beine lagen. An den Schuhen waren Schnallen. Wir standen in einem Raum mit vielen Büchern und einem glänzenden Ding, in das er oft hineinguckte. Dann schrieb er viel auf. Dieser Gott war sicher ein sehr kluger Mann.
Später kamen wir zu einem anderen, der vielleicht Gott hieß, kurze Haare hatte, eine kürzere Jacke mit spitzen, nach oben weisenden Krägen und weite Hosen bis auf die Schuhe. Und einen riesigen Bart und eine kleine runde Brille ohne Bügel auf der Nase. Was der machte, weiß ich nicht.
Dann, in der Zeit, als es draußen immer donnerte und die Erde bebte, waren wir noch woanders. Damals kamen immer Männer in Stiefeln, die alle gleich aussahen und SS hießen und die nicht redeten, sondern bellten. Aber sie wollten nichts von uns.
Da, wo wir jetzt sind, ist alles quer unterteilt, und auf die Querunterteilungen stellen Menschen Sachen. Immer mehr Sachen. Die Sachen rücken immer enger aufeinander zu. Ich glaube, es sind Sachen, die die Menschen nicht mehr gebrauchen können. Oder die kaputt sind. Wenn ich mich zum Beispiel vorsichtig drehe, kann ich da hinten in der Ecke einen kleinen Baum liegen sehen, den niemand mehr braucht. Viele bunte Sachen hängen daran, kleine Ma-Mas mit Flügeln, Bal-Las und Licht. Wainax-Baum sagte ich, glaube ich, damals, bevor ich hierherkam. Ich verstand damals schon mehr, als ich ausdrücken konnte.
Da, wo wir jetzt sind, erschien früher ab und an ein Mann in einem langen grauen Mantel, der hatte gar keine Haare mehr auf dem Kopf und brachte manchmal eine Ma-Ma mit. Er holte sein Stückchen Fleisch aus der Hose und schob es unter ihren Kittel. Manchmal hielt sie ihm auch ihre Brust hin und er saugte daran. Oder biss hinein. Die Ma-Ma stöhnte. Und schrie. Mit geschlossenen Augen. Deshalb sah sie auch nicht, wie ich zu winken versuchte. Mein zweiter Kopf wurde dann immer wach und regte sich furchtbar auf. Wahrscheinlich tat der Mann der Ma-Ma weh und sie hatte Angst. Jetzt kommt die Ma-Ma nicht mehr. Wahrscheinlich hat ihr der Mann zu viel wehgetan und sie zuviel Angst bekommen. Angst. Vielleicht hat unsere Ma-Ma auch Angst und kommt deshalb nicht mehr, wer weiß?
Mir gegenüber auf einer der Unterteilungen, ich glaube, der Mann nennt sie Ra-Ga-Le oder so ähnlich, steht ein Kopf, genauso weiß wie mein anderer Kopf, aber nicht so dick, und ohne Arme. Überhaupt ganz ohne Körper und auch nicht in einem Glas. Er steht auf einem Holzsockel, auf dem I. KANT steht. Vielleicht heißt er so. I. KANT grinst dumm und sagt nichts. Wahrscheinlich ist er auch blöd.
Einmal haben sie ihn geholt, den I. KANT. Der Mann, der ihn holte, sagte etwas von Welt. So-Fis-Welt. Vielleicht haben sie ihn dort gebraucht, keine Ahnung. Aber bald war er wieder da. Sie haben ihn wohl doch nicht so sehr gebraucht.
Dann hat jemand I. KANT einen roten Strumpf mit einem weißen Dings an der Spitze aufgesetzt. Jetzt sah I. KANT noch blöder aus, aber manchmal musste ich lachen, wenn ich ihn ansah.
Neben I. KANT steht etwas Großes, Furchtbares. Es ist sicher aus Holz gemacht und sieht aus wie das Tier, vor dem wir immer so große Angst hatten, aber es geht nicht auf vier Beinen, sondern auf zweien, wie ein Mensch. Der Kopf ist vorn ganz lang, mit großen Zähnen. Wahrscheinlich zum Beißen. Wahrscheinlich soll es ein Wau-Wau-Tier sein. Eins, das bellt. Ein Hump? Oder hieß es Hunk? Das hier nennen sie Sau-Ri oder Go-Xil-La.
Irgendwann haben sie uns auch einmal geholt, in eine große, helle Welt. Jemand sagte, wir würden in einem Fimm mitspielen. Ich habe aber keinen Fimm gesehen, und gespielt hat auch niemand mit uns. Wir standen wieder bloß auf einem Ra-Ga-La herum, neben vielen anderen, die genauso aussahen wie wir. Zwei Köpfe hatte aber nur ich. Durch das Glas konnte ich sehen und hören, wie ein Zwerg auf einem bunten Blechtopf trommelte und schrie. Oss-Kaa-Wint-Licht oder so ähnlich. Und dann haben sie die anderen Gläser kaputtgemacht. Die Gläser zerbrachen, und was drin war, fiel auf den Boden und war kaputt. Uns haben sie nicht kaputtgemacht. Vielleicht, weil ich zwei Köpfe habe. Dann kamen wir wieder hierhin, wo wir jetzt sind, und hier sind wir bis heute geblieben.
Vor einiger Zeit hat sich etwas verändert. Männer in blauen Anzügen brachten an der Wand gegenüber etwas an, an das gelbe Mäntel gehängt wurden. Immer wieder kommen jetzt Ma-Mas, die ziehen ihre Kleider aus und die gelben Mäntel an. Dann verlassen sie unsere Welt mit Handschuhen und Kopftüchern. Wenn es draußen dunkel wird, kommen sie wieder, ziehen ihre Mäntel aus und ihre anderen Kleider wieder an und gehen weg. Manchmal kommen sie auch zwischendrin und machen sich Feuer im Gesicht, dass es richtig qualmt. Aber sie haben keine Angst vor dem Feuer. Ich glaube, es macht ihnen Freude.
Eine Ma-Ma kam einmal und betrachtete uns. Sie hatte Angst, das sah ich an ihren Augen, aber nur ein bisschen. Dann holte sie einen Lappen aus ihrem gelben Mantel, machte ihn aus einer Flasche nass und wischte alles, was aus Glas war, ab. Uns auch.
Einmal kam der Mann ohne Haare, nahm I. KANT den roten Strumpf ab und setzte ihn sich selber auf. Aus einem Sack holte er einen roten Anzug mit weißem Fell daran. Er zog sich nicht aus wie die Ma-Mas, sondern zog den roten Anzug über seine anderen Kleider. Ins Gesicht hängte er sich einen Bart aus weißen Haaren. Dann nahm er den Sack und ging wieder.
Es war schon fast dunkel, bis er zurückkam. Er war ganz außer Atem, stellte den Sack auf den Boden, holte viel Papier heraus und lachte. Solches Papier, das den Menschen Freude macht. Sie kriegen Feuer fürs Gesicht dafür und andere Sachen.
Plötzlich kam eine Ma-Ma herein. Der Mann mit dem roten Anzug und dem Bart aus falschem weißen Haar im Gesicht erschrak und wollte das Papier, das Freude macht, verstecken, aber die Ma-Ma hatte es schon gesehen. Da bellten die beiden miteinander. Ich glaube, die Ma-Ma wollte von dem Papier haben, das Freude macht, aber der Mann wollte es ihr nicht geben. Er schlug die Ma-Ma. Sie wollte zur Tür hinauslaufen, aber der Mann ließ sie nicht. Ich konnte nicht richtig sehen, was geschah, weil mein blöder zweiter Kopf im Weg war und vor Aufregung dauernd wackelte. Aber dann fiel die Ma-Ma hin und blieb liegen. Vielleicht war sie eingeschlafen, so wie wir oft schlafen, wenn von draußen kein Licht hereinfällt und es nichts mehr zu sehen ist.
Es wurde draußen ganz dunkel, dann wieder hell, aber die Ma-Ma schlief immer noch, aber der Mann kam nicht wieder, um sie aufzuwecken. Er hatte das Papier, das Freude bringt, in den Sack gesteckt und war weggegangen.
Als es wieder dunkel wurde, kam eine kleine Ma-Ma, fand die große Ma-Ma, die schlief, und schrie und weinte und schrie. Alles gleichzeitig. Nach ihr kamen Männer, die alle verschieden aussahen, und noch eine Ma-Ma, die ganz, ganz wichtig war. Die Ma-Ma bellte genau wie die Männer, die alle gleich aussahen, damals, als die Erde immer so bebte. Die Männer versuchten, die schlafende Ma-Ma aufzuwecken, aber sie wachte nicht mehr auf. Da bellte die Ma-Ma, die wichtig war, und die Männer trugen die schlafende Ma-Ma hinaus. Eigentlich hätten sie sie auch bei uns lassen können. Hier sind nur Sachen, die niemand mehr braucht oder die kaputt sind. Vielleicht kommt sie jetzt auch in eine so kleine Welt voll trüber Flüssigkeit wie wir? Oder in So-Fis-Welt? Oder zu einem Gott?
Die Ma-Ma, die bellen konnte und ganz, ganz wichtig war, stellte sich vor unser Glas und schaute zu uns hinauf. Da geschah etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte. Mein zweiter Kopf erwachte plötzlich und regte sich fürchterlich auf. Sein Mund versuchte, Wörter zu formen. Er stieß etwas hervor, das wie Mer-Der klang. Mer-Der, wiederholte er. Und dann rief er Wainax-Mang, Wainax-Mang Mer-Der. Aber die Ma-Ma, die so wichtig war, hörte es nicht. Oder wenn sie es gehört hätte, hätte sie es sicher nicht verstanden. Schließlich war mein zweiter Kopf schon immer viel zu blöd, um richtig zu sprechen. Sie schüttelte ihren Kopf und ging hinaus. Wo unsere Ma-Ma wohl sein mag?
20. Dez. 2011 - Klaus-Peter Walter / K. Peter Walter
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