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Der Rabenprinz von Ruth M. Fuchs
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Mutprobe so ein Blödsinn! Eigentlich waren er und seine Freunde doch längst aus dem Alter für so kindische Spielchen raus. Aber gestern, bei einer feuchtfröhlichen Feier, war irgendwie das Thema aufgekommen und er, angeheitert wie er war, hatte eine große Lippe riskiert. Das hatte er nun davon inzwischen waren sie alle wieder nüchtern, aber seine Kumpanen stichelten trotzdem, er würde sich nicht trauen und jetzt einen Rückzieher machen.
Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen!
Dabei störte ihn gar nicht so sehr, dass er eine Nacht auf dem Friedhof verbringen sollte. Er glaubte nicht an Geister. Aber ein Nacht lang im Freien, ohne Bett, noch nicht mal ein Schlafsack, auch kein Feuer, kein Fernsehen. Und obwohl der Mond schien, war es doch nicht hell genug zum Lesen. Das war nun wirklich hart! Vor ihm lagen Stunden der Langeweile und obendrein war es verdammt unbequem auf so einem Grabstein. Aber weiter hinten, erinnerte er sich plötzlich, da stand eine Bank. Vielleicht konnte er sich darauf ausstrecken und ein Nickerchen machen. Denn es war klar, dass er irgendwie bis zum Morgengrauen auf dem Friedhof ausharren musste der Spott der anderen würde ihn sonst noch in Jahren verfolgen.
René strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. Dann trabte er los, bog bei dem Mausoleum aus braunem und grauem Marmor um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihm stand das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.
Das gibts nicht!, entfuhr es ihm.
Sie war eine Schönheit mit blondem Haar und einer perfekten Figur, die von einem weißen Satinkleid umschmeichelt wurde. Von ihren Schultern fiel ein bunter Umhang, dessen Muster René an Schmetterlingsflügel erinnerte. Das lange Kleid und ihr kunstvoll hochgestecktes Haar legte die Vermutung nahe, dass sie zu einer Abendgesellschaft gehörte. Was aber machte sie dann hier?
Die Schöne legte den Kopf schief und betrachtete René mit ernster Miene. Sie sagte kein Wort.
Auch René war stumm. Ihm fiel einfach nichts ein. Aber irgendetwas musste er sagen, wenn er nicht wollte, dass sie sich umdrehte und ihn einfach stehen ließ.
Doch alles, was ihm einfiel war: Bist du öfter hier?
Kaum hatte er das ausgesprochen, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Bist du öfter hier war so banal und wohl kaum das Richtige, wenn man sich auf einem Friedhof traf. Wahrscheinlich hatte sie sich einfach verlaufen.
Aber René hätte sich keine Gedanken machen müssen. Das Mädchen schien die Frage nicht seltsam zu finden. Vielmehr ging sie gar nicht darauf ein.
Ich suche etwas, sagte sie nur.
Ein Rabe flog an ihnen vorbei und setzte sich nicht weit entfernt auf den Boden. René war sich sicher, dass es ein Rabe und keine Krähe war, trotz der Dunkelheit. Er hatte gerade für diese Vögel eine besondere Vorliebe und alles über sie gelesen und gegoogelt, was er finden konnte. Dieser Vogel war eindeutig ein Rabe. Dabei gab es in dieser Gegend seines Wissens gar keine Population dieser Gattung. Seltsam.
Energisch rief sich René wieder zur Ordnung. Er stand hier vor dem schönsten Mädchen der Welt und dachte über Raben nach. Wie bescheuert war das denn!
Was suchst du denn? Er wandte sich wieder an die Schöne.
Meinen Liebsten. Sie zuckte die Achseln. Aber ich kann ihn nicht finden.
Oh, René schluckte enttäuscht. Ist er gestorben und du kannst sein Grab nicht finden?
Die blonde Schönheit warf ihm einen empörten Blick zu. Natürlich nicht, sie schüttelte den Kopf. Er ist nur verschwunden! Sie unterstrich die Feststellung mit einer Handbewegung und streifte damit fast einen Raben, der gerade von einem Baum herabflatterte.
Hat man ihn entführt?, wollte René wissen, der das nun wieder ziemlich spannend fand. Vielleicht hab ich was gesehen, das dir weiterhilft. Wie sieht er denn aus?
Ich weiß es nicht.
Du weißt es nicht? Der junge Mann fragte sich, ob seine Gesprächspartnerin vielleicht ein bisschen verwirrt im Kopf war, während er einen weiteren Raben beobachtete, der neben dem dritten landete. Aber verwirrt oder nicht, sie war wunderschön und irgendetwas zog ihn magisch zu ihr hin.
Wir wurden einander versprochen, als wir noch Kinder in der Wiege waren, erzählte das Mädchen. Kurz darauf wurde er vom größten Feind unserer beiden Familien verschleppt und wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört.
Na ja, das ist ja sicher schon eine Weile her, oder? René lachte. Da kann doch alles Mögliche mit ihm passiert sein! Wer weiß, ob er sich überhaupt noch an dich erinnert, wenn er überhaupt noch lebt.
Etwas verdunkelte kurz der Mond. Zwei Raben kamen herangeflogen. Das blonde Mädchen setzte sich ins Gras neben einen Grabstein und René nach kurzem Zögern neben sie.
Vielleicht solltest du den Kerl einfach vergessen, schlug er vor und nahm vorsichtig ihre Hand. Wie heißt du überhaupt?
Sarah. Aber wie kann ich ihn vergessen? Er ist doch mein Verlobter!
Aber das ist doch schon Ewigkeiten her! Und ihr ward noch Babys. Vielleicht würdest du den Kerl ja widerlich finden, wenn du ihn jetzt triffst. Überhaupt, wer macht denn so was ... kleine Kinder miteinander verloben ...
Hinter Renés Rücken landete ein Rabenvogel.
Oh, es war notwendig, beeilte sich Sarah, alles zu erklären. es gibt da eine Prophezeiung ...
Na hör mal, du wirst doch wohl nicht abergläubisch sein, staunte René, während ein weiterer der schwarzen Vögel an ihm vorbeiflog und dann noch einer und noch einer.
Sarah wich mit einem Ausdruck des Entsetzens zurück.
Mist, dachte René erschrocken, das war zu heftig. Sie scheint das ganze Zeug tatsächlich zu glauben. Er musste zusehen, dass er noch irgendwie die Kurve kriegte.
Wie auch immer ohne diese Prophezeiung hätte ich dich ja nie getroffen! Er drückte ihre Hand und lächelte aufmunternd. Wie wäre es, wir könnten uns ja mal treffen und ins Kino gehen. Oder was trinken. Oder tanzen!
Nein, ich kann nicht. Sarah schüttelte den Kopf. Ich lebe auch nicht hier. Nur bei Vollmond komme ich in diese Welt und warte, dass sich die Prophezeiung erfüllt.
Wieso? Was sagt denn diese Prophezeiung?
Dass ich in einer Vollmondnacht in dieser Welt meinen Liebsten wiederfinden werde.
Na ja, das ist natürlich möglich! René lachte auf und rückte ein wenig näher an Sarah heran. Vielleicht hast du ihn ja schon getroffen. Vielleicht bin ich es ja! Sanft legte er den Arm um die Schöne an seiner Seite. Vielleicht hat uns das Schicksal zusammengeführt, flüsterte er in ihr Haar.
Er fühlte sich plötzlich seltsam erregt. Der Duft, der von Sarah ausging, stieg ihm zu Kopf.
Sarahs Körper fühlte sich warm an durch den dünnen Stoff ihres Kleides und der tiefe Ausschnitt bot einen Blick auf ihre perfekte Rundungen. Der Puls des jungen Mannes beschleunigte sich und er fühlte ein überwältigendes Verlangen nach dieser Frau, die da so verführerisch nahe bei ihm saß.
Heute Nacht werde ich dein Geliebter sein, murmelte er, als er sich zu ihr beugte und einen Kuss auf ihr Ohr hauchte.
Nein! Sarah versuchte, ihn wegzustoßen. So ist das nicht gemeint. Da bin ich sicher!
René ließ sich jedoch nicht beirren und legte nun auch noch den anderen Arm um die sich sträubende junge Frau.
Sei doch nicht so, redete er auf sie ein. Schau, es ist eine herrliche Nacht. Und wir sind allein ...
Nein! Sarah versuchte, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Lass mich los!
Du bist wunderschön, flüsterte René. Er fühlte sich wie berauscht und seine Erregung wuchs. Ich wäre ein Idiot, wenn ich dich gehen lassen würde. Komm schon, du willst es doch auch!
Aber Sarah nahm all ihre Kraft zusammen, machte sich von ihm los und sprang auf.
Wie aus dem Nichts traf René ein plötzlicher kalter Windstoß.
Was zum Teufel ..., benommen schüttelte er den Kopf. Schon gut, verzeih mir ...
Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er beinahe getan hätte.
Ich weiß nicht, was los war. Noch etwas konfus im Kopf kämpfte er sich auf die Beine.
Es tut mir so leid ... das ist sonst gar nicht meine Art. Verlegen steckte er die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. Tief beschämt blickte er zu Sarah, die immer noch ein paar Schritte von ihm entfernt stand. Sie erwiderte zornig seinen Blick.
Bitte ... René hob entschuldigend die Hände und machte einen Schritt auf Sarah zu.
Da fielen plötzlich die Raben über ihn her.
Ihr Ansturm warf ihn zu Boden. Er schlug um sich, versuchte, sie abzuwehren, öffnete den Mund um nach Hilfe zu rufen. Doch die schiere Masse der Vögel drückte ihn nieder, Federn erstickten seine Schreie. Überall waren Schnäbel, die auf ihn einhackten, Krallen, die seine Haut aufrissen, schwarze Federn, warme schwankende Vogelleiber. Er bekam keine Luft mehr, der Schmerz wurde übermächtig.
Die blonde Schöne aber stand daneben, und betrachtete interessiert die brodelnde Masse, in die sich der Boden verwandelt zu haben schien. Kurz tauchte noch eine Hand zwischen den schwarzen Wogen auf, streckte sich hilfesuchend nach ihr. Dann versank sie wieder und schließlich lag alles still da. Die Raben hüpften wie auf ein geheimes Kommando nach allen Seiten von dem Körper des jungen Mannes. Und dieser erhob sich taumelnd.
Kein Kratzer, nicht ein Tropfen Blut noch nicht einmal ein blauer Fleck waren zu sehen. Die Haut war makellos, die Gestalt leuchtend schön René stand da, mit bloßem Oberkörper, das schwarze Haar schimmernd, als trüge er Sterne darin. Und aus seinem Rücken wuchsen nun zwei riesige, schwarze Schwingen.
Sarahs Augen wurden groß, als sie ihn sah. Dann verklärte sich ihr Gesicht vor seliger Freude so glücklich, dass sich der Mond beschämt von dem Glanz, der seinen eigenen so überstrahlte, hinter einer Wolke verbarg.
Prinz!, rief die Schöne und klatschte vor Freude in die Hände. Ich wusste nicht, dass du es bist!
René hatte es auch nicht gewusst. Aber es fühlte sich richtig an. Und nach und nach kam die Erinnerung zurück von einem weißen Schloss, verborgen tief in einer Schlucht, zwischen schwarzen Felsen. Von anderen Menschen seinen wahren Eltern, die ihn geliebt hatten. Von einem Wesen mit roter Haut und ledrigen Schwingen, das ihn gepackt und mit sich davongetragen hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Von einer Zeit in Einsamkeit und Kälte, nur in der Gesellschaft dieses roten Scheusals. Von Schmähworten und Abscheu und einem Trank, der ihm eingeflößt wurde und der ihm nach und nach jede seiner so teuren Erinnerungen nahm. Und dann von einer neuen Familie, in der er nicht geliebt, sondern nur geduldet wurde.
Alles war ihm nun wieder bewusst: Er war René, der Rabenprinz.
Ein Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus. Freundlich nickte er den Vögeln zu, die sich um ihn versammelt hatten, ihn aufmerksam ansahen und nun aufgeregt mit den Flügeln schlugen und heiser krächzten.
Danke, meine lieben Freunde, sagte er warm. Ohne euch hätte ich es wohl nie geschafft.
Dann trat er zu Sarah: Meine Liebste, meine Braut, meine Retterin, zärtlich küsste er ihre Hände und sah ihr tief in die Augen. Die Zeit schien still zu stehen, nichts regte sich, bis Sarah sittsam den Blick senkte.
Lass uns heimkehren. Er lachte, nahm sie in die Arme und küsste sie. Es wird Zeit, dass deine Treue belohnt wird.
Sarah schmiegte sich kurz an ihn, dann trat sie einen Schritt zurück und breitete ihren Umhang aus, der zu einem Paar wunderbarer, riesiger Schmetterlingsflügel wurde.
Hand in Hand schwang sich das Paar in die Lüfte und flog, begleitet von einem gewaltigen Schwarm Raben, in seine Welt zurück.
10. Mar. 2012 - Ruth M. Fuchs
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