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Der Obolus von Susanna Montua
Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Die ganze Gegend rings um den Friedhof hatte an Anmut und Eleganz verloren.
Sie hinterließ den Eindruck, als würde über der Welt ein trister, grauer Schleier liegen. Kein Vogel zwitscherte, keine Grille zirpte. Nicht einmal der Wind pfiff eine leise Melodie.
Und dennoch herrschte Aufruhr.
Vom Friedhof kommend, bahnten sich etliche Gestalten den Weg hinab zum Ufer des Styx. Einem Fluss, genauso tot, wie die ganze Gegend.
Sie liefen im Gleichschritt, die Häupter gesenkt, gehüllt in schlichte, aber hübsche Gewänder. Niemand sprach ein Wort, keiner sah vom Boden auf. Gesteuert durch eine fremde Macht, mit dem Ziel, das Ufer zu erreichen.
Helena folgte der Gruppe. Wehmütig blickte sie zurück zu den Menschen, die zu ihrem Abschied gekommen waren. Ihre Eltern standen in vorderster Reihe. Ihre Mutter weinte bitterliche Tränen, der Vater stützte sie.
Traurig blickte Helena über die Gruppe. Niemand schaute sich um. Die Welt der Toten hatte sie sich anders vorgestellt, träumte einstmals von schillernden Farben, von Freude und Gelächter. Doch hier herrschte Verbitterung, Wut und Ratlosigkeit.
Helena führte ihre Hand zu ihrem Mund und spuckte die Münze aus, welche man ihr unter die Zunge gelegt hatte. Der Obolus für Charon, den Fährmann, der sie sicher über den Styx geleiten sollte. Vielleicht würde es im Hades jene Welt geben, nach welcher sie sich sehnte.
Traurig legte sie die Münze zurück unter ihre Zunge. Der metallene Geschmack war fürchterlich.
Ihre kleinen Füße, geschützt von weißen Sandalen, trugen sie flink den schmalen Pfad zum Ufer hinab. Etwas abseits stand eine große Gruppe verlorener Seelen. Neidisch und zornig starrten diese zu den Neuankömmlingen herüber. Zwei Kinder verbargen sich vor ihren Blicke schützend hinter dem Kleid ihrer Mutter.
Helena hätte zu gern erfahren, was ihnen geschehen war, aber ihr Vater hatte ihr am Sterbebett erklärt, dass sie niemals den Mund aufmachen dürfe, bis Charon den Obolus in Empfang genommen hätte und sie sicher auf dem Schiff war. Also presste sie kräftig ihre Lippen aufeinander und stellte sich wortlos zu der Gruppe vom Friedhof.
Immerzu schielte sie aus dem Augenwinkel zu den anderen Seelen hinüber. Offenbar hatte keine von ihnen eine Münze bekommen, doch ohne Münze gab es keine Überfahrt. Das machte Helena traurig. Unzählige Kinder und etliche alte Leute waren unter den Verdammten. Wie lange sie wohl ausharren mussten, bis sie die ewige Ruhe finden würden?
Helena schüttelte den Kopf. Es war nicht ihre Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen. Die Eltern hatten ihr den Obolus mitgegeben, somit würde sie in die Welt fahren dürfen, die sie verdiente.
Der Styx lag ruhig vor der Gruppe. Leise plätscherten seine sanften Wogen gegen den schmalen Holzsteg, der ins Wasser reichte. Doch plötzlich verdunkelte sich der graue Himmel, und über den Horizont peitschte ein eisiger Wind den Fluss entlang und brachte das eben noch ruhige Gewässer in Aufruhr, dessen gräuliche Farbe einem düsteren Schwarz wich.
Ängstlich trat Helena einen Schritt zurück. Der Wind riss an ihrem Kleid. Ihre blonden Locken tanzten im Wind. Die Haarspangen konnten ihre Mähne nicht länger bändigen und dicke Strähnen peitschten ihr ins Gesicht. Ein eiskalter Schauer lief über den Rücken des Mädchens.
Es war soweit: Charons Ankunft stand unmittelbar bevor.
Am Horizont tauchte ein Schiff auf. Ohne Segel, ohne Motor. Eine hagere Gestalt stand darauf, nur mit einem Schurz um die Lenden bekleidet. Seine braunen Haare verschmolzen nahezu nahtlos mit dem Braun der Schiffsplanken, sein Bart war lang und struppig. Obwohl er ausgemergelt und kraftlos wirkte, machte er Helena Angst. Seine schwarzen Augen musterten die Gruppe genau. Jedes Gesicht beäugte er aufmerksam und mit strengem Blick. Helena war sicher, dass er es einem ansah, ob man die Überfahrt bezahlen konnte oder nicht.
Ein Raunen und Rumoren ging durch die Gruppe der verlorenen Seelen. Einige setzten zum Sturm auf das Schiff an, doch Charon wehrte sie mühelos ab. Mittlerweile war die Gruppe der Neuankömmlinge mit denen der Verdammten verschmolzen. Es herrschte lautes Durcheinander. Helena wurde herumgeschubst, man zog an ihren Haaren. Charon schlug wild um sich, verwehrte den Zugang zum Schiff.
Seelen stürzten in den Styx. Es zischte und brodelte. Wellen schlugen über den Schatten zusammen und rissen sie in die Tiefe. Es klang, als würde das Wasser gierig schmatzen.
Ein Junge, gerade so alt wie Helena, zog das Mädchen beiseite. Hinter einem kargen Felsen gingen beide in Deckung. Er lächelte. Helena nickte ihm schüchtern zu.
»Ich bin Alexandros«, flüsterte er. »Das passiert immer, wenn Charon kommt, um neue Seelen in den Hades zu bringen.«
Helena nickte erneut. Sie war Alexandros unendlich dankbar. Sie hatte befürchtet, selbst ausversehen in den Styx zu fallen und von ihm verschlungen zu werden.
Die Kinder sahen einander ausgiebig an. Helena vermutete, dass der Junge etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Seine langen schwarzen Haare verschmolzen mit den breiten Augenbrauen. Seine Augen waren faszinierend: stechendes Grün, klar und rein. Doch seine Gesichtszüge waren wenig markant, und auch der Rest an ihm unscheinbar, schmächtig und klein.
»Ist was?«, stutzte Alexandros und blickte an sich herunter.
Helena schüttelte den Kopf und senkte beschämt den Blick. Auch wenn hier alles von tristem Grau bedeckt war, befürchtete sie, dass Alexandros die aufsteigende Schamesröte in ihrem Gesicht erkennen konnte.
»Hast du auch einen Namen?«, fragte er.
Helena schaute auf. Ihre Zunge spielte mit der kleinen Münze. Immerzu musste sie an die mahnenden Worte ihres Vaters denken, auf keinen Fall ein Wort zu sprechen, solange sie nicht an Bord war. Aber was sollte ihr hier im Schutze des Felsens schon passieren?
»Hehenga«, murmelte sie und hielt dabei schützend die Hand vor ihren Mund.
Alexandros stutzte.
»Was ist denn das für ein Name?«, kicherte er. Helena rollte mit den Augen. Wieder schob sie die Münze im Mund umher und setzte erneut an: »Ich heiche Hehenga.«
Alexandros begann schallend zu lachen. Helena boxte ihn.
»Ohne Münze im Mund könnte ich dich vielleicht verstehen«, foppte er sie.
Entnervt spuckte das Mädchen die Münze in ihre Hand, wischte sich den Speichel von den Mundwinkeln und zischte: »Helena, ich heiße Helena!«
Alexandros nickte. Inzwischen war es stiller geworden am Ufer. Zögernd linsten beide Kinder hinter dem Felsen hervor. Das Handgemenge hatte sich weitestgehend aufgelöst.
Die Mutter der kleinen Kinder, welche Helena zuvor beobachtet hatte, stand heulend bei dem Pulk der verlorenen Seelen. Ihre Kinder wurden von Toten gehalten, die den Einstieg in das Schiff planten. Offenbar hatten einige der neuen Seelen in dem Gemenge ihre Münzen verloren.
Fassungslos starrte Helena die Gruppen an. Charon ließ jeden der ihm den Obolus überließ an Bord gehen. Keine Gerechtigkeit für das unfaire Verhalten, das Schicksal des Einzelnen bedeutete ihm nichts. Helena war endlos enttäuscht.
Plötzlich packte Alexandros ihre Schultern und warf sie auf den Rücken. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, so dass sie kaum etwas sehen konnte. Der Junge war sehr viel stärker, als Helena angenommen hatte. Ihre Faust presste sich eisern um die Münze, die Fingernägel schnitten dabei unangenehm in ihre Handballen. Alexandros Schenkel pressten sich kräftig gegen ihr Becken und seine kleinen Hände umklammerten ihre Handgelenke.
»Gib mir die Münze«, zischte er und rüttelte ihre Hand.
»Niemals«, schrie Helena. Sie wand sich wie ein Aal, doch Alexandros Griff verstärkte sich dadurch noch mehr.
»Gib her, sonst...«, knurrte er und schlug Helenas Faust gegen den Felsen. Die Knöchel schmerzten unter dem Aufprall. Mit Tränen in den Augen presste sie die Zähne aufeinander, aber Alexandros holte erneut aus und schlug ihre taube Faust noch fester gegen den kalten Stein.
Kreischend öffnete sie ihre Hand und die Münze fiel in das kurze Gras, direkt neben ihren Kopf.
Blitzschnell schnappte sich Alexandros die Münze, schob sie in seinen Mund und sprang auf. Helena brauchte einen Moment, ehe sie fähig war, ihre Hand zu benutzen. Der Schmerz pulsierte kräftig in ihren Gliedern. Heulend, vor Überraschung und Schmerz, stand sie auf, das Kleid übersät mit Flecken und Dreck.
So schnell ihre Beine sie trugen, rannte sie zu Charon, der soeben auf das Schiff gehen wollte.
»Halt, bitte... vergesst mich nicht!«, rief sie schluchzend.
Doch auf dem Steg kam Helena ins Straucheln und stürzte. Das Holz ächzte unter dem Aufprall ihres Körpers und Splitter fraßen sich in ihre zarte Haut. Mit letzter Kraft rettete sie sich davor, in den Styx zu fallen und in die ewige Verdammnis gezogen zu werden.
Charon sah von oben auf das Mädchen herab. Seine Miene war versteinert.
»Charon, ich flehe dich an. Alexandros...«, sie deutete auf den Jungen, der zwischen den anderen saß. »Er hat mir die Münze gestohlen! Bitte glaube mir. Es war meine Münze!«
Charon sah Alexandros durchdringend an. Angst und Verzweiflung standen in dessen Gesicht geschrieben. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. »Er hat bezahlt, es war sein Obolus. Ich kann nichts für dich tun, Kind«, donnerte Charon und schob das Schiff mühelos vom Steg.
Seine Worte hallten unwirsch in Helenas Kopf. Schluchzend vergrub sie das Gesicht in ihren Händen, und ihr Körper bebte in Trauer und Angst. Sie wusste: auf ewig würde sie nun hier gefangen sein, denn wie sollte ein kleines Mädchen unter den Verdammten jemals an eine neue Münze gelangen.
Tage vergingen, ohne dass die Sonne aufging oder der Mond schien. Die Verdammten vegetierten rastlos vor sich hin, tummelten sich im Gestrüpp am Ufer einige leise wimmernd, andere laut heulend. Ohne Perspektive auf das Paradies nach dem Tode hatte diese Welt ihren Reiz verloren, war alles farb- und freudlos. So warfen sich verzweifelte Gestalten fast täglich in den friedlichen Styx, ließen sich von ihm verschlingen, setzten ihrem Leid ein Ende.
Von Tag zu Tag sammelten sich neue Seelen am Pfad zum Friedhof und warteten geduldig auf Charons Ankunft. Kam er dann, bot sich immerzu das gleiche Bild: Gerangel und Handgemenge, unzählige Diebstähle von Münzen und ein eiserner Fährmann, der lediglich nach dem Obolus gierte. Keine Gnade für Kinder oder Alte, keine Gnade für diejenigen, die außerstande waren, den Obolus zu begleichen.
Helena ging nicht an das Ufer. Auch wenn man ihr Unrecht getan hatte, so widerstrebte es ihr, dies anderen zuzufügen. Sie war in die Falle geraten, hatte die mahnenden Worte des Vaters missachtet. Nun würde sie hier ausharren müssen.
Sie sehnte sich nach ihren Eltern. Fast täglich pilgerte sie an ihre Grabstelle zurück, und wartete. Aber ohne Gewissheit, wann ein neuer Tag angebrochen war, traf sie nie jemanden an. Beinahe war sie versucht zu glauben, dass sich niemand um das Grab kümmern würde. Auch wusste sie, dass es untersagt war das Ufer zu verlassen. Aber solange Charon nicht da war würde sie auch niemand richten. Etwas Schlimmeres, als dieses Dahinvegetieren, konnte ihr ohnehin nicht zustoßen.
Helena schmiegte sich an den kalten Grabstein. Ihr Kopf ruhte auf dem rauen Fels. Sie schloss ihre Augen und weinte bitterlich. Tränen sickerten unaufhörlich aus ihren Augen, tropften auf den Stein und flossen in dünnen Rinnsalen hinab in die Blumen.
»Regnet es?«
Das Mädchen horchte auf. Die Stimme ihrer Mutter! Mit einem Ruck löste sie sich von dem Stein und blickte zum Ende der Grabstelle. Tatsächlich! Ihre Mutter kniete vor den Blumen und starrte auf den Stein. Der Vater stand dahinter, seine Hand ruhte auf ihrer Schulter.
Helenas Blick fiel zurück auf den Grabstein, und sie erkannte das dünne Rinnsal ihrer Tränen. Offenbar sah ihre Mutter das ebenfalls. Zögernd kam sie näher und Helena wich im Krebsgang zurück.
Mit dem Finger fuhr ihre Mutter die feuchten Stellen ab, als zeichnete sie ein zartes Muster.
»Mama?«, flüsterte Helena und berührte ihre Mutter sachte an der Hand. Fröstelnd zog diese die Schultern hoch.
»Wir sollten gehen«, sprach Egeas, ihr Vater, und öffnete die Arme, um seine Frau in Empfang zu nehmen.
Kassandra schaute auf ihre Zeichnung, streichelte die Stelle, an welcher Helena sie berührt hatte und blickte danach in den Himmel.
»Kassandra... jetzt komm«, sagte er erneut.
»Ich liebe dich mein Kind! Ich hoffe, du bist gut im Hades angekommen«, schluchzte sie und steuerte auf Egeas zu.
Fassungslos blieb Helena zurück.
»Wartet, wartet! Bitte Mama, hilf mir!«, brüllte Helena und sprang auf. Dabei warf sie die kleine Grabkerze um. Das Licht erlosch sofort. Langsam sickerte flüssiges Wachs aus dem Glas und erhärtete auf dem kalten Steinboden. Kassandra wirbelte herum und starrte auf die umgestürzte Kerze.
»Egeas, irgendetwas stimmt nicht«, murmelte sie. Mit großen Schritten lief sie zurück zu dem Grab, ging in die Knie, stellte die Kerze wieder auf und kramte in ihrer Hosentasche nach Streichhölzern.
»Was machst du da?«, schnaubte Egeas ungeduldig.
»Lass mich etwas probieren«, antwortete sie und entzündete die Flamme.
Die Gruppe neuer Seelen, die sich am schmalen Pfad gesammelt hatte, setzte sich langsam in Bewegung. Helena sah ihnen nach. Charons Ankunft stand unmittelbar bevor und sie musste zurück zum Ufer. Dennoch wollte sie unbedingt herausfinden, was ihre Mutter plante.
Unsicher wippte sie auf ihren kleinen Füßen herum.
»Helena, wenn du hier bist, dann gib mir ein Zeichen«, flüsterte Kassandra. Egeas schüttelte den Kopf und warf die Hände in die Luft.
Helena bückte sich und pustete die Kerze aus. Mit einem Schreckensschrei sprang Kassandra auf, direkt in Egeas Arme. Beide schauten auf den rußenden Docht der erloschenen Kerze.
»Mach das nochmal«, bat Egeas.
Kassandra entflammte erneut den Docht und Helena pustete die Flamme aus. Kassandra fiel ihrem Mann weinend um den Hals. Erfreut, dass ihre Eltern das sehen konnten, hüpfte sie auf und ab. Vielleicht konnte sie ihnen somit eine Nachricht übermitteln?
Helena blickte zum Styx. Schwarze Wolken hingen über dem Fluss. Sie vernahm ein leises Raunen und wusste, dass es Zeit war zum Ufer zu laufen, damit Charon ihre Abwesenheit nicht doch noch bemerkte. Ihre Eltern ließ sie nur ungern zurück. Sie wollte ihnen mitteilen was mit der Münze geschehen war, aber das musste warten. Wenn sie nicht rechtzeitig zurückkehrte, wäre der Obolus hinfällig, da sie vom Fährmann in den Styx getrieben werden würde.
So schnell ihre Füße sie trugen, rannte sie zum Ufer. Der Styx tobte bereits und Charon erschien am Horizont. Rasch sprang Helena hinter einem Baum. Sie hoffte, dass es so aussah, als würde sie sich vor dem kommenden Tumult in Sicherheit bringen wollen.
Ihr Plan ging auf. Am Flussufer kam es zum üblichen Handgemenge und abermals stürzten neue und verdammte Seelen in den Styx. Und wie zuvor, ergatterten verlorene Seelen einen Platz auf dem Schiff.
Helena begann sich dafür zu hassen, dass sie unfähig war, genauso herzlos und egoistisch zu sein, wie die anderen Verdammten. Andererseits hatte sie zu kämpfen gelernt, auch wenn sie ihren letzten großen Kampf, gegen die Leukämie, verloren hatte. Oft ging es ihr monatelang gut, doch dann kamen Rückfälle und immer fand sie sich im Krankenhaus wieder. Sie bemerkte, dass ihre Eltern immer trauriger wurden, ihr bald von Hades, Styx und Charon erzählten. Niemand sprach direkt vom Tod, aber Helena spürte, dass es darauf hinauslief. Ihre Eltern verloren allmählich die Hoffnung, was auch unweigerlich Helenas Hoffnung zerstörte. Einzig und allein die Aussicht im Hades ewige Ruhe zu finden, half ihr über die schwere Zeit.
Nun war sie tot und doch nicht frei, Gefangene einer Zwischenwelt; verdammt, in dieser tristen Einöde zu verrotten, bis ihre Hoffnungslosigkeit sie von selbst in den Styx trieb. Aber nach den Geschehnissen am Grabstein wusste Helena, dass sie weiterkämpfen würde. Sie mochte gegen die Krankheit verloren haben, aber gegen die Verdammnis würde sie nicht verlieren.
Nachdem Charon abgelegt hatte und in kürzester Zeit am Horizont verschwunden war, rannte sie zurück zu ihrem Grab. Doch die Eltern waren fort. Nur die Flamme der Kerze tanzte sanft im Wind.
Eine gefühlte Ewigkeit harrte Helena am Grabstein aus. Nach und nach kamen neue Seelen an und der Friedhof ähnelte mehr einem Wallfahrtsort, als einer Ruhestätte. Je mehr Tote sich versammelten, umso sicherer war Helena, nicht mehr viel Zeit zu haben, bis Charon das nächste Mal ankommen würde.
Aber endlich kam ihre Mutter, jedoch ohne den Vater. Helena freute sich dennoch sehr. Sofort versuchte sie Kontakt aufzunehmen und Kassandra bemerkte ihre Hinweise.
»Helena, bist du das?«, flüsterte sie in die Totenstille des Friedhofs.
»Ja Mama, ich bin hier«, wisperte Helena. Sie lehnte sich ganz nah ans Ohr ihrer Mutter und ein eisiger Schauer überkam Kassandra.
»Weshalb bist du noch hier mein Kind. Wieso fährst du nicht mit Charon in den Hades?«, klagte Kassandra. Sie ahnte, dass Helena sie hören konnte.
»Mama, ich kann nicht, ich brauche einen neuen Obolus«, schluchzte Helena und sah sich verzweifelt um. Sie wusste, dass die Mutter zwar ihre Anwesenheit spüren, sie aber unmöglich hören konnte.
Kassandra indes musterte das Grab. Sie hoffte auf ein Zeichen ihrer Tochter. Doch es blieb still.
Wie ein aufgescheuchtes Huhn hetzte Helena um die Grabstelle. Sie suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihrer Mutter einen Hinweis zu geben, aber es fiel ihr nichts ein.
»Mein Kind, bist du noch hier?«, murmelte Kassandra und entflammte erneut die Kerze.
Helena kniete neben ihrer Mutter und weinte. So sehr sie sich über den Besuch freute, so traurig war sie, ihre Not nicht mitteilen zu können. Mit verheulten Augen lehnte sie sich vor und pustete die Kerze aus. Dabei stieß sie ans Glas und warf es um. Das Wachs sickerte träge über den Rand und färbte den grauen Stein rot. Da kam ihr eine Idee: Mit dem Finger zeichnete sie eine Münze in das härter werdende Wachs. Ihre Mutter starrte gebannt auf den roten Fleck, welcher nach und nach Kerben und Formen erhielt und nach kurzer Zeit erkannte sie, was ihre Tochter zeichnete.
»Der Obolus? Helena, wir haben dir eine Münze mitgegeben«, rief Kassandra. Andere Trauernde, die über den Friedhof liefen, musterten die kniende Frau erstaunt, doch Kassandra achtete nicht auf sie.
Helena fixierte den Wachsabdruck. Offenbar verstand ihre Mutter, was sie ihr zu sagen versuchte, aber woher sollte sie wissen, dass man ihr die Münze gestohlen hatte?
Der Himmel am Horizont verdunkelte sich. Erschrocken sprang Helena auf. Sie küsste ihre Mutter auf den Scheitel und rannte schnell den Pfad zum Ufer hinunter.
Kassandra fror. Trotz sommerlicher Temperaturen hatte sie das Gefühl, man hätte ihr einen Eiswürfel auf den Scheitel gelegt. Unentwegt starrte sie auf den Wachsfleck und dachte darüber nach, was ihre Tochter zu sagen versuchte.
Sie würde Egeas davon erzählen, obwohl sie sich vor seiner Reaktion fürchtete. Es waren bereits sechs Monate seit Helenas Tod vergangen. Sechs Monate, in denen sie nahezu täglich an das Grab ihrer Tochter kam, um herauszufinden, weshalb sie noch immer nicht in den Hades gegangen war. Egeas beschimpfte sie seither oft, warf ihr vor verrückt zu sein, zu halluzinieren. Doch dieser Wachsfleck war der eindeutige Beweis, dass sie nicht verrückt war.
Kassandra stützte sich auf die Knie und stand schwungvoll auf. Kieselsteine polterten auf den Weg. »Ich bin bald wieder da«, flüsterte sie und eilte vom Friedhof.
Helena kauerte mittlerweile hinter einem Felsen. Langsam wurde es ruhiger am Ufer. Schüchtern linste sie aus ihrem Versteck. Das Schiff war randvoll mit Seelen, aber Charon legte nicht ab. Wild flatterten seine Haare im Wind. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Umgebung. Es schien, als würde er etwas suchen.
Sein Blick blieb auf Helena ruhen, die erschrocken den Kopf zurückzog. Ein unbeschreibliches Gefühl der Panik und gleichzeitiger Erleichterung übermannte sie. Sie hörte ihn über den Steg laufen; langsam, aber bestimmt. Als sie einen erneuten Blick riskierte, hatte Charon das Ufer bereits erreicht. Nie zuvor war er so weit von seinem Schiff gegangen. Er riss beide Arme in die Höhe und eine Welle des Styx schwabbte über den hölzernen Steg, versperrte den Weg zum Schiff.
Die verlorenen Seelen drängten beiseite, hielten sich eng umklammert und starrten dem Fährmann mit angsterfüllter Miene entgegen. Charon legte seinen Kopf schief, die dunklen Augen fest auf Helena gerichtet. Sie musste schlucken, als er näher stapfte, und duckte sich mit angezogenen Knien zurück hinter den Felsen. Dabei vergrub sie das Gesicht in ihren Händen.
Plötzlich packte sie etwas an ihren blonden Locken und tausende Nadelstiche prasselten durch ihren Kopf. Schreiend wurde sie aus ihrem Versteck gezerrt und landete plump im trockenen Gras. Tränen begannen, ihre Wangen hinab zu stürzen. Sie wusste, dies war ihr Ende.
Als weiter nichts geschah, stützte sich Helena zögernd auf ihre Arme und richtete den Oberkörper auf. Ihre Augen fuhren kräftige Beine, einen Lendenschurz und einen nackten Oberkörper entlang. Drohend und riesig stand Charon vor dem kleinen Mädchen. Sein Blick hielt sie gefangen.
»Ein Gesetz besagt«, donnerte seine Reibeisenstimme, »dass es verlorenen Seelen nicht gestattet ist, den Weg zurück zum Friedhof zu gehen. Wagen sie es doch, so führt der Weg in die ewige Verdammnis!«
Helena zuckte zusammen. Nun würde es gleich vorbei sein.
Charon packte sie erneut und zog sie auf die Füße.
»Hast du etwas zu sagen?«, fauchte er sie an.
Das Mädchen faltete die zarten Hände. Sie stand am Ufer des Styx und der Wind streichelte sie mit einer warmen Brise. Wenigstens er hatte Gnade mit ihr. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus, sie schloss die Lider und hob ihren Kopf.
Leise begann Helena das Gute-Nacht-Lied zu singen, welches ihre Mutter jeden Abend für sie gesungen hatte. Ihre glockenhelle Stimme tönte über das Wasser. Die tosenden Wellen beruhigten sich und schienen im Klang der Melodie zu schwingen. Charons Hand an Helenas Oberarm lockerte sich und ein Raunen ging durch die Seelen.
»Orpheus«, flüsterte er. Helena unterbrach ihren Gesang nicht. Es fühlte sich gut an, dieses Lied zu singen. Sie fühlte sich ihrer Mutter nah.
Als sie fertig war, drehte sie sich zu Charon um. Ihre blauen Augen glitzerten ihn fröhlich an. Verschwunden waren Angst und Sorge.
Charons Gesichtszüge waren weicher geworden. »Orpheus hat einst ein Lied gesungen. Ihm gewährte ich die Überfahrt in den Hades. Dir, mein Kind, werde ich die Verdammnis ersparen. Aber sei gewarnt: Ein Fehltritt und ich vergesse meine Gnade«, erklärte er. Dann kehrte der Fährmann auf das Schiff zurück und legte ab.
Helena blieb wie versteinert stehen und sah ihm nach.
»Ich werde gehorchen«, wisperte sie.
»Hier, komm schau dir das an! Das war deine Tochter«, keuchte Kassandra. Sie war zum Grab gerannt, dicht gefolgt von Egeas. Völlig außer Atem kam er kurz nach ihr an. Keuchend stützte er sich auf seinen Knien ab.
»Mit etwas Fantasie könnte das eine Münze sein, ja«, stöhnte er und verdrehte die Augen.
»Wir müssen die Exhumierung veranlassen«, bettelte Kassandra. Zweifelnd blickte Egeas zwischen seiner Frau und dem Wachsfleck umher.
»Bist du völlig verrückt geworden?«, zischte er und richtete sich auf. Sein Schatten verschluckte die zierliche Kassandra vollständig.
»Aber sie braucht eine Münze«, flehte Kassandra.
»Sie hatte eine. Das kann nicht der Grund sein. Wer sagt mir denn, dass du dieses Zeichen nicht selbst gemacht hast?«, knurrte Egeas unwillig.
Kassandra war schockiert von seiner Anschuldigung. »Glaubst du ernsthaft, ich würde meine Tochter lieber tot zu Hause haben als gar nicht?« Sie funkelte ihn wütend an.
Egeas überlegte kurz, dann nickte er. »Du bist nie darüber hinweggekommen. Die Welt hat sich weitergedreht, aber ohne dich.«
Kassandra schüttelte den Kopf und begann zu weinen. »Vielleicht hat sie die Münze beim Transport zum Grab verloren. Ich will doch nur, dass sie ihren versprochenen Weg gehen kann. Im Hades wird man erkennen, was für ein tolles Mädchen sie war, und sie wird einen Platz in einer wunderschönen Welt bekommen. Das haben wir ihr doch immer erzählt! Und nun soll es am Obolus scheitern?«, kreischte sie außer sich vor Zorn.
Wie konnte sie nur glauben, dass ihr Mann sie verstehen, ihr helfen würde? Noch nie hatte er sich großartig für Helena interessiert. Sie war ein Unfall gewesen, ungeplant. Kassandra hatte Egeas bekniet, das Kind gebären zu dürfen. Von Anfang an war das Verhältnis zwischen Egeas und seiner Tochter schwierig. Er beachtete sie kaum. Seine Arbeit als Gastronom schien ihm wichtiger als die Familie. Zu oft hing er mit hübschen jungen Damen und gutaussehenden Männern herum, alles »Freunde« die Kassandra nicht kannte.
Erst als Helena erkrankte und die Diagnose Leukämie lautete, begann er sich um seine Familie zu kümmern. Von einem Tag auf den nächsten wurde aus ihm ein Vorzeige-Vater und Kassandra wusste nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Freuen, weil ihre Tochter endlich den Vater bekam, den sie ihr immer gewünscht hatte, oder traurig sein, ob der schrecklichen Erkrankung.
Seit Helena starb lebte Egeas wieder nur für sein Restaurant. Er trainierte hart und hatte sein Sixpack zurück. Seine Kleidung war stets eng und schmeichelte seinem Adonis-Körper. Es war zu offensichtlich, dass er seine Tochter nach deren Tod vergessen wollte.
»Wir werden unsere Tochter nicht wieder ausgraben! Lass es endlich gut sein und such dir einen Therapeuten«, brüllte Egeas. Tiefe Zornesfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Knirschend machte er auf dem Absatz kehrt und steuerte Richtung Parkplatz.
Kassandra weinte bitterlich. Sie zog ihren Geldbeutel aus der Handtasche und strich über das darin befindliche Bild ihrer Tochter: ein glückliches, ein hübsches Mädchen. Sie angelte zwei Münzen aus dem Kleingeldfach und steckte sich diese in den Mund.
Egeas hielt an und drehte sich um. Seine Frau stand noch immer am Grab.
»Verdammt!« Schnaubend kickte er einen Stein durch die Gegend und lief zurück.
Kassandra war auf die Knie gesunken und hielt die Grabkerze in beiden Händen. Der bittere Geschmack der Münzen breitete sich in ihrem Mund aus. Als sie Egeas zurückkommen sah, schlug sie die Kerze fest auf die Grabumrandung. Das Glas zerbrach in hunderte kleiner und großer Splitter.
Egeas blieb verdutzt stehen. »Was tust du da?«
Kassandra blickte auf, eine Scherbe in ihrer Hand. Sie öffnete den Mund und zeigte auf die Münzen unter ihrer Zunge. Dann fuhr die Scherbe blitzschnell über ihre Unterarme.
Egeas erstarrte vor Entsetzen. Kassandra heulte auf, presste aber aus Angst die Münzen zu verlieren ihre Lippen zusammen. Sie kroch ein paar Meter weiter, um möglichst weit von Egeas weg zu kommen. Blut spritzte aus ihren Armen, färbte die weißen Kieselsteine in dunkles Rot. Mit schwarzen Schleiern vor den Augen sank sie erschöpft auf die Steine. Sie spürte nichts mehr, hörte nichts mehr. Alles, woran sie in diesem letzten Augenblick denken konnte, war ihre Tochter, mit der sie bald wieder vereint sein würde.
Helena saß wie versprochen am Ufer und blickte gen Horizont. Neue Seelen tummelten sich am Pfad des Friedhofes und warteten auf Charons Ankunft. Dem Mädchen war es egal: Sie hatte gelernt, sich aus den Tumulten herauszuhalten, die Neuankömmlinge nicht zu beachten, um somit Neid und Zorn zu vermeiden.
Wieder verdunkelte sich der Himmel. Helena seufzte laut. Das Schiff glitt auf hohen Wogen vorüber und sie hätte schwören können, dass Charon sachte die Hand zum Gruße erhoben hatte.
Wieder kam es zu Rangeleien als er anlegte, doch Helena blieb wie versteinert am Ufer sitzen.
»Ist hier noch Platz?«, trällerte eine liebliche Stimme hinter ihr.
Helena traute ihren Ohren nicht. Blitzschnell wirbelte sie herum und sah in das Gesicht ihrer Mutter. Fassungslos starrte sie Kassandra an, bevor sie ihr lachend und schreiend in die Arme fiel.
»Mama, wieso
?«
Kassandra legte ihr einen Finger auf die Lippen. Anschließend öffnete sie ihre Hand und eine saubere, funkelnde Münze blitzte Helena entgegen. Mit glitzernden Augen nahm sie die Münze und steckte sie in den Mund. Hand in Hand gingen die beiden an Bord des Schiffes.
29. Mar. 2012 - Susanna Montua
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