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Bahnsteig des Lebens von Tanya Carpenter
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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AGENTUR ASHERA
A. Bionda
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Anna Kuschnarowa © http://www.anna-kuschnarowa.de/ Er sah sie jeden Morgen, wenn er zur Arbeit fuhr. Und jeden Abend auf dem Nachhauseweg ebenso. Stumm saß sie da auf ihrer Iso-Matte. Eingehüllt in einen fleckigen Umhang, eine Decke voller Löcher über den Knien, der Blick starr und leer. Neben ihr stand ein Plastikbecher, in den selten jemand eine Münze warf. Manchmal hielt sie eine Tasse mit dampfendem Tee in der Hand, die sie sich vom Kiosk an der Ecke erschnorrte.
Sie tat ihm leid. Ihr hageres Gesicht mit den dunklen Augenringen war vor langer Zeit sicher einmal schön gewesen. Doch heute trug es die Spuren eines Lebens auf der Straße. Was wohl der Grund war, dass sie hier am Bahnhof gelandet war? Manchmal stellte er sich diese Frage, überlegte, ob er sie ansprechen sollte, doch jedes Mal ging er erneut an ihr vorbei.
Mit der Zeit war die junge Frau mit den blonden Haaren und den traurigen blauen Augen für ihn zu einer vertrauten Gestalt geworden, die ebenso zu seinem Leben gehörte wie die Dusche am Morgen und der Bürojob in der City. Es hätte etwas gefehlt, wenn sie einmal nicht dort gesessen hätte. Aber sie war immer dort. Er wunderte sich manchmal, dass sie so gut wie nie ihren Platz zu verlassen schien. Ging sie nicht mit Freiern, um ein wenig Geld für Essen und Trinken zu verdienen – oder für Drogen?
Er begann darüber nachzudenken. Fing an, ein paar Minuten früher zur Arbeit zu fahren, um sie eine Weile heimlich zu beobachten. Getarnt hinter der Morgenzeitung. Dabei fiel ihm auf, wie weich ihre Züge waren, wie voll und samtig ihre Lippen. Dass ihr Haar trotz allem immer sauber war und einen seidigen Schimmer besaß.
Er wollte mehr über sie erfahren, und schließlich fasste er sich ein Herz.
Als er an diesem Abend von der Arbeit nach Hause kam und aus dem Zug stieg, ging er nicht zur Treppe hinüber, sondern zu ihr. Er hockte sich vor sie hin und lächelte freundlich. Sie erwiderte es nicht, blickte einfach durch ihn hindurch.
„Hallo. Ich bin Jens. Darf ich dich fragen, wie du heißt?“
„Tina“, antwortete sie. Ihre Stimme klang rau, als hätte sie sie ewig nicht benutzt. Noch immer sah sie ihn nicht an. Vielleicht war sie blind.
Er griff in seine Tasche und holte einen Zehn-Euro-Schein hervor, den er in ihren Becher steckte. Davon konnte sie sich etwas zu Essen kaufen. Hoffentlich besorgte sie sich nicht stattdessen einen Schuss.
Jens musterte sie prüfend, doch auch wenn sich tiefe Schatten unter ihre Augen gegraben hatten, war ihre Iris vollkommen klar.
Hinter ihm ertönte der Pfiff des Schaffners. Er zuckte zusammen. Sie nicht. Sie starrte nur weiter vor sich hin. Der Zug fuhr schwerfällig an, nahm dann rasch Fahrt auf und rauschte aus dem Bahnhof. Der entstehende Luftzug ließ die Zipfel ihrer Decke flattern und zerrte an Jens’ Mantel.
„Ist dir nicht kalt?“
Sie schüttelte stumm den Kopf, schlang gleichzeitig aber die Arme fester um ihren Körper.
„Soll ich dir einen Kaffee holen?“
Abermals verneinte sie wortlos.
Er kam sich hilflos vor. Eigentlich meinte er es doch nur gut. Warum war sie so abweisend? Dachte sie, dass er auf ein Schäferstündchen mit ihr aus war?
„Warum sitzt du jeden Tag hier?“
„Ich warte.“
„Worauf?“
Sie antwortete nicht.
„Hast du kein Zuhause mehr? Niemand, der auf dich wartet oder sich um dich sorgt?“
Jetzt hob sie den Blick und sah Jens direkt in die Augen.
„Ich warte“, wiederholte sie. Dann griff sie in den Becher und holte den Euroschein heraus. „Danke!“ Damit stand sie auf und ließ ihn bei ihren wenigen Habseligkeiten zurück, während sie zum Kiosk ging.
Jens blickte ihr nach. Sie war erschreckend dünn. Die Leggins, die sie trug, flatterte um ihre Beine als wären es bloß Knochen. Ihre Hüfte stach selbst unter dem dicken Pulli noch hervor. Aber sie hielt sich aufrecht und ging ohne zu schwanken oder zu zittern.
Er schaute auf ihre Sachen. Unter der Iso-Matte lag noch eine weitere Decke. An der Wand lehnte eine kleine rosa Tasche mit Schmetterlingen drauf, von der Art, wie man sie kleinen Mädchen schenkte. Ob sie die schon so lange besaß? Oder hatte sie sie irgendwann gefunden?
Tina kam zurück und streckte ihre Beine wieder unter die Decke. Dafür legte sie den Umhang jetzt beiseite. Auch ihre Schultern waren knochig. Sie öffnete die Kindertasche und ließ ein paar Münzen hineingleiten, ehe sie begann, das mitgebrachte Sandwich zu essen. Den Becher mit dem Kaffee stellte sie neben sich. Von Jens nahm sie keine Notiz mehr.
Seufzend erhob er sich und ging nach Hause. Die halbe Nacht überlegte er, wie er ihr helfen konnte, und gleichzeitig, warum es ihm so ein tiefes Bedürfnis war, das zu tun. Er kannte sie nicht. Aber sie war ein Teil seines Lebens.
Am nächsten Morgen nahm er eine dickere Decke mit zum Bahnhof und einen alten Parka von sich. Er würde ihr viel zu groß sein, doch er wärmte. Außerdem hatte er Kaffee in eine Thermoskanne gefüllt, eine Packung Kekse und einen Beutel mit belegten Broten in die Taschen des Parkas gesteckt.
Zufrieden überreichte er Tina seine Geschenke. Sie starrte ihn aus großen Augen an und wusste offenbar nicht, was sie sagen sollte.
„Ich wünsch dir einen schönen Tag“, sagte er lächelnd und stieg in seinen Zug.
Bevor er an diesem Abend nach Hause fuhr, machte er einen kleinen Umweg und kaufte eine Pizza. Sie war nur noch lauwarm als sein Zug im Bahnhof einlief, doch er hoffte, dass sie Tina trotzdem schmecken würde.
„Warum tust du das?“, fragte sie ihn.
Er konnte es selbst nicht beantworten. Aber es war ein gutes Gefühl, dass sie nicht mehr vor sich hin starrte. Nicht mehr durch ihn hindurch. Sie hatte so schöne Augen. Jens zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht“, gestand er ehrlich. „Ich habe einfach gehofft, dass du dich darüber freust.“
Sie blieb misstrauisch, das sah er ihr an. „Darf ich mich zu dir setzen?“
Tina nickte während sie den Pizzakarton öffnete. Bei dem Duft, der ihm entstieg, breitete sich ein seliges Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Es war das erste Mal, dass er sie lächeln sah. Sie hatte makellose Zähne.
„Bekommst du keinen Ärger, wenn du zu spät nach Hause kommst?“, fragte sie mit vollem Mund.
„Ich wohne allein.“
„Warum?“
Er setzte ein schiefes Grinsen auf. „Die Kollegen meinen, ich wäre mit meinem Job verheiratet. Er macht mir Spaß, weißt du. Deshalb komme ich immer spät heim. Da fehlt wohl die Zeit für eine Freundin oder gar Familie.“
Sie seufzte, als wüsste sie genau, wovon er sprach, sagte aber nichts.
„Auf wen wartest du hier?“, fragte er.
Tina zuckte die Achseln. „Ich warte einfach.“
Das verstand Jens nicht. „Aber wenn du nicht weißt, worauf, wie willst du dann wissen, wann das, worauf du wartest, da ist?“
Tina kaute eine Weile auf ihrer Pizza herum, dann sah ihn wieder an. „Weißt du denn, worauf du wartest?“
Er runzelte die Stirn. „Ich? Aber ich warte doch gar nicht?“
„Klar“, widersprach sie. „Jeder wartet. Und im Grunde weiß keiner, worauf. Aber alle warten. Weil jeder denkt, dass sich irgendwann was ändert. Darum machen sie weiter wie immer und warten.“
Er wollte ihr sagen, dass das Unsinn war, aber sie sprach weiter.
„Du gehst jeden Tag zur Arbeit, redest den ganzen Tag mit Menschen und Abends kommst du wieder heim. Du gehst in deine Wohnung, wo niemand auf dich wartet, legst dich schlafen und stehst am nächsten Morgen wieder auf, um erneut zur Arbeit zu fahren. Ich sitze jeden Tag hier am Bahnhof, sehe den Zügen zu und den Menschen, die kommen und gehen. Irgendwann schlafe ich ein und morgens wache ich hier wieder auf. Ich weiß, dass niemand auf mich wartet, nirgendwo. Also ist es egal, ob ich hier bin oder woanders. Da ist kein großer Unterschied zwischen dir und mir.“
Er wollte sie nicht beleidigen, darum sagte er nichts dazu, obwohl er es unpassend fand, dass sie sich und ihn miteinander verglich, wo er den ganzen Tag arbeitete und sie nur hier saß.
Tina lächelte wieder. „Ich weiß, was du denkst“, sagte sie. „Aber siehst du, jeder von uns hat seinen Platz in dieser Welt. Manchmal können wir ihn wählen, manchmal nicht.“
„Bist du denn nicht unglücklich hier?“ Für ihn lag es auf der Hand, dass kein Mensch gerne so leben konnte, wie Tina.
„Bist du denn glücklich mit deinem Leben“, stellte sie die Gegenfrage.
Natürlich, wollte er sagen. Aber dann hielt er inne. Er hatte nie darüber nachgedacht. War eine Wohnung, ein Job und ein geregeltes Einkommen ausschlaggebend für Glück?
Er war zufrieden. Aber das war nicht dasselbe. Glück hatte er heute Abend empfunden, als Tina über den Duft der Pizza gelächelt hatte. Verrückt.
„Hast du nie darüber nachgedacht, dir einen Job zu suchen und ein anderes Leben zu führen? Du bist doch noch jung. Und du hast doch sicher nicht immer auf der Straße gelebt?“
Eigentlich wollte er nur von seinem eigenen Leben ablenken, das er gerade selbst in Frage stellte. Mit einem Mal erschien es ihm genauso leer, wie das von Tina.
Sie zuckte die Achseln. „Das ist lange her. Aber ich habe meinen Zug verpasst. Vielleicht sitze ich deshalb hier. Weil ich darauf warte, dass noch mal einer vorbeifährt, der meiner ist.“
Tina klappte den Deckel des Pizzakartons zu. „Danke“, sagte sie und erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre Stimme gar nicht mehr rau klang. Schon eine Weile nicht mehr. Im Gegenteil. In ihr lag eine Wärme, die ihm einen Stich ins Herz gab. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann das letzte Mal jemand so nett zu mir war. Von meinem Standpunkt aus müsste ich sagen, dass es sich gelohnt hat, zu warten.“
Konnte er dasselbe auch von sich sagen? Jens verharrte regungslos und starrte stumm vor sich hin. Auf den Gleisen fuhren die Züge vorbei, hin und wieder ertönte der schrille Pfiff des Schaffners. Dass er längst allein war, bemerkte er gar nicht. Tina war in irgendeinen Zug gestiegen. Vielleicht würde es wirklich ihrer sein. Als er Stunden später nach Hause ging, in die einsame Wohnung, wo niemand auf ihn wartete, hatte Jens so ein Gefühl, dass sein Zug auch längst abgefahren war.
20. Okt. 2012 - Tanya Carpenter
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