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Feenwinter von Tanja Bern
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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AGENTUR ASHERA
A. Bionda
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Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Dumpf hallten die Hufschläge auf dem festgetretenen Schnee. Bryan kämpfte gegen Erschöpfung und Kälte an, konnte sich kaum noch auf seinem Pferd halten. Seit Stunden suchte er den Weg nach Hause, doch die verschneite Landschaft sah überall gleich aus und er befürchtete, dass er an einigen Abzweigungen falsch abgebogen war. Die Münzen für die Waren, die er in den Dörfern verkauft hatte, waren ein geringer Trost.
Bryan döste ein. Als sein Pferd einem Felsen auswich, drohte er zur Seite wegzurutschen, kam abrupt zu sich und blickte erschrocken auf. Seufzend schob der junge Mann seine durchnässte Kapuze zurück und sah sich um. Dunkle Locken fielen ihm in die Stirn und er strich sie aus den Augen.
„Wo sind wir bloß, Sam?“, flüsterte er und schaute sich besorgt um.
Das Land schien in tiefem Schlaf zu sein. Die Tannen bogen sich von der Schwere des Schnees. Der Wasserfall am Ende der Schlucht bestand nur noch aus Eis und Flocken wehten durch die Luft. Der Ort war von der Kälte wie kristallisiert.
Das Pferd hielt zögernd, als sein Reiter die Zügel straffte. Es tänzelte nervös auf der Stelle. Wolken zogen sich am Himmel zusammen. Eisiger Wind fegte durch die Bäume und Sam wieherte beunruhigt.
„Du spürst es auch, nicht wahr?“ Bryan strich seinem Pferd beruhigend über den Hals. „Ein Sturm zieht auf. Wir brauchen dringend einen Unterschlupf.“
Bryan wollte das Pferd ins Unterholz des Waldes führen, doch das Tier verweigerte sich. Der junge Mann wusste, dass Sam nicht ohne Grund scheute.
Er betrachtete die schneebedeckte Landschaft genau.
Vor ihm wuchsen niedrige Tannen, doch weiter hinten standen Laubbäume, die hoch in den Himmel ragten.
„Ist das …? Sind wir bis in den Feenwald geraten?“
Das Schneetreiben wurde heftiger. Bryan stieg ab, um sein Pferd zu führen, denn es scheute nach wie vor und wollte dem Wald nicht zu nahe kommen. Entschlossen holte Bryan ein Stoffband aus seinen Satteltaschen und band es dem Rappen um die Augen. Er hoffte, nun würde er Sam durch den Sturm leiten können. Das Pferd schüttelte unwillig den Kopf und riss sich los.
„Sam!“
Bryan rannte dem Tier hinterher. Da der Hengst nichts sehen konnte, stolperte es nur ein paar Meter vorwärts. Bryan rutschte aus und prallte gegen seinen schweren Körper. Sam schnaubte unwillig, wich ein Stück zurück. Der junge Mann raffte sich auf und zog sich wieder auf den Rücken des Pferdes. Mit gemischten Gefühlen zog er das Band von Sams Augen.
„Sturer Esel!“ schimpfte er. „Dann übernimm du die Führung.“
Sam führte Bryan nahe an eine Schlucht, wo man auf den gefrorenen Wasserfall hinunterblickte. Ein Schatten war unten in der Felswand zu erkennen. Bryan starrte angestrengt nach unten.
„Ist da unten eine Höhle?“
Das Pferd wieherte leise.
„Sam, da ist eine Höhle!“, stieß Bryan hervor. Er stieg ab und führte das Tier den Hügel hinunter. Der Eingang der Höhle war deutlich zu sehen. Durch das zu Eis erstarrte Wasser war der Unterschlupf teilweise bloßgelegt. Bryan sah argwöhnisch auf den zugefrorenen See. Sam würde sich mit seinen Hufeisen alle Knochen brechen, aber es gab nur diesen Weg. Bryan holte eine grobe Decke aus den Satteltaschen. Rasch zerschnitt er sie mit einem Messer und umwickelte die Hufe. Vorsichtig führte er das Pferd über den gefrorenen See, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Als sie die Mitte erreichten, schnappte Bryan erschrocken nach Luft. Wie erstarrt blieb er stehen. Die Schneeflocken wirbelten stärker um ihn, rissen an seiner Kleidung. Bryan spürte es für einen Moment nicht mehr. Unter ihm, eingeschlossen im Eis, lag ein Mädchen. Sein Herz klopfte schneller.
„Mein Gott!“, wisperte er.
Goldfarbenes Haar lag um sie, wie ein sich windender Schleier. Der Ausdruck ihres Gesichtes drückte Verzweiflung aus. Ihre Augen waren geöffnet und die Hände drückten gegen die Eisdecke. Sie bewegte sich nicht.
„Ich wünschte, ich hätte dich retten können“, sagte er traurig. Er warf noch einen letzten Blick auf das erstarrte Mädchen und wollte sich abwenden, als ein sonderbarer Glanz in ihren Augen erschien.
Hilf mir! Eine Stimme erklang in seinem Kopf. Erschrocken stolperte Bryan rückwärts und fiel hart auf das Eis. Sam trottete zu ihm. Der junge Mann rappelte sich auf und schob das Pferd beiseite, näherte sich dem Mädchen. Ihr Ruf ertönte noch einmal und nun besah er sich ihre Gestalt genauer. Bryan ließ sich auf die Knie nieder, legte seine Hand gegen ihre. Das Eis brannte auf seiner Haut.
Sie wirkte auf den ersten Blick wie ein Mensch. Bei näherer Betrachtung sah er ihre überirdische Schönheit. Die Frauen, die er kannte, hatten nichts Vergleichbares. Bryan erkannte plötzlich, dass dort im gefrorenen See eine Fee lag! Er richtete sich hastig auf, wandte sich ab und brachte Sam zur Höhle. Dann setzte er sich an den Eingang und starrte auf die vereiste Mitte des Sees.
Eine Fee …, dachte er.
In den Dörfern erzählte man nichts Gutes über sie. Man sagte, sie seien Naturgeister, die sich aus Eigennutz einen Körper erschaffen hatten und Unheil anrichteten.
„Das ist doch alles nur Gerede“, murmelte er.
Bryan hatte die Feen noch nie bei etwas Bösem beobachtet. Einige Male konnte er von Weitem sehen, wie sie in den Wäldern nach Beeren und Kräutern suchten, doch sie kamen selten an die Menschendörfer heran.
Die Kälte durchdrang mittlerweile seine Kleidung. Er zitterte, doch er war nicht fähig, sich abzuwenden, als würde ein Zauber ihn festhalten. Sam schnaubte und stupste ihn an. Dies löste Bryans Lethargie und er richtete sich schwerfällig auf.
„Ich muss sie befreien“, flüsterte er Sam zu und nahm ihm den Sattel ab. Er legte den Rest der Decke über den Pferderücken und gab ihm etwas Futter, sodass der Rappe zufrieden schnaubte.
Erneut sah Bryan zu dem vereisten See. Nur einen Moment verharrte er unentschlossen. Der junge Mann löste sein Beil vom Sattel und ging mit dem Werkzeug zu dem wundersamen Mädchen. Vorsichtig zerschlug Bryan das Eis, bedacht darauf, die Fee nicht zu verletzen. Fast eine Stunde brauchte er, um ihre zarte Gestalt freizulegen. Bevor sie in den Tiefen versank, zog Bryan sie an sich.
Ihr Körper war steif gefroren. Bryan war sich nicht mehr sicher, ob sie ihn gedanklich gerufen hatte. War sie tot und hatte er es sich nur eingebildet? Da schlossen sich ihre Augen und er sog erschrocken den Atem ein.
Graupel wehte durch die Luft, sodass der Wind schmerzhaft auf Bryans Haut traf. Der Schneesturm hatte ihn eingeholt und Bryan beeilte sich, die geheimnisvolle Fee in Sicherheit zu bringen. In der Höhle fiel er entkräftet auf die Knie. Er zitterte vor Kälte und konnte seine Hände kaum bewegen.
Ich muss ein Feuer entzünden, dachte er.
Bryan zog sich die Handschuhe aus und versuchte, die Finger zu krümmen. Vor Schmerz verzog er das Gesicht. Er ging zu seinem Pferd, das leise schnaubte, und wärmte seine Hände am Fell des Tieres, bis die Taubheit verging. Bryan schleppte sich zum Feuerholz, das hinten am Sattel befestigt war, und schichtete die Hölzer auf. Er brauchte mehrere Anläufe, um mit den Schwefelhölzern die ersten Flammen zu entfachen. Schließlich gelang es ihm und er gab mehr Holz zum Feuer.
Das Mädchen lag bewegungslos da. Kein Ruf ertönte mehr in seinem Inneren. Unsicher näherte er sich ihr, suchte einen Puls an ihrem Hals. Er spürte deutlich den Schlag ihres Herzens.
„Also lebst du wirklich!“
Bryan raffte sich auf und eilte zu seinen Satteltaschen, holte einen Umhang und seine Felldecke heraus. Einen Augenblick betrachtete er das Mädchen unsicher. Sie musste aus der nassen Kleidung heraus, trotzdem missfiel es ihm, sie zu entkleiden. Die Vernunft siegte und er zog ihr Gewand aus, um sie in den Umhang und die Felldecke einzuhüllen. Er selbst zog sich seinen gefütterten Mantel näher um sich und legte sich ans Feuer. Sein Blick schweifte zu der Fee, die kaum atmete.
Der Sturm heulte, als würden Geister vor der Höhle lauern. Im Augenwinkel sah Bryan, wie Sam unruhig seinen Kopf schüttelte. Flackernde Schatten tanzten von dem Lagerfeuer an den Felswänden. Dem jungen Mann fielen die Augen zu und er schlief ein.

Am Morgen wurde Bryan von dem Schnauben seines Pferdes geweckt. Sonnenstrahlen drangen in die Höhle. Die Eiskristalle des Wasserfalls brachen das Licht und tauchten die Zuflucht in ein Farbenmeer. Sofort schaute er auf die Schlafstätte der Fee. Sie war fort. Verwirrt sah er sich um und stockte, als er sie im Schein der Sonne am Eingang erblickte.
Sie war noch immer in seinen Umhang gehüllt und ihr Haar wehte in einem sanften Luftzug. Die Fee wandte sich ihm zu.
Langsam stand Bryan auf und näherte sich ihr, brachte kein Wort heraus.
„Du hast dich verlaufen“, sagte sie mit gesenkter Stimme. „Und du hast mich gerettet.“ Ihr schöner Mund verzog sich zu einem Lächeln.
„Herrin, ich …“, begann er.
Sie hob die Hand und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. „Ich habe nicht viel Zeit, Bryan. Du bist auf dem falschen Weg! Geh zurück über den See und kehre um! Gehst du hier weiter, wirst du nie wieder nach Hause finden. Bleibe nahe am Wald und wende dich bei dem großen Fluss nach links. Gehe immer mit der Sonne im Rücken.“
„Aber …“
Die Fee schüttelte den Kopf, küsste ihn sanft auf die Wange, und ließ seinen Umhang fallen. Dann trat sie aus der Höhle in die Wintersonne.
„Leb wohl, Bryan. Ich danke dir! Vergiss mich nicht. Nur das wünsche ich mir.“
Die Fee hob das Gesicht zum Himmel. „So hole mich endlich nach Hause“, flüsterte sie in den Wind. Ein Wirbel aus Licht umgab sie plötzlich. Ihre Gestalt verblasste, dann war sie fort.
Bryan stand noch lange vor der Höhle und zweifelte an seinem Verstand, fragte sich, ob dies alles ein Traum gewesen war. Als er Sam über den See führte, sah er das Loch im Eis, aus dem er die Fee gerettet hatte.
„Kein Traum …“, murmelte er.

Bryan befolgte ihren Rat, hielt sich an ihre Anweisungen und fand nach einigen Stunden in sein Dorf zurück. Ihm wurde erst jetzt bewusst, wie sehr er sich durch den Schnee verirrt hatte.
Als er zu dem Haus seiner Eltern kam, schlossen diese ihn glücklich in die Arme. Sie hatten ihn schon tot geglaubt. Bryan erzählte nichts von der geheimnisvollen Begegnung, behielt es aber in seinem Herzen.
In der Nacht zum Heiligen Abend hatte Bryan einen Traum: Er befand sich auf einer grasbewachsenen Ebene und das Mädchen stand vor ihm. Es trug ein schlichtes Gewand und Licht umwogte sie, als würden sich Flügel über ihr erheben. Ihr Lächeln traf ihn tief in der Seele.
„So bist du also noch einmal gekommen.“
„Wer seid Ihr?“, wollte Bryan wissen.
„Du kannst mich Ranya nennen, denn das war einst mein Name.“
„Wo bin ich hier?“
„Du träumst, Bryan, und bist dadurch in meine Heimat gekommen. Das geschieht manchmal, wenn man eine Verbindung zu dieser Welt hat.“ Ranya nahm seine Hand. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen: Es war einmal ein Engel. Der wollte mehr als alles andere auf der Welt fühlen, wie ein Mensch. Um dies zu erreichen, tat er Dinge, die nicht gut für die Welt waren. Doch nun war es geschehen und es ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Der Engel kostete vom Leben, aber er konnte nie überwinden, wie er sich dieses gestohlen hatte. Also entschloss er sich dazu, Buße zu tun. Er wusste, er müsste ein Lebewesen uneigennützig retten. Darum sah er in die Zukunft und suchte sich einen jungen Mann aus, der in ferner Zeit zu erfrieren drohte, wenn ihm niemand den Weg nach Hause weisen würde. Dieser Mensch musste selbst entscheiden, ob er diese Hilfe annahm, oder nicht. Würde sich der Mann verweigern, müsste der Engel eine Ewigkeit warten. Er fühlte dennoch, dass das Leben dieses Menschen es mehr als wert war. Er stieg in einen See und wartete. Ein Winter kam, der so kalt war, wie nie zuvor, und die Menschen nannten ihn den Feenwinter.“
Ranyas Erzählung endete und sie sah Bryan erwartungsvoll an.
„Ihr … habt das … für mich getan? Aber was wäre, wenn ich Euren Ruf ignoriert hätte?“
„Du wärst erfroren, Bryan.“
„Und Ihr wärt niemals aus dem See gekommen“, vollendete Bryan ihre Worte.
Ranya nickte. „Nun verstehst du.“ Ihre Stimme wurde von einem seltsamen Hall erfüllt. Die Umgebung verblasste, als würde Nebel aufziehen, und verschwand.
Bryan öffnete die Augen und sah nachdenklich in die Dunkelheit seines Zimmers. Er richtete sich auf und ging in die Wohnküche, wo ein großer Tannenbaum stand. Kerzen waren daran befestigt, und er war reich geschmückt. Bryan ging zum Fenster und sah hinaus. Am Glas waren glitzernde Eiskristalle, und er fuhr gedankenverloren mit den Fingerspitzen darüber. Draußen schaute er auf ein weißes Land. Der Schneefall hatte aufgehört und ein klarer Sternenhimmel überspannte die Umgebung. Vereinzelte Lichter waren in den Wäldern zu sehen, die sich funkelnd fortbewegten. Er kniff die Augen etwas zusammen und betrachtete sie genauer.
„Was ist das?“, murmelte er verwundert. Bryan öffnete die Haustür und trat hinaus. Er fröstelte aufgrund der Kälte und schlang die Arme um sich.
Helle Gestalten liefen langsam durch den nahen Wald. Sie trugen Laternen und ihr Leuchten strahlte zwischen den Bäumen hervor.
„Die Feen …?“
Eines der Wesen verharrte und blickte zu ihm herüber. Für Bryan fühlte es sich an, als würden die Geister der Wälder, wie die Bauern sie auch nannten, seine Heimat verlassen.
„Wo geht ihr hin?“, flüsterte er, als die letzte Fee zwischen den Bäumen verschwand. Er schloss die Tür und setzte sich nachdenklich an den hölzernen Tisch, starrte auf den Weihnachtsbaum.
Der Schaukelstuhl seiner Großmutter knarrte leise und ihm wurde bewusst, dass er nicht alleine war, denn die alte Frau saß dort bei ihm in der Dunkelheit.
„Sie gehen nach Hause, mein Junge“, beantwortete sie seine Frage.
„Nach Hause?“
Die alte Frau lachte ein wenig wehmütig. „In dieser Welt sind sie nicht mehr erwünscht. Zu viele Menschen vertreiben sie mit ihrem Hass.“
Bryan wusste nichts darauf zu erwidern. Sie jedoch sah ihren Enkel an und lächelte.
„Weißt du Bryan“, sagte sie nun mit erstaunlich klarer Stimme, „es wird gesagt, wenn jemand in deinem Leben erscheint, dann geschieht das, damit du etwas lernst. Und oft ist es so, dass eine Frage, die man im Herzen trägt, schon längst von jemandem beantwortet worden ist, und man nur genau hinsehen muss, um dies zu erkennen. Nur durch diese Begegnungen sind wir die Menschen, die wir sind. Auch wenn man sich vielleicht nie wiedersieht … so hat man schlussendlich doch irgendwann verstanden und blickt mit Dankbarkeit zurück – ohne Schmerz.“
Bryan sah seine Großmutter mit gefurchter Stirn an. Was wusste sie von seinem Erlebnis im Wald?
„Werden sie je zurückkehren?“
Die alte Frau erhob sich langsam, entzündete ein Schwefelholz. Das Licht flammte auf und erhellte das Zimmer mit seinem warmen Schein. Sie hielt das Hölzchen an den Docht einer Kerze, die auf dem Tisch stand, und setzte sich wieder, blickte ihren Enkel aufmerksam an.
„Sie werden nicht als Feen zu uns zurückkehren, Bryan.“
Der junge Mann schaute sie verwundert an. „Aber als was denn dann?“
„Eines Tages werden sie ein Teil von uns sein – und doch immer ein wenig anders bleiben.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst, Oma.“
„Ach, das ist nicht schlimm, Junge. Eines Tages wirst du begreifen, sorge dich nicht. Alles kommt zur rechten Zeit.“
02. Dez. 2012 - Tanja Bern
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