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Kinder der Dunkelheit
von Gabriele Ketterl

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
Crossvalley Smith Crossvalley Smith
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Venedig war in Nebelschleier gehüllt. Die Wintersonne färbte sie zartrosa. Heraus ragten die Türme der uralten Stadt. Nur wenige waren mit ihr angekommen. Im Winter gehörte Venedig wieder den Venezianern. Sabine zog ihren blauen Ledermantel enger um sich und machte sich auf zu ihrer kleinen Pension. Signora Martin hatte sich gefreut zu hören, dass sie kam. Die alte Dame stellte keine Fragen. Sabine war froh darüber. Nun stand sie am offenen Fenster, der kalte Wind spielte in ihren langen blonden Haaren und die Dunkelheit senkte sich als schützende Decke über Venedig. Sie konnte wieder atmen.
Man hatte sie vor seinem Jähzorn gewarnt, seiner unkontrollierten Eifersucht. Aber Liebe will so etwas nicht hören. Man will an rosa Wolken glauben. Bald wurde seine Eifersucht zu einer immer stärker werdenden Belastung für ihre Beziehung. Sie durfte ihre Freunde nicht mehr besuchen, durfte nicht mehr ohne ihn aus dem Haus. Aus Liebe wurde Angst.
Dann kam dieser verhängnisvolle Abend. Ihre beste Freundin hatte sie ins Kino eingeladen. Sie versuchte ihn zu erreichen, schickte ihm eine SMS, als er nicht ans Handy ging. Als sie nach Hause kam, fiel er über sie her. Er schlug auf sie ein wie ein Besessener. Über eine Woche lag sie im Krankenhaus. Eine schwere Gehirnerschütterung, eine Platzwunde am Hinterkopf, ein angebrochenes Nasenbein und zahllose Prellungen waren das Ergebnis seiner Attacke. Er hatte sich entschuldigt, doch sie konnte nicht mehr. Ein Mann, der eine Frau schlägt, ist kein Mann. In ihre Verzweiflung hatte sich Wut gemischt. Sie hatte ihre letzte Kraft aufgebracht, um alles zu beenden. Nun blickte sie auf ihre Lieblingsstadt hinaus.
Das profane Geräusch ihres knurrenden Magens brachte sie zurück in die Gegenwart. „Oh, sorry, du bist ja auch noch da. Dich hätte ich fast vergessen.“ Als sie hinaus in die venezianische Winternacht trat, fühlte sie sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder frei und unbeschwert.

Szenentrenner


Luca schnupperte in die Nacht. Er mochte den Winter. Es war ruhiger, die Nächte hatten etwas Märchenhaftes und waren voller Geräusche, die im Sommer im Touristenlärm untergingen. Wasser schlug schwer gegen die Pfeiler der Brücke, die er überquerte. Er stützte sich auf das marmorne Geländer und ließ seinen Blick schweifen. Wie sehr er die Magie der Stadt liebte. Er war Raffaele dankbar, dass er ihn hierher geholt hatte. Der allgegenwärtige Zauber faszinierte ihn. Das Theaterstück, das er gesehen hatte, schwang noch in ihm nach. Shakespeares „Mittsommernachtstraum“ in einer traumhaften Inszenierung.
Zwei junge Mädchen gingen kichernd an ihm vorüber, gingen extra langsamer, um ihn genauer ansehen zu können. Er war sich seiner Wirkung auf weibliche Wesen bewusst. Knapp zwei Meter groß, ein Körper wie ein griechischer Gott (behauptete zumindest Raffaele), das lange, fast schwarze Haar fiel ihm in weichen Wellen bis weit über die Schultern, und sein Gesicht war so ebenmäßig und schön, dass es ihm vor langer Zeit das Leben gekostet hatte. So einfach war das. Man starb, weil man jemandem im Weg war. Ein leicht maliziöses Lächeln kräuselte seine Lippen. Luca richtete sich mit einem leisen Seufzen wieder auf. Er zog den schwarzen Brokatmantel zurecht. Kurz überlegte er, ob er die Mädchen ansprechen sollte. Willige Gefährtinnen für die Nacht. Doch ihm war heute nicht nach oberflächlichem Geplänkel. Ihm war nach einer Frau wie Anna. Noch heute empfand er es als Privileg für diese wundervolle Frau gestorben zu sein. Nachdenklich strich er durch die ruhige Stadt, in der nur einige leise plaudernde Nachtschwärmer seinen Weg kreuzten. Wieder schnupperte er in die Nacht. Etwas war anders heute, etwas, das sein Blut schneller kreisen ließ. Unvermittelt fand er sich im Studentenviertel wieder. Er stand neben einem Restaurant, durch dessen Fenstern warmes Licht auf das Steinpflaster fiel.
Sie sah aus wie ein Engel. Langes, blondes Haar umrahmte ein wunderschönes Gesicht. Dieses Gesicht, aus dem zwei himmelblaue Augen strahlten, zog in magisch an. Jemand musste diese schöne Frau sehr verletzt haben. Sie strahlte Traurigkeit aus. Alleine saß sie an einem Tisch am Fenster. Eine Pizza und ein Glas Rotwein stand vor ihr. Luca stellte sich vor wie schön es sein müsste, mit ihr dort zu sitzen. Sie weckte etwas in ihm, das er seit langem nicht mehr gespürt hatte – sein Herz. Er zog sich zurück in die Dunkelheit und wartete bis sie das Restaurant verließ. Sie fröstelte, kuschelte sich in ihren langen Mantel. Wie er, schien sie sich an den Geräuschen und Gerüchen der Stadt zu erfreuen. Er folgte ihr in nicht zu kurzem Abstand. Eine so auffällig schöne Frau alleine in der Nacht, war nicht nur für seinesgleichen eine Herausforderung.
Er saugte ihre Gefühle in sich auf. Unsicherheit und Angst. Aber auch Wut war da, doch zu wenig, um das andere zu übertönen. An einer Brücke waren Gondeln im Winterkleid festgezurrt. Sie freute sich über den Anblick und ging näher an die Treppe zu dem kleinen Anleger. Der Winter hatte seine Tücken. Das Spritzwasser aus den Kanälen verwandelte die abgetreten Steinstufen in Rutschfallen. Ehe sie stürzen konnte, war er an ihrer Seite und hielt sie in sicherem Griff.
„Vorsichtig, Signora. Ein Bad in dieser Jahreszeit wäre unangenehm.“

Wie konnte sie nur so dämlich sein? Blöde Romantik! Nur weil sie unbedingt die Gondeln ansehen musste. Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie noch immer in den Armen des netten Italieners lag, der sie aufgefangen hatte. Oh Himmel! Jetzt, nachdem sie ihn sich ansah, hatte sie durchaus Lust, diese Stellung noch beizubehalten. Der Mann war so schön, dass es eine Unverschämtheit war. Dass ihr bei seinen Augen ausgerechnet Mokka einfiel, musste an Venedig liegen. Apropos liegen. Sabines gesunder Menschenverstand schaltete sich widerwillig ein und sie zog sich mit Hilfe ihres Retters in eine aufrechte Position. Jetzt lächelte er auch noch. Das machte es noch schwerer, vernünftige Worte zu finden. „Äh, vielen Dank. Mille grazie. Molto gentile!“
„Sie können gern deutsch sprechen. Bitte kommen Sie von dem Kanal weg. Es ist gefährlich, was Sie da tun.“
„Ja, wenn ich darüber nachdenke, weiß ich das auch, aber es sah so schön aus.“
„Das kann ich verstehen. Es freut mich, dass Ihnen meine Stadt gefällt.“
Sabine war verwundert, dass er Venedig als „seine“ Stadt bezeichnete. Aber jemandem mit so einem Lächeln überlässt man gerne ganze Städte.
„Sind Sie in Ordnung?“
„Ja, nachdem ich nicht im Kanal gelandet bin, ist nichts passiert!“
Als Sabine diese Worte sprach, wusste sie schon, dass es eine Lüge war. Klar war etwas passiert. Sie hatte in diese traumhaften Augen gesehen und dieses Lächeln fühlte sich wie heißer Zimtwein an. Oh nein, wenn sie anfing an heißen Zimtwein zu denken, wurde es gefährlich.
„Verzeihung, ich würde mich gerne vorstellen, mein Name ist Luca. Und wen durfte ich gerade im Arm halten?“
Sabine schaffte es gerade noch zu formulieren: „Sabine. Herzlichen Dank für Ihre Hilfe. Ich denke, den Rest des Weges schaffe ich es alleine.“
„Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber eine schöne Frau alleine in der Nacht, das ist nicht ungefährlich. Bitte!“ Sabine war zu erfreut über die „schöne Frau“ als dass sie hätte ablehnen können. Zu dem guten Gefühl, das über sie gekommen war, als sie die Pension in Richtung Pizzeria verlassen hatte, kam nun noch ein anderes. Vertrauen in und Freude über ihren Begleiter, sehr große Freude und ein Hauch Faszination. Leider kamen sie viel zu schnell an. Aber Luca dachte offenbar nicht daran, sich auf ewig von ihr zu trennen.
„Darf ich Sie für morgen ins Theater einladen? Ich würde Sie gegen sieben Uhr abholen?“
Sabine war sehr stolz auf ihr kühl, gefasstes „Ja, gerne. Ich war noch nie hier in einem Theater.“
Über Lucas Gesicht ging ein erfreutes Lächeln. „Fein, dann bis morgen. Und versprechen Sie mir bitte, sollten Sie tagsüber Spaziergänge machen, nicht ins Wasser zu fallen, d'accordo?“
Sabine musste unwillkürlich lachen. „Ich werde heil sein, wenn Sie mich abholen!“ „Gut, bis morgen, schöne Sabine!“ Dass er ihre Hand küsste bevor er im Dunkel verschwand, registrierte sie erst nach einer Weile. Das Grinsen auf ihrem Gesicht, musste ziemlich dämlich aussehen und so beeilte sie sich, auf ihr Zimmer zu kommen, bevor sie sich noch mehr blamieren konnte.

Szenentrenner


Luca verschmolz mit den Schatten der gegenüber liegenden Palazzi. Er fühlte ihr nach. Ihrer Wärme, der Herzlichkeit, die sie umgab, der Unbeschwertheit, die tief in ihr verborgen ruhte. Ein Blick in ihre Augen hatte ihm so vieles gezeigt. Tief sog er die Nachtluft in seine Lungen, in der noch der letzte Hauch ihres Duftes lag. Als er sich endgültig zurückzog, nahm er aus dem Augenwinkel eine schemenhafte Bewegung wahr. Jemand war im Nebenhaus verschwunden. Sicher nur ein weiterer Liebhaber der Nacht.
Als er den heimischen Palazzo betrat, hörte er Gesang aus der Bibliothek. Sein väterlicher Freund Raffaele stand mit dem Rücken zu ihm an der Bar und mixte einen seiner raffinierten Cocktails. Sein langes, gelocktes, silbergraues Haar war im Nacken mit einem schwarzen Samtband gebändigt worden. So konnte man die großen silbernen Creolen sehen, die seine Ohren zierten. Der Gehrock aus Samt harmonierte mit den kniehohen Lederstiefeln. Raffaele sah immer aus, als sei er soeben einem Mantel- und Degenfilm entsprungen. Sah man ihn nachts durch Venedig laufen, glaubten alle er sei auf dem Weg zu einem der vielen Maskenbälle. Er sah immer gut aus – er sah verdammt gut aus.
„Luca, schon zurück? Wo sind denn die Schönen der Nacht?“ Raffaele lächelte anzüglich und seine blauen Augen blitzten unternehmungslustig.
„Ich habe jemanden getroffen!“ Luca seufzte.
„Oh weh!“ Raffaele schnupperte leicht in Lucas Richtung. „ Au, das riecht ja regelrecht nach frischer Liebe! Wer ist sie?“
Luca grinste und deutete auf das Cocktailglas in Raffaeles Hand. „Sag mal, der ist ja wohl kaum für dich, oder? Kümmer dich erst mal um dein Liebesleben für diese Nacht!“
Raffaele starrte kurz auf das Glas in seiner Hand und schlug sich dann mit der flachen Hand an die Stirn. „Verdammt, die Dame hätte ich jetzt glatt vergessen!“ Er lächelte entschuldigend. „Ich bin dann mal eben weg!“ Mit einem gekonnten Augenaufschlag verschwand er und ließ einen kopfschüttelnden Luca zurück.
„Der wird nicht mehr erwachsen, da helfen auch zweitausend Jahre nichts!“

Szenentrenner


Nervosität hielt sie fest in den Klauen. Signora Martin hatte sie mit zum Markt geschleppt und zu Weihnachtseinkäufen. Sie hatte sich von deren Begeisterung anstecken lassen und nun ein wunderschönes blaues Samtmieder erstanden, das perfekt zu ihrer weißen Bluse passte. Signora Martin hatte sie ununterbrochen über Luca ausgefragt, doch viel konnte sie nicht erzählen. Hauptsächlich, dass er ausnehmend schön war. Das ließ die Signora – ganz genussvolle Vollblutitalienerin – gelten.
Als Sabine ein paar Minuten vor Sieben an sich herunter sah, war sie einigermaßen zufrieden mit sich. Ihre Haare trug sie offen und konnte nur hoffen, dass es Luca gefiel.
Beschwingt stieg sie die Stufen hinunter und verließ das Haus. Heute, einen Tag vor Weihnachten, war es kälter als gestern. Der Himmel war sternenklar und frischer Wind spielte mit ihren langen Haaren. Sie band den Mantel zu und trat voller Vorfreude auf die enge Straße hinaus.
„Du billiges Flittchen! Du Miststück! Kaum einen Tag hier und schon hängst du dich an den erstbesten Kerl. Aber warum solltest du dich geändert haben?“
Sabines erstarrte. „Bernd, was tust du hier?“ Sie hatte Mühe einen vernünftigen Satz zu formulieren.
„Was ich hier tue? Was wohl? Beweisen, dass ich recht hatte. Dass du nichts als eine Hure bist, die sich bei jeder Gelegenheit dem nächsten Typen an den Hals wirft!“
„Bernd, bitte! Wir hatten das doch geklärt. Deine grundlose Eifersucht, du machst mich damit fertig. Ich kann nicht mehr atmen.“
„Grundlos?“ Bernd lachte böse. „Das habe ich gestern ja gesehen. Noch nicht richtig angekommen, schon hängst du am Arm eines dahergelaufenen Schönlings!“
Wut stieg in Sabine auf. Wut auf diesen Mann, seinen Hass und seine grundlosen Anschuldigungen.
„Ohne ihn hätte ich gestern im Kanal gelegen. Er hat mich nur aufgefangen als ich fast ins Wasser gerutscht wäre!“
„Und deshalb knutscht er dir die Hand ab? Fast aufgefressen hat der schmierige Kerl dich mit seinen Blicken. Du willst doch jetzt sicher zu ihm, oder?“
„Bernd, bitte!“
„Nichts Bernd bitte, was glaubst du wer du bist? Du gehörst mir, verdammt nochmal!“
Bernd hatte sie mit schmerzhaftem Griff an den Armen gepackt und sie an die gegenüberliegende Hauswand gedrängt.
„Ich gehöre dir nicht. Ich bin nicht dein Eigentum!“
„Ach so ist das?“ In Bernds Augen glitzerte nur noch Hass. Sabine zitterte vor Kälte und Angst. Bitter kroch ihr eine unerklärliche Furcht die Kehle hoch. Todesangst!
Bernd stieß sie in den schmalen Hauseingang und presste ihr seine heiße, schwitzige Hand auf den Mund. Mit seinem vollen Gewicht warf er sich gegen sie und nagelte sie eisern an die alte Holztür. „Schätzchen, du verstehst hier etwas nicht. Entweder ich oder keiner!“
Sie fühlte brennenden Schmerz in ihrer Brust. Dann der gleiche Schmerz noch einmal und schließlich sah sie die blutige Klinge in Bernds Hand. Sie tastete nach ihrer Brust, fühlte etwas Warmes, das in gleichmäßigem Strom über ihre Hand lief.
Als sich ihr Blick zu verschleiern begann, nahm sie ihn wahr. Gut einen Kopf größer als Bernd, riss er ihn mühelos von ihr herunter. Sie hörte ein wildes Knurren, sah wie Bernd gegen die Hauswand flog und langsam daran herunter glitt. Im nächsten Moment war Lucas entsetztes Gesicht über ihr. „Sabine, ich bringe dich in Sicherheit, vertrau mir!“ In seiner Stimme spiegelte sich ihre eigene Angst, ihr eigener Schmerz. Er nahm sie auf seine Arme und dann hatte sie das Gefühl zu fliegen, so rasch lief Luca durch die Nacht.

Szenentrenner


„Raffaele, Hilfe!“
Das Tor des Palazzos fiel krachend in die Angeln. Einen Atemzug später stand Raffaele neben ihm. Ein Blick auf die blutüberströmte Frau in Lucas Armen genügte, um den Arzt in ihm zu wecken.
„Was ist geschehen?“
„Sie wurde niedergestochen. Ihr eifersüchtiger Ex. Ich Vollidiot habe ihn gestern auch noch gesehen, habe ihn für einen harmlosen Nachtschwärmer gehalten.“
Vorsichtig öffnete Raffaele Sabines Mantel. Sein Blick wurde noch besorgter. „Bring sie hoch in mein Behandlungszimmer.“
In Riesenschritten überwand Luca die große Freitreppe. Die Tür des Studierzimmers stand offen. Raffaele schlüpfte direkt hinter ihm hinein. Wie von Geisterhand glitten die mahagonigetäfelten Wände mit den zahllosen Büchern zur Seite und ein Behandlungszimmer, das jedem Krankenhaus-OP Ehre gemacht hätte, kam zum Vorschein. Behutsam legte Luca die bewusstlose Frau auf die Liege. Sabines Atem war fast nicht mehr wahrnehmbar. „Raffaele, sie stirbt, rasch, bitte tu etwas!“
Der hatte sie inzwischen aus den Kleidern geschält und untersuchte bereits die Stichwunden.
„Zwei Einstiche, direkt am Herz der eine und an der Herzwand der andere. Luca, mit normaler Medizin kann ich hier nichts mehr machen!“
„Egal! Das ist alles egal! Rette sie! Sie ist mir wichtig!“
Raffaele nickte nur. Er konnte Lucas verworrenen Gedanken lesen wie ein offenes Buch.
Sabine lag nun nackt auf der Behandlungsliege und Raffaele reinigte mit Bewegungen, die so schnell waren, dass das menschliche Auge sie nicht mehr wahrnehmen konnte, die Wunden.
Als er seinen Ärmel hochkrempelte, wollte Luca protestieren, doch Raffaele fiel ihm ins Wort. „Mein Blut ist stärker und älter. Willst du, dass sie lebt?“
Luca nickte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal Angst gefühlt hatte. Jetzt war sie da, erstickend, erdrückend. Mit einem Skalpell brachte sich Raffaele eine Schnittwunde am Puls bei. Er hielt seine Hand direkt über Sabines Wunden. Sein burgunderrotes Blut begann in die noch immer blutenden Schnitte zu laufen. Die Wunden schlossen sich, doch die Besorgnis in Raffaeles Blick blieb. „Verdammt! Luca, sie ist zu schwach. Sie braucht mehr.“
Luca machte nur eine vage Handbewegung und Raffaele hob seine Hand an Sabines Mund. Vorsichtig, ja zärtlich – so wie er eben mit Frauen umging – umfasste seine Hand Sabines Kopf, sodass das Blut aus seinem Handgelenk in ihren leicht geöffneten Mund lief. Eine schier endlose Weile passierte nichts, dann schluckte sie. Zuerst nur schwach, dann zunehmend gleichmäßig. Endlich schien Raffaele zufrieden. Behutsam legte er Sabines Kopf zurück auf das Kissen. Er schloss seine Wunde indem er kurz darüber leckte und fühlte gleichzeitig ihren Puls. „Gut! Sie gehört dir!“
Luca atmete befreit auf. „Danke Raffaele, alleine hätte ich es nicht geschafft!“
Der weise Medicus stand grinsend neben Sabine und brachte sein Rüschenhemd wieder in Form. „Nichts zu danken. Allerdings kann ich nicht versprechen, dass sie mir – nun da sie meinen köstlichen Lebenssaft schmecken durfte – nicht bis ans Ende ihrer Tage verfallen sein wird. Ich könnte es ihr nicht verdenken, meinem Charisma entkommt man nicht so leicht!“
Luca konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Raffaele, meine Dankbarkeit hat Grenzen!“
„Schade, ich ahnte so etwas!“
Ehe er etwas erwidern konnte, war Raffaele verschwunden.
Luca sah hinunter auf die Frau, die selbst jetzt, gerade dem Tod entronnen, bildschön war.
Liebevoll strich er ihr die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Er würde ihr einiges erklären müssen. Vorsichtig trug er sie in sein Zimmer und legte sie – nicht ohne ihr vorher eines seiner Hemden anzuziehen – in sein Bett.
Dann setzte er sich ans Fußende, betrachtete sie und legte sich seine Erklärung in möglichst einleuchtender Form zurecht. Doch wie erklärt man sechshundertacht Jahre möglichst kurz und einleuchtend?

Szenentrenner


Schwarzer Samt, als eine weiche Decke über ihren Körper gebreitet, darin silberne Ornamente. Ihre Lider waren schwer. Welch Wunder, soweit sie sich jetzt erinnern konnte, war sie tot. Bernd ... er hatte sie erstochen. Sie hatte gefühlt, wie mit ihrem Blut auch das Leben aus ihrem Körper geflossen war. Noch jemand war dort gewesen. Luca!
Der Name stahl sich in ihr Gedächtnis und zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Der schöne Fremde hatte sie in die Arme genommen und hoch gehoben. Das war das Letzte woran sie sich aus ihrem Leben erinnern konnte. Gar kein übler Abschluss.
Ein leises Räuspern war es, das sie dazu brachte, ihre Augen zu öffnen. Der Himmel war nicht schlecht. Insbesondere, da ungefähr zwei Armlängen entfernt Luca saß und sie liebevoll betrachtete.
Moment! Luca? So gern sie es geglaubt hätte, dies konnte nicht der Himmel sein. Sie kniff ihre Augen zu und öffnete sie erneut. Doch, dort saß er, groß und schön, die langen Haare flossen ihm wie ein seidenes Cape über die Schultern. Ganz zu schweigen von diesem Lächeln.
„Wo bin ich? Was ist passiert?“
Welch banale Fragenabfolge. Irgendetwas wesentlich Dramatischeres hätte ihr einfallen müssen, soviel war ihr klar, doch ihr Geist war noch immer unter der schwarzen Samtdecke gefangen.
„Du bist bei uns und in Sicherheit. Raffaele ist ein exzellenter Arzt. Und nein, du bist nicht tot, du lebst!“
Luca rückte näher. Er schien nervös zu sein.
„Aber ich habe Unmengen an Blut verloren. Es lief über meine Hand wie ein Wasserfall. Alles wurde zuerst weiß und dann langsam schwarz. Ich könnte schwören ich bin gestorben.“ Dann erst tastete sie nach den Stichwunden. Sie fühlte nichts. Keine Narbe, keinen Verband, rein gar nichts. Das war unmöglich!
„Luca, bitte sag mir was hier los war. Keine Wunde heilt so schnell.“ Ihre Hand lag noch immer dort wo eigentlich zwei tiefe Stichwunden hätten sein sollen. „Luca, etwas ist hier ganz und gar nicht in Ordnung, bitte sprich mit mir. Ich müsste tot sein, soviel ist mir klar!“
Sie hörte, wie Luca tief einatmete. „Bitte versprich mir, dass du mir einfach nur zuhörst. Ich erzähle dir die Geschichte unserer Art.“
„Eurer Art?“
„Sabine, bitte!“
„Entschuldige!“
„Gut, du wärst jetzt tatsächlich tot.“
Als er ihren entsetzten Blick sah, hob er nur beschwörend die Hände und sie schwieg
„Raffaele ist ein erfahrener Arzt mit außergewöhnlichen Möglichkeiten. Es gibt eine Substanz, die Wunden schnell heilen lässt, Organen dabei hilft, sich zu regenerieren, die Zellen so rasch erneuert, dass dir vom bloßen Zusehen schwindlig würdest.“
„Substanz? Welche Substanz?“
Er verdrehte leicht die Augen, sprach aber ruhig, den Blick fest auf ihr Gesicht geheftet weiter. „Das Blut der Unsterblichen, das in unseren Adern fließt, das seit Jahrtausenden Leben erhält.“ Sabines Unterkiefer klappte nach unten, und ihr Atem ging schneller, doch sie biss sich auf die Lippen und schwieg.
„Unsere Geschichte geht zurück bis zum Hof des Perserkönigs Dareius. Er hatte Gelehrte und Heiler um sich geschart, als eines seiner Kinder lebensgefährlich erkrankte. Einer seiner engsten Vertrauten bat ihn um ein Gespräch, das der König ihm gerne gewährte. So erfuhr er von der heilenden Kraft des Blutes der Kinder der Dunkelheit. Unsere Ahnen schützten sich vor der Sonne, die sie nicht vertrugen, auch aßen sie kaum. Ihr Organismus benötigte Blut als Nahrung! Sie töteten nicht. Sie tranken von Menschen, denen dabei nichts geschah, die sich nur an ein übermächtiges Glücksgefühl erinnerten. Nur weil sie unendliches Vertrauen in Dareius hatten, offenbarten sie sich ihm. Dareius zögerte nicht. Er bat darum, sein Kind zu heilen. Das kleine Mädchen wurde geholt, von unseren Vorfahren in Trance versetzt. Dann öffnete sich der Älteste Heiler die Pulsader und gab dem Kind, das schon zu schwach war, um Nahrung aufzunehmen, davon zu trinken. Die Kleine schluckte erst nach einer Ewigkeit. Dann geschah etwas, das Dareius, der bis dahin schweigend dabei stand, in Verzücken versetzte. Das Kind legte seine kleinen Hände um den ihm dargebotenen Arm und trank in starken gleichmäßigen Zügen aus der offenen Pulsader. Als der Heiler seine Hand zurückzog, bettelte sie darum nur noch einen Schluck trinken zu dürfen. Die Bitte wurde gewährt und als sie ihrem Vater um den Hals fiel, lächelte Dareius. Er hielt sein Kind im Arm und sagte an meinen Vorfahren gewandt: „Ihr habt mir mein Kind wiedergegeben, nun gebe ich euch, was immer ihr benötigt!“ Die Kinder der Dunkelheit waren seit jenem Tag wie Mitglieder der königlichen Familie. Das sahen andere nicht gerne und versuchten sie aus dem Weg zu räumen.“
Ein Grinsen huschte über Lucas Gesicht. „Man stelle sich vor, wie es sich angefühlt haben muss, wenn die Meuchelmörder in der Nacht jemand töteten, nur um ihn in der folgenden Nacht quicklebendig, sehr verärgert und voll übermenschlicher Kraft vor sich zu sehen. Es gab „Blutsklaven“ für unsere Ahnen. Jeder, der dies einmal war, wollte es nie wieder aufgeben. Sie waren wohl die glücklichsten Sklaven der Geschichte, wurden nie krank, alterten kaum. Ebenso wie wir! Die Kinder der Dunkelheit sind unsterblich! Als Dank für all diese Gunst, bekamen Dareius und seine Familie regelmäßig etwas Blut. Er trotzte Giftanschlägen, seine Familie war kerngesund und sie alterten sehr, sehr langsam. Erst Alexander dem Großen gelang es, sie zu entzweien. Unsere Ahnen hatten Dareius vor Alexander gewarnt. Krieg, Größenwahn, Hass und dieser kranke Wahnsinn, der Alexander umgab, waren uns verhasst. Sie wollten Dareius beschützen, doch er glaubte zu lange, dass Alexander keine Gefahr sei. Als er es erkannte, hatten meine Ahnen sich zurückgezogen. Allerdings nicht ohne Alexander noch einige kleine „Geschenke“ mit auf den Weg zu geben.“
Sabine hatte mit großen Augen gelauscht. Jetzt konnte sie sich nicht mehr im Zaum halten. „Geschenke?“
„Nun, wir vertragen keine Sonne, vertragen es nicht normal zu essen, können Speisen nur sehr langsam verdauen. Ein Stück Brot und eine Frucht brauchen in unseren Mägen bis zu zwei Wochen, um restlos verdaut zu sein. In der Sonne, bekämen wir Blasen auf der Haut, Ausschläge würden unsere Körper verunstalten, uns verbrennen. Nur die Dämmerung ist unserer Haut verträglich. Alexander und seine Männer waren ungezügelte Trinker und viele fühlten sich zu Männern hingezogen. In nur einer einzigen Nacht wurde bei fast seinem ganzen Heeresstab ein Blutaustausch vorgenommen. Sie wurden im Laufe von wenigen Stunden zu unsergleichen, ohne es zu verstehen. Sie hatten schwere Krankheitssymptome, vertrugen nichts mehr. Nahrung und Wein faulten in ihren Körpern. Sie waren von Geschwüren überzogen. Im Nachhinein war es ein Wagnis. Sie wären unsterblich gewesen, das was Alexander sich so sehr gewünscht hatte. Aber sie waren zu dumm, zu gierig um zu verstehen. Die Kinder der Dunkelheit haben sich von Persien aus im Laufe der Jahrtausende über die Erde zerstreut. Und hier sitze ich dir heute gegenüber.“
„Willst du mir sagen, du bist über zweitausend Jahre alt?“ Sabine keuchte.
„Nein, nur sechshundertacht Jahre. Raffaele pflückte mich fast ausgeblutet von einem christlichen Kreuz, an das mich die Häscher der römisch- katholischen Kirche genagelt hatten. Mit zahllosen Stichen und diversen Peitschenstriemen, weil ich es als Maure im christlichen Andalusien gewagt hatte, eine spanische Adlige zu lieben. Er hat mich mit seinem Blut genährt, bis ich wieder bei Kräften war und dann brachte er mich hierher. Du wurdest heute durch das gleiche Blut geheilt. Es war wenig, du bist noch immer Mensch. Du wirst etwas sonnenempfindlich sein und dein Appetit eher gering. Allerdings wirst du dich wundern, wie gut es dir geht. Fühl in dich hinein!“
Sabine lauschte in ihr Innerstes. „Ich fühle mich wie nach einem langen, erholsamen Schlaf. Aber der Gedanke, dass ich Blut getrunken haben soll.“ Sie schüttelte sich.
Luca lächelte sie nachsichtig an. „Unser Blut ist nicht wie eures. Es ist für eure Zungen wie Dessertwein. Ihr fühlt euch danach wie berauscht. Unser Blut ist für Menschen wie eine Droge.“
Luca saß jetzt ganz nahe. Sie konnte seinen Duft riechen. Wald, frische Wiese und Zimtstangen. Als er seine Hand vorsichtig ausstreckte und seine langen, schlanken Finger über die Haut ihres Armes gleiten ließ, ging ein Prickeln durch ihren Körper. Sie wehrte sich nicht, als er zärtlich ihren Oberkörper etwas zu sich anhob. Fast quälend langsam näherten sich seine sinnlich schönen Lippen ihrem Mund. Als er dann lächelte, konnte sie die blitzenden Eckzähne sehen. Doch alles, was sie fühlte, war der Wunsch seinen Kuss zu spüren. Als sich seine Lippen weich und voller Zärtlichkeit auf ihre schmiegten, als er langsam und vorsichtig die ihren öffnete und um Einlaß in ihren Mund bat, hatte sie ihre Arme bereits um seinen Hals geschlungen und war sich über eines klar: Kind der Dunkelheit, Vampir – was auch immer – noch nie hatte sie sich so sehr nach jemandem gesehnt wie nach Luca. Als die Glocken von San Marco durch die Nacht klangen, murmelte Luca leise: „Ein solch köstliches Weihnachtsgeschenk hatte ich noch nie – darf ich dich behalten?“
„So lange du willst!“
„Also für heute, morgen und alle Ewigkeit!“

09. Dez. 2012 - Gabriele Ketterl

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