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Beauty of the Beast
von Tanya Carpenter

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
„Geh nicht in den Wald“, hatte die Mutter ihr immer wieder eingebläut. „Dort leben gefährliche Bestien, die nur darauf warten, dich in die Irre zu führen und dich dann zu verschlingen.“
Mit den schauerlichsten Märchen hatte sie Rosalee in Angst und Schrecken versetzen wollen, damit sie nur ja nicht alleine, und schon gar nicht bei Nacht, das lockende Dunkel des Waldes betrat. Dieser Wald, so voller Geheimnisse, Verheißungen und Abenteuern. Sehnsüchtig blickte Rosalee von ihrem Zimmerfenster hinaus, wo in der Ferne die hohen Bäume begannen und flüsternd ihren Namen zu rufen schienen.
Rosalee war kein Mädchen, dem man Angst machen konnte. Solche Schreckgeschichten weckten bestenfalls noch ihre Neugier. Und das Wissen, etwas absolut Verbotenes und für eine junge Dame ihres Standes auch höchst Unschickliches zu tun, war eine Versuchung, der sie nicht widerstehen konnte.
Als ihr Vater noch lebte, hatte er Rosalee immer versprochen, sie mit auf die Jagd zu nehmen, sobald sie alt genug dazu wäre. Dann war er plötzlich nicht mehr zurückgekommen. Keine Spur von ihm. Alle glaubten, dass er von wilden Tieren gerissen worden war. Ein Grund mehr für ihre Mutter, Rosalee davon abzuhalten, in den Wald zu gehen, den ihr Vater so geliebt und der ihn für immer verschlungen hatte.
Manchmal glaubte sie, die Stimme ihres Vaters im Wind zu hören, der sie rief, zu ihm zu kommen. Dann stellte sie sich vor, dass er als Prinz des Waldes immer noch lebte und dort ein besseres Leben führte. Ohne die Regeln und Zwänge des höfischen Adels.

Szenentrenner


An ihrem sechsten Geburtstag schließlich entschied Rosalee, dass sie nun alt genug war. Seit einem Jahr besaß sie ein Pony und war schon mehrfach bei Tage mit dem Stallmeister und ihrer Anstandsdame ausgeritten. Auf Wunsch der Mutter natürlich nie in den Wald, sondern stets nur über Wiesen und an den Feldern entlang. Zeit, ihren Horizont selbständig zu erweitern. Wann, wenn nicht jetzt?
In einigen Monaten würde sie das Landgut ihrer Eltern verlassen und in die Klosterschule St. Patricks ziehen müssen. Dann wäre die Gelegenheit vorüber und ihre Freiheit ebenfalls für lange Zeit beendet.
Tief in der Nacht schlüpfte sie in Hemd und Hose des Küchenjungen, die sie einige Tage zuvor heimlich aus der Waschküche genommen hatte, legte ihren dunkelroten Wollumhang mit der Kapuze an und schlich sich heimlich in den Stall. Es war Januar, und der Pulverschnee knirschte bei jedem Schritt unter ihren Füßen.
Sie wusste, dass der Stallbursche, der heute Nacht Wachdienst bei den Pferden hatte, sich mit der blonden Küchenmagd traf. Was die beiden taten, war Rosalee gleich, für sie zählte nur, dass sie ungestört ihr Pony holen und das Anwesen verlassen konnte.
Goblin schnaubte, als er seine kleine Herrin erkannte. Rosalees Gesicht glühte vor Aufregung. Der Sattel war zu schwer für sie, darum streifte sie dem braunen Pony nur eine Trense über und kletterte von einer Holzkiste auf seinen ungesattelten Rücken.
Als sie den Hof und die ersten Wiesen hinter sich gelassen und den kleinen Bach übersprungen hatte, erfasste eine ungeheure Euphorie von ihr Besitz. Sie hatte es geschafft. Sie war unbemerkt ihrem goldenen Käfig entkommen. Rosalee beugte sich tief über Goblins Hals, gab ihm die Zügel und drückte ihre zierlichen Fersen in seine Flanken. Das Pony schien ebenso übermütig und fröhlich wie seine Reiterin, denn es stob nur so über die schneebedeckten Wege, dass die Eiskristalle um sie herum aufwirbelten und sie in einen magischen Schimmer hüllten. Rosalee fühlte sich wie eine Winterfee.

Szenentrenner


Bald waren sie am Waldrand angekommen, wo sie Goblin zügelte. Der Wallach tänzelte auf der Stelle, doch Rosalee war zunächst überwältigt von den hohen Stämmen und den dunklen Wipfeln. Tatsächlich wirkte der Wald so düster wie in den Erzählungen ihrer Mutter. Es raschelte und knackte im Unterholz. Glühende Punkte starrten sie aus den schwarzen Schatten heraus an. Ein wenig mulmig wurde Rosalee nun doch zumute, aber Goblin ließ sich nicht länger halten und trabte schnurgerade in die Finsternis.
Langsam gewöhnten sich Rosalees Augen an das Dämmerlicht im Wald. Hier und da fiel der bleiche Schimmer des Vollmondes herein und brachte den Schnee zum Leuchten. Sie erkannte bald schon Rehe, Hirsche, Füchse und vielerlei anderer Waldbewohner, die des Nachts unterwegs waren. Eine Eule überflog ihren Kopf und verfehlte sie nur um Haaresbreite, riss jedoch die rote Kapuze von ihren Haaren. Rosalee gewann ihr Selbstvertrauen zurück und ließ Goblin schließlich wieder in einen leichten Galopp fallen. Wie verzaubert schweifte ihr Blick durch den winterlichen Wald. Eine Märchenwelt, doch keine wie sie ihre Mutter geschildert hatte, sondern eine voller Frieden, Stille und wunderbarer Begegnungen.
In ihrer Faszination vergaß Rosalee jede Vorsicht. Tiefer und tiefer drangen sie und Goblin in den Wald vor, bis sich der Weg zwischen Bäumen verlor und sie somit jegliche Orientierung. Da hörte Rosalee mit einem Mal ein klägliches Wimmern.
Abermals zügelte sie Goblin, der nun auch deutlich ruhiger war, und lauschte. Wieder erklang das leise Fiepen. Es kam von einer kleinen Felsenansammlung. Neugierig und misstrauisch zugleich ritt Rosalee näher. Das Jammern wurde lauter, doch sie konnte vom Pferderücken aus nichts erkennen. Kurzentschlossen stieg sie ab und ging zu Fuß weiter. Ihre Stiefel rutschten auf dem überfrorenen Felsen ab, ihre kleinen Hände jedoch fanden in den Spalten Halt. Sie zog sich hoch und blickte auf der anderen Seite hinunter. Zwei Augen leuchteten ihr entgegen. Ein kleiner, zusammengekauerter Schatten klemmte zwischen zwei Steinen fest. Ohne zu zögern rutschte Rosalee hinunter und nahm das Fellbündel genauer in Augenschein. Es war ein kleiner Wolf, dessen Pfote unter dem einen Stein eingeklemmt war. Ängstlich wich er vor Rosalee zurück und winselte erneut, als seine Pfote nicht freikam.
„Oh je, du musst große Schmerzen haben“, sagte Rosalee mitleidig. „Keine Angst, ich tu dir nichts. Warte, das haben wir gleich.“
Beruhigend sprach sie auf den kleinen Wolf ein und kraulte ihn ein wenig, bis er sich entspannte. Als der Welpe still hielt, stemmte sie einen Fuß gegen den Stein, unter dem die Pfote feststeckte, und zog selbige dann behutsam heraus. Zum Dank leckte das Tier ihr die Hände und schließlich auch das Gesicht. Rosalee lachte und drückte ihr Gesicht in das warme, weiche Fell des Wolfsjungen. Dabei fiel ihr auf, dass seine Pfote blutete.
In der Brusttasche des Hemdes, das sie trug, hatte sie eines ihrer Taschentücher dabei. Ihr Vater hatte sie für Rosalee nähen und ihren Namen darauf sticken lassen. Darum trug sie immer eines bei sich, seit er gestorben war. Doch dieser kleine Welpe brauchte es nun dringender als sie. Behutsam wickelte sie ihm das feine Tuch um die Wunde und knotete es fest. Währenddessen rollte er sich vertrauensvoll in ihrem Schoß zusammen.
„So. Jetzt kann es heilen“, sagte sie abschließend und betrachtete ihr Werk.
Sie war so in ihr Tun vertieft, dass sie die Mutter des Findlings nicht bemerkte, bis diese mit tiefem Knurren auf sich aufmerksam machte.
Rosalee erschrak und fuhr herum. Vor ihr stand eine riesige graue Wölfin, deren gelbe Augen glühten. Sie fletschte die Zähne und kam geduckt näher. Rosalee wagte nicht, sich zu rühren. Das Herz pochte so heftig in ihrer Brust, dass sie fürchtete, es würde zerspringen. Mit aufgerissenen Augen und gelähmt vor Furcht starrte sie der Wölfin entgegen, die den Bestien aus den Geschichten ihrer Mutter erschreckend ähnlich sah. Jetzt würde sie also recht behalten. Rosalees Übermut wurde ihr zum Verhängnis und gleich, da war sie sich sicher, würde die Wölfin sie in Stücke reißen.
Doch stattdessen krabbelte der Welpe über ihren Schoß und tapste auf seine Mutter zu, die ihn sofort beschnüffelte und liebevoll mit der Zunge koste. Als der Kleine an ihr hochsprang und bettelnd ihre Schnauze leckte, legte sie sich schließlich hin und ließ ihn an ihren Zitzen trinken.
Ungläubig beobachtete Rosalee das Geschehen und wunderte sich, dass die Wölfin keine Aggression mehr zeigte, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es ihrem Nachwuchs gut ging. Vielleicht würde sie ja doch mit heiler Haut davonkommen, und dieses Tier war keine reißende Bestie, wie ihre Mutter behauptet hatte.
Vorsichtig bewegte sie sich ein Stück auf die beiden zu. Die Wölfin ließ sie nicht aus den Augen, griff aber auch nicht an, während sich Rosalee an dem Felsen entlangdrückte und inständig betete, Goblin möge noch auf der anderen Seite stehen. Als sie dabei auf einen Ast trat, zuckte nicht nur sie zusammen, sondern auch die Wölfin. Mit einem kurzen Wuff-Laut, der so ganz anders klang, als das Bellen eines Hundes, tat sie ihren Unmut kund, packte dann aber lediglich ihren Welpen und trabte mit ihm in die Dunkelheit fort. Von dort, wohin sie entschwand, sah Rosalee gleich darauf ein Dutzend Augenpaare aufleuchten und Sekunden später setzte langgezogenes Wolfsgeheul ein.
Jetzt bekam sie es richtig mit der Angst zu tun. Wenn ein ganzes Rudel hinter ihr her war, hätte sie keine Chance mehr. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung stand Goblin noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte, auch wenn seine Ohren beim Lied der Wölfe nervös zuckten. Geschwind sprang Rosalee von einem Felsen wieder auf seinen Rücken und galoppierte in blinder Flucht davon. Die Bestien gab es wirklich, das wusste sie jetzt. Dieses Mal hatte sie Glück, doch beim nächsten Mal … Der Gedanke, dass ihr Vater womöglich diesem Rudel begegnet war, ließ Tränen über ihre Wangen fließen. Von jetzt an würde sie ein gehorsames Mädchen sein und nie wieder bei Nacht in den Wald reiten. Das schwor sie sich.

Szenentrenner


Mit den Jahren vergaß Rosalee ihr Erlebnis im nächtlichen Winterwald. Nur den kleinen Welpen, dessen Pfote sie verbunden hatte, behielt sie immer im Herzen. Er hatte etwas in ihr berührt, in seiner Hilflosigkeit und dem Vertrauen, das er ihr entgegengebracht hatte. Instinktiv wusste Rosalee, dass dies ein kostbares Geschenk gewesen war, dessen Wert auch von der Furcht vor seiner Mutter nicht gemindert wurde.
Sie wuchs heran, wurde im Kloster St. Patrick zu einer Dame erzogen und kehrte schließlich zehn Jahre später in ihr Elternhaus zurück, um kurz nach ihrem sechszehnten Geburtstag als Debütantin in die Gesellschaft eingeführt zu werden.
Aus dem vorwitzigen Kind von damals war eine schöne, junge Frau geworden. Ihre grünen Augen waren mit goldbraunen Sprenkeln durchsetzt und ihr Haar von der Farbe reifer Kastanien umschmeichelte in weichen Locken ihr Gesicht, die ihre Mutter gerade mit Nadeln zu bändigen versuchte. Mit einem gedankenverlorenen Lächeln strich Rosalee über das Kleid aus rotem und schwarzem Brokat, das eigens für sie geschneidert worden war. Die meisten Mädchen würden in Weiß, Rosa, Gelb oder Flieder auf den Ball gehen. Doch sie hatte sich ein rotes Kleid gewünscht. So rot wie der Umhang, den sie als Kind getragen hatte und der ihr längst zu klein geworden war. Den sie auf der Jagd hatte tragen sollen, zu der es nie gekommen war, weil ihr Vater nicht mehr heimkam.
„Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Vielleicht hätten wir doch das Kleid weniger auffällig wählen sollen“, überlegte ihre Mutter und trat einen Schritt zurück. „Es ist doch sehr gewagt.“
Rosalee lachte nur darüber. „Aber Mama. Es passt doch wunderbar zu den Granatohrringen. Außerdem möchtest du doch, dass ich den jungen Herren auffalle und eine gute Partie mache.“
Sie zwinkerte keck und ließ ihren Fächer aufschnappen, den sie trotz der kühlen Temperaturen sicher brauchen würde. Die Ballsäle, das wusste sie aus den Erzählungen ihrer Cousinen, wurden rasch stickig. Kein Wunder bei hundert Gästen, die den ganzen Abend nichts anderes taten als zu essen und tanzen.
Wenig später brachte sie die Kutsche zum Stadthaus von Rosalees Onkel. Auf dem Weg dorthin malte sich Rosalee aus, wie es wohl sein würde. Ob sie Freundinnen aus ihren Kindertagen wiedersehen und ob sie einander noch erkennen würden? Und wären viele junge Männer da, die ihre Mutter als geeignet erachten konnte? Was, wenn keiner sie zum Tanz aufforderte? Leise Zweifel stiegen in ihr auf, dass das Kleid sie vielleicht doch zur Außenseiterin machte, doch jetzt war es ohnehin zu spät.
Eine halbe Stunde später war die Sorge längst vergessen. Neidvolle Blicke fielen auf Rosalee, die in ihrem roten Kleid, das ihr Haar und ihre Augen ebenso betonte, wie ihre schlanke, frauliche Figur, allen Männern den Kopf verdrehte. Ihre Tanzkarte war bald schon voll und ihr blieb kaum eine Pause, um Atem zu holen.
„Und?“, fragte ihre Mutter, als sie es doch einmal schaffte, sich mit einem Glas Fruchtpunsch an den Rand der Tanzfläche zu stehlen, um wenigstens einen Tanz auszusetzen. „Ist einer dabei, der dein Herz schneller schlagen lässt?“
Rosalee genoss die Aufmerksamkeit jedes jungen Mannes und die höflichen Komplimente, die sie ihr machten. Doch bei keinem verspürte sie die so viel besagten Schmetterlinge im Bauch. Dies wollte sie gerade ihrer Mutter sagen, als ein weiterer Gast angekündigt wurde und sich beide Frauen dem Eingang zuwandten.
In diesem Moment setzte Rosalees Herz einen Schlag aus.
Am Kopf der Treppe, die hinunter in den Ballsaal führte, stand ein hochgewachsener junger Mann in grauem Samt und nachtblauen Hosen. Seine Haltung verriet Stolz, seine Bewegungen waren fließend und leicht. Am überwältigendsten jedoch waren seine grünen Augen. Sie schienen den ganzen Raum mit einem einzigen Blick zu erfassen und blieben dann auf ihr ruhen. Rosalee sah, wie sich seine Nasenflügel blähten, als habe er ihren Duft wahrgenommen, ehe er zielstrebig auf sie zukam. Wie war sein Name? Sie konnte sich nicht erinnern, war zu sehr von seinem Wesen eingenommen.
Vor ihr blieb er stehen, verbeugte sich und küsste galant ihre Hand.
„Darf ich um diesen Tanz bitten?“ Das sonore Timbre seiner Stimme ging ihr durch und durch.
Er lächelte und entblößte dabei makellos weiße Zähne. Aus der Nähe changierten seine Augen zwischen gelb und grün. Eine irritierende Mischung. Sein schwarzes Haar war trotz seiner augenscheinlichen Jugend bereits von einzelnen grauen Strähnen durchzogen und im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden.
Rosalee konnte die Kraft seiner Muskeln spüren, als er sie zur Tanzfläche geleitete und sie dort nah an sich heranzog, um sie sicher über das Parkett zu führen.
Sein Mund kam ihrem Ohr ganz nah. Abermals hatte sie das Gefühl, dass er ihren Duft tief einatmete, ehe sein Atem über ihre Wange strich.
„Dich habe ich gesucht, Rosalee. Dich und keine andere.“
Woher kannte er ihren Namen? Er war nicht dagewesen, als man sie vorgestellt hatte. Doch natürlich, ihre Familie war bekannt. Es durfte sie nicht wundern, wenn er wusste, wer sie war. Umso peinlicher, dass sie seinen Namen nicht mitbekommen hatte.
Hilfesuchend blickte sie sich nach ihrer Mutter um, doch die lächelte nur und winkte ihr zu.
„Ich … ich fürchte, ich war eben … etwas abgelenkt“, stammelte sie. „Und habe … Euren Namen nicht gehört.“
Er lachte leise. „Alexandré.“
Der Name passte zu ihm.
Rosalees Herz flatterte in ihrer Brust wie ein Schwarm Schmetterlinge. Ihre Wangen glühten, und obwohl sie wusste, dass es unschicklich war, ihn so anzustarren, konnte sie den Blick nicht von seinem Gesicht lösen. Die markanten Züge und der dunkle Schatten eines Bartes verliehen ihm ein verwegenes Aussehen. Dazu der schön geschwungene Mund … Rosalee ertappte sich bei der Frage, wie seine Lippen schmecken mochten. Wie es sich anfühlen würde, von diesen Lippen geküsst zu werden.
Die Musik verklang und er bot ihr seinen Arm. Obwohl sie für den nächsten Tanz bereits einen anderen jungen Mann auf ihrer Karte eingetragen hatte, hakte sie sich bei Alexandré unter. Zielsicher führte er sie in Richtung Terrassentür, hinter welcher sich der große Garten des Anwesens befand.
Gemeinsam schlenderten sie durch den winterlichen Garten, der in friedlicher Stille dalag. Von Ferne drang die Musik zu ihnen und mischte sich mit dem leisen Knirschen des Schnees unter ihren Füßen.
„Ich bin so froh, dich gefunden zu haben, Rosalee“, gestand Alexandré.
Seine Worte verwirrten sie. „Das hört sich an, als wäret Ihr lange auch der Suche nach mir gewesen.“
Er lächelte wieder. „Ja, das könnte man so sagen.“
„Aber wir kennen uns doch gar nicht.“ Sie runzelte verwirrt die Stirn.
Sie waren nun weit vom Ballsaal entfernt. Vor Blicken verborgen hinter einem immergrünen Strauch. Und sie waren allein.
Alexandré blieb stehen, fasste Rosalee sanft an den Schultern und drehte sie zu sich um. Unter seiner Berührung wurde ihr heiß, trotz der kalten Witterung.
„Oh doch, wir kennen uns. Und deinen Duft werde ich niemals vergessen. Bis zum Tage meines Todes nicht. Er begleitet mich fast mein ganzes Leben lang.“
Als sie nur weiter verwirrt schwieg, griff er in die Brusttasche seiner Jacke und zog ein weißes Taschentuch hervor. Mit zitternden Fingern nahm Rosalee es entgegen. Sie kannte es, hätte es nicht einmal mehr entfalten müssen. Als sie es doch tat, prangte ihr Name darauf. Kein Zweifel, es war das Taschentuch, mit dem sie vor zehn Jahren einem Wolfswelpen im Wald die Pfote verbunden hatte.
Mit einem Mal fühlte sie einen eisigen Kloß im Magen. Panik flammte in ihr auf. Das konnte nicht sein. Es war unmöglich. Oder doch nicht?
Er schien ihre Gedanken zu ahnen und hielt sie fest, ehe sie vor ihm flüchten konnte.
„Hab keine Angst, Rosalee. Ich würde dir nie ein Leid antun. Doch seit jenem Tag verging keine Sekunde, in der ich nicht an dich dachte. Sogar meine Wolfsgestalt habe ich aufgegeben, um dich zu suchen. Und heute, endlich, habe ich dich wiedergefunden.“
In ihrem Kopf drehte sich alles. Zu unwirklich, um wahr zu sein. Doch Alexandré stand vor ihr in Fleisch und Blut und das Taschentuch war unverkennbar ihres.
Seine Umarmung war sanft, aber dennoch bestimmt.
„Ich weiß, du bist hier, um Braut zu werden. Darum bitte ich dich, die meine zu werden.“
Das ging zu schnell. Viel zu schnell. Doch andererseits … das Bild des Wolfes in ihrem Herzen war nie verblasst. Auch wenn sie sich das Band, das zu diesem fremden, wilden Tier zu bestehen schien, nie erklären konnte. Sollte es wirklich so etwas wie Schicksal geben?
Er trat von ihr zurück und ließ sie los. „Jedes Wort ist wahr, Rosalee. Ich will nur dich allein. Doch du sollst es aus freien Stücken entscheiden, in dem Wissen, wer und was ich bin.
Langsam streifte Alexandré seine Kleider ab. Rosalee hielt den Atem an, als das Mondlicht auf seine nackte Haut fiel und ihn in all seiner Pracht zum Strahlen brachte. Eine Ewigkeit, so schien es ihr, gab er ihr Gelegenheit, ihn zu betrachten und jede Einzelheit in sich aufzusaugen. Hörte er ihr rasendes Herz? Roch er die Erregung, die bei seinem Anblick von ihr Besitz ergriff? Eine unschickliche Gier, ja Lüsternheit. Dann begann er plötzlich, sich zu verändern. Ein Flaum spross aus seiner Haut, wurde rasch dichter, bis seidiges Fell seinen Leib bedeckte. Aus seinem Gesicht formte sich eine Schnauze, lange Reißzähne schoben sich hervor. Ein erschreckender, zugleich jedoch auch faszinierender Anblick. Von wilder Schönheit und animalischer Kraft.
Noch immer wich Rosalee nicht zurück. Seltsamerweise empfand sie auch keine Angst. Stattdessen wurde das Begehren, das in ihrem Inneren pochte, mit jedem Herzschlag stärker. Wie in Trance streckte sie die Hand aus und berührte diesen Wolfsmann. Als er die Arme ausbreitete, schmiegte sie sich hinein, so vertrauensvoll, wie er es als Welpe bei ihr getan hatte. Ihre Lippen streiften seinen Mund. Die Zähne drückten hart gegen ihr Fleisch. Rosalee schloss die Augen, drehte ihm langsam den Rücken zu, lehnte sich an seine kräftige Brust und bog den Kopf zur Seite, bis das Mondlicht ihre blasse Kehle erhellte.
Der Schmerz war pure Süße, rasch vorüber. Seine Zunge heilsam wie Wundermedizin.
Von dem Moment an, da sie Alexandré zum ersten Mal erblickte verging kaum mehr als eine Stunde, bis sie wusste, sie würde für immer an seiner Seite sein.
Es fühlte sich so gut an. So frei von allen Zwängen. Den Wind im rotbraunen Fell, Schnee unter den Pfoten. Und das Lied ihrer Brüder und Schwestern hallte übers Land, entlockte ihr die Antwort, die sich mit Alexandrés Ruf vermischte. Endlich sie selbst, endlich zuhause.

Ja, es gab die Bestien im Wald. Das wusste Rosalee jetzt. Doch statt ihrem Leben, hatten sie ihr nur ihr Herz geraubt. Ein Preis, den zu zahlen es wert war, für das Glück, das vor ihr lag.

25. Jan. 2013 - Tanya Carpenter

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