|
Der Schlüssel zum Schnee von Regina Pönnighaus
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
|
TEXTLUSTVERLAG
A. Bionda
5 Beiträge / 61 Interviews / 20 Kurzgeschichten / 16 Galerie-Bilder vorhanden |
|
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Es war noch früh und ich lag in meinem Bett. Etwas Unerklärliches rief mich hinaus. Es war eigentlich noch warm in meinen Federn, und normalerweise schlief ich lang an einem Sonntagmorgen wie diesem. Das Licht war dämmerig und schien vorsichtig, als wolle es noch nicht entdeckt werden, durch die Ritzen meiner Jalousie. Ich tastete mich hin und zog sie klappernd in den Kasten.
Mein Blick fiel auf den Vorgarten, der den Herbst hinter sich gelassen hatte und nun grau und abgeerntet auf den Winter wartete. Der Apfelbaum war leer. Nicht das kleinste Blatt wollte ihn mehr schmücken und er schien zu träumen. Einige vergessene eingetrocknete kleine Äpfelchen hockten noch in den oberen Zweigen und wiegten in einer leichten Brise.
Ich beschloss mich anzuziehen und trotz der frühen Stunde ein wenig Luft zu schnuppern. Die Tür lärmte ins Schloss als ich sie zuzog, dann Ruhe. Erst war es so dunkel für meine Augen, dass ich stehen blieb um mich daran zu gewöhnen. Dann ging es. Aus unwirklichen Umrissen und gepunkteten Ahnungen bildete sich die gewohnte Umgebung. Die Treppenstufen waren etwas rutschig. Unsicher setzte ich einen Schritt vor den anderen. Fast hätte ich unbeschadet den ebenen Weg erreicht, wenn nicht plötzlich mit einem lauten Geschimpfe ein recht merkwürdiger kleiner Kerl, mit einem knautschigen Gesicht vor meine Füße gesprungen wäre. Ich taumelte, rutschte aus, und rumpelte mit meinem Allerwertesten die letzte Stufe hinab. Mein Gesäß schmerzte. Auf gleicher Höhe mit dem Männlein gelandet blickte ich ihn wütend an.
Wo bleibst du?!, schimpfte er verärgert los, und kam mir mit seiner riesengroßen, knolligen Nase bedrohlich nah. Du hast mich wohl nicht gehört? Ich rufe dich seit Stunden, und bin schon ganz heiser!
Er hatte Recht! Es war mehr ein Krähen als ein Sprechen. Wer zum Teufel bist denn du? Ich drückte den aufdringlichen Zwerg, der furchtbar moderig roch, und fast auf meinem Schoß saß, von mir weg. Eeey!, knurrte er. Das erkläre ich dir unterwegs! Komm! Wir müssen los! Wild sprang er schon den Bürgersteig entlang. Er wedelte hektisch mit den Armen, und deutete mir an mich zu beeilen. Ich rappelte mich entgeistert hoch, zog meine Kleider zurecht und spurtete hinter ihm her.
Das Gras rechts und links des Weges war weiß. Jeder kleine Halm war gesäumt von einem Spitzenrändchen aus winzigen Kristallen. Die gesamte Fläche glitzerte in dem Licht der Straßenlaterne. Die Luft war glasklar und mein Atem ging in feinen Wölkchen auf die Reise sich aufzulösen.
Der Wicht bog hüpfend in den Waldweg ein. Ich folgte ihm ahnungslos. Dunkel, fast bedrohlich taten sich die ersten Bäume vor mir auf. Nein, Angst hatte ich nicht. Ich kannte diese alten Freunde schon mein Leben lang und sie kannten mich. Beraubt ihres Blätterdaches hoben sie sich vom Dämmerlicht ab Der Waldboden war fest. Nur die Herbstblätter raschelten zwischen meinen Schritten. Mein eiliger Lauf wurde abrupt ausgebremst. Der kleine Kerl im grünen Jäckchen sprang mir urplötzlich in den Weg. Wollen wir zwei spazieren gehen? Was denkst du dir, so zu bummeln? Es eilt!
Sein zorniges Gesicht jagte mir Angst ein und ich bereute ihm gefolgt zu sein. Nein!, entfuhr es mir. Nein. So nicht! Sage mir erst einmal wer du bist und was du von mir willst!
Unruhig von einem Bein auf das andere springend kamen die Sätze katzig aus seinem großen Mund. Also, ich kann da auch nichts für. Aber da ich als Einziger in der Lage bin, Menschen aus dem Schlaf zu rufen, musste ich das tun. Weil ES EILT! Die Schneeelfen kommen nicht an den Schlüssel für die Mühle! Das Schneeflöckchen besitzt den Schlüssel über das Jahr und verwahrt ihn gut. Und jetzt will die alte Herbst verhindern dass es richtig Winter wird und schneit! Sie hält das Schneeflöckchen samt Schlüssel in ihrem Brunnen gefangen! Du musst sie da herausholen damit wir die Mühle aufschließen können! Er holte tief Luft und trieb zum Weitergehen an.
Ich lief schneller durch den dämmrigen Wald. Es war mir ein Rätsel was das bedeuten sollte. Warum ich? Und konnte ich diesem Wesen Vertrauen schenken? Es klang ja schon sehr merkwürdig. Klar, die alte Wassermühle kannte ich, doch was zum Teufel hatte sie mit dem Winter zu tun? Am Ende der Kastanienallee gelangten wir zu der großen Anlage des alten Gutshofes, der jedoch weiter im Gelände lag.
Zu meiner Rechten erstreckte sich der erste der drei Seen. An seinen Ufern standen die Gräser noch hoch, und waren mit feuchten Spinnennetzen zum Teil verwebt.
Über dem Wasser schwebte ein weißer Schleier dampfender, eisiger Luft und machte die Szene unwirklich. Wir waren angekommen. An der Mühle pfiff mein Begleiter in grellem Ton auf den knorpeligen Fingern, und aus allen Winkeln erschienen kleine, völlig weiße Wesen mit schillernden Flügelchen. Da ist sie! Da ist sie
! Leise, rauschende Klänge drangen an mein Ohr. Ich ging automatisch in die Hocke um den kleinen Wesen näher zu sein. Wer seid ihr denn?, entfuhr es mir wohl etwas zu laut, denn die feinen Schallwellen fegten die zarten Kreaturen fast um. Oh! Entschuldigung!, fügte ich wieder zu laut hinzu, und wie ein Sturm fuhr meine Stimme durch die Versammlung.
Sprich doch etwas leiser! Bitte!, knurrte der Zwerg. Also ich bin Hugstari und das sind die Schneeelfen. Etwas verlegen kratzte er sich am Kopf. Sie haben dich oft hier gesehen, und glauben, dass sie dir vertrauen können. Nur ein Mensch kann Schneeflöckchen und den Schlüssel aus dem Brunnen holen. Und
Aber wozu ein Schlüssel? Und wer ist die alte Herbst?, unterbrach ich ihn etwas unwirsch.
Eine kleine Elfe kam auf mich zugeflogen und setzte sich auf mein angewinkeltes Knie. Sei leise! Dort siehst du den Brunnen! Da drinnen sitzt sie. Die Herbst konnte sich alle Jahre schon immer schwer von ihrer Jahreszeit lösen! Und nun hindert sie uns daran den Schnee zu bestellen! In der Mühle ist der Weg zur Winterfee. Sie hält oben auf den Wolken die Säcke mit ihren Freudentränen bereit. Über das Jahr werden sie gesammelt, und wenn es richtig Winter wird, lassen die Schneeelfen die Tränen als Schnee auf die Erde fallen. Wenn die Elfen nicht nach oben kommen wird es diesen Winter nicht schneien! Und überlege mal: Die armen Kinder!
Ja, und warum holt der Zwerg nicht den Schlüssel? Ich dachte Zwerge leben unter der Erde, und da macht doch ein Brunnen nichts! Verwirrt blickte ich den Wicht an, dessen Name mir bereits wieder entfallen war.
Dieser errötete und recht kleinlaut äußerte er: Ich habe eine Glühwürmchenallergie. Die ungefähr fünfzigköpfige Gruppe der Elfen begann leise zu kichern. In der Höhle hält die alte Krähe unzählige Glühwürmchen gefangen wegen des Lichtes, und ich bekomme einen furchtbaren Ausschlag wenn ich auf das Viechzeug treffe! Er senkte den Kopf.
Na gut. Muss ich etwas beachten wenn ich es versuche? Ich konnte meine eigenen Worte nicht fassen. Was hatte ich mir gedacht? Wusste ich, wer mich da erwarten würde? Vielleicht sollte ich lieber nach Hause gehen? Doch kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, umwuselten mich freudig, in der Luft tanzende Elfen.
Der Brunnen war angefüllt mit trockenen, braunen Buchenblättern und schien kein Wasser zu führen. Mit einem mulmigen Gefühl stieg ich hinein und rutschte schlagartig durch das Laub hindurch in die Tiefe. Mir stockte der Atem, und ich vergaß glatt zu schreien. Unsanft plumpste ich auf den Brunnenboden. Mann!, entfuhr es mir. Wieder der Hintern! Aua! Ich erhob mich und rieb mir das Gesäß. Es war erstaunlich hell hier unten. Der kleine Tunnel, der durch die Erde führte, war besetzt mit vielen winzigen, leuchtenden Käferchen. Vorsichtig kroch ich durch den erdigen Gang. Nach einigen Metern drang ein lautes Schnarchen an mein Ohr. Ich erkannte in einem etwas höheren Raum ein uraltes, tief schlafendes Weib, mit zerzausten Haaren in einem Schaukelstuhl. Dicht bei ihr stand ein Tisch, auf dem ein winziger, und ein größerer verschnörkelter Schlüssel lagen. Ich hielt die Luft an, und versuchte mich unmerklich, sacht fortzubewegen. Das diese hässliche Person bloß nicht aufwachte. Mir hatte ja schließlich keiner gesagt was passieren würde wenn sie mich erwischte! Mit zittrigen Händen ergriff ich die Schlüssel, ohne meinen Blick von ihr abzuwenden.
Hallo, Hallo! Hier! Hilfe! Ein kleines helles Stimmchen schwebte aus einer Ecke zu mir herüber. Hier bin ich. Holst du mich heraus? Ein kleiner Käfig hing an einer Baumwurzel, die in den Raum hineinwuchs. In ihm stand, die Händchen um die Stäbe gekrallt, ein winziges Elfenmädchen. Schneeflöckchen!, wisperte ich ihr entgegen. Schneeflöckchen, ich hole dich hier heraus. Der klitzekleine Schlüssel passte genau in das Türschloss des Käfigs, und mit einem quietschenden Laut drehte ich ihn um.
Im selben Moment riss die unheimliche Alte ihre schwarzen Augen auf. Ungehalten stürzte sie von ihrem wankenden Stuhl und versperrte drohend den Weg nach draußen. Wer stört die Ruhe der Hera autumnus? Wer wagt es mich zu wecken? Ihre laute Stimme donnerte durch die Höhle und den Gang, sodass es kurz schlagartig dunkel ward, da ein Sturm entstand, der alle Glühwürmchen erschreckte, erlöschen ließ, und wild durcheinander pustete. Das kam mir gerade recht. Ich nahm allen Mut zusammen, schmiss mich auf die Erde, und krabbelte wie verrückt an ihren Beinen vorbei. Dann rappelte ich mich wieder auf, und rannte, Schlüssel und Schneeflöckchen in den Händen, wie vom Teufel gejagt Richtung Brunnenschacht. Grausiges Geschrei und Gezeter folgten uns. Die alte Herbst war uns dicht auf den Fersen.
Dank des zurückerworbenen Lichtes der kleinen Leuchtkäfer, erkannte ich einen Strick der durch die Laubdecke zu mir hinunterhing. Kaum hatte ich Schlüssel und Elfe verstaut, nach ihm gegriffen, und mich auf den anstrengenden Aufstieg gefasst gemacht, wurde ich mit einer Wucht an das Tageslicht gezogen, das ich im hohen Bogen aus dem steingebauten Brunnen flog. Diesmal jedoch wurde mein Sturz weich abgebremst, da ich auf dem dicken Bauch des Hugstari landete.
Er hatte noch das Ende des Seils in der Hand mit dem er mich hochgeholt hatte. Runter! Runter! Wütend nestelte er an mir herum. Dankeschön, entfuhr es mir. Dankeschön, Dankeschön! Den Schlüssel!
Der Zwerg war arg nervös und sprang sofort wieder auf und ab. Schneeflöckchen! Wunderbar!, begannen die Elfen im Chor zu wispern und freudig zu tanzen. Die Begrüßung wurde aber augenblicklich im Keim erstickt, denn das Laub des Brunnens schoss in einer baumhohen Fontäne in die Luft. Es stob in alle Richtungen auseinander. Im kupferfarbenen Blattregen wurde die Gestalt ihrer Verfolgerin sichtbar. Wutentbrannt forderte sie den Schlüssel zurück und ergriff sofort zwei der kleinen weißen Wesen, die bitterlich weinten. Das Weib drohte ihnen die Flügel abzuzupfen.
Nun gut! Hugstari räusperte sich. Hört Hera autumnus! Lasst die beiden frei, und auch unser Schneeflöckchen, dann sollt Ihr den Schlüssel haben.
Nein, nein! Die Schneeelfen waren der Verzweiflung nahe, und auch ich fragte mich, was das jetzt sollte! Wofür war ich da hinuntergestiegen, wenn sie doch mit ihrem Kopf durchkam! Die Alte ließ erst eins frei, bekam dann von Hugstari den Schlüssel, ließ das andere Wesen frei und verzog sich lauthals lachend in ihr feuchtes, kaltes unterirdisches Domizil.
Drei große schwarze Raben stoben schimpfend in die Höhe, ließen das Geländer auf dem sie eben noch gesessen hatten zurück, und flatterten krächzend über den zweiten See in Richtung Gut davon. Psssst! Der Zwerg hielt sich den Finger vor die Lippen. Psssst! Schaut her! Er humpelte zur kleinen Eichentür der Wassermühle, drückte die Klinke nieder und öffnete diese. Ich staunte! Wann hatte dieses schwerfällig erscheinende Männlein das geschafft? Es war niemandem aufgefallen, dass er sie aufgeschlossen hatte. Schlitzohr!, rief ich.
Schneeflöckchen wuselte wie ein geölter Blitz durch die staunende Menge ihrer Artgenossen, sauste durch den Türspalt und war verschwunden. Nach und nach verschwanden auch die Anderen in dem grauen Gemäuer und ließen mich zurück. Huggi, wie ich beschloss ihn zu nennen, machte die Tür hinter ihnen zu.
Etwas erschöpft ließ ich mich auf meinen Lieblingsplatz, auf die Mauer vor dem See sinken um zu verweilen. Mein neuer Freund nahm neben mir Platz. Er legte seinen kurzen Arm um meinen Rücken, und schaute zu mir auf. Gut gemacht haben wir das, nicht?
Ich blickte auf das Wasser, das weiter hinten an die Außenmauern des Gutshofes heranreichte. Das Gemäuer war von dieser Seite, so weit das Auge schauen konnte, vom Wasser umschlungen. Das kleine Ruderboot lag an der gleichen Stelle wie immer im ruhigen Wasser, gab der ganzen Optik etwas Romantisches. Die Trauerweide am linken Ufer ließ nach wie vor ihre Traurigkeit in die leeren Äste sinken, und blickte sehnsuchtsvoll in das Wasser, in dem die dicken Karpfen wohnten. Gleich wird es schneien. Erwartungsvoll blickte Huggi in den Himmel, der inzwischen taghell, und mit dicken Wolken zugestopft war. Es passierte jedoch nichts. Es vergingen fünf Minuten und auch eine Viertelstunde nichts. Er stand auf, lief herum, lugte durch die Tür, kam wieder, schüttelte mehrmals besorgt den großen Kopf, setzte sich wieder hin und wippte mit den kurzen Beinen. Da stimmt etwas nicht! Ein flehender Blick traf mich. Gehst du gucken was los ist? Ich darf nicht! Ich kann als Zwerg da nicht hoch!
Nicht hoch! Was heißt denn das nun schon wieder? So hoch ist die Mühle auch nicht. Kopfschüttelnd sah ich ihn an.
Hoch zur Winterfee! Gucken warum da jetzt noch immer kein Schnee kommt! Sein Ton wurde ernst und maulig.
Aber woher weißt du, dass ich da hoch darf? Mein Ton war auch schärfer als ich eigentlich wollte, und Hugstari wandte sich eingeschnappt von mir ab. Nun sei doch nicht noch böse! Sprich!
Leise, und mehr zu sich selbst schlichen die Worte aus seinem Mund. Ich weiß nur, dass Zwerge da nicht hindürfen
wie das mit Menschen ist kann ich auch nicht sagen
Ach so? Und wenn mir etwas passiert? Ich hinunterfalle, weil ich keine Flügel habe, oder mich weiß der Geier, auflöse oder so? Du bist lustig!
Schweren Herzens ging ich zur Mühle, drückte die Klinke hinunter und schaute hinein. Ein kleiner Raum mit einem Mahlwerk, in dem dämmrig das Licht durch die winzigen Fenster schlich. Durch fleißiges Tagwerk unzähliger Spinnen erschien er geisterhaft. Schon da hineinzugehen würde mich arge Überwindung kosten. Und wer weiß, was dann noch passieren würde! Ich blickte zurück. Als ich jedoch erkannte, dass dieser grobe, kernige Kerl bereits Tränen in den Augen hatte, war für mich klar, dass ich es tun musste. Um mehr Licht in den Raum zu lassen öffnete ich die Tür ganz. Sie quietschte. Als ich eintrat roch es nach Korn und Getreide, und vielleicht war es auch Einbildung, ein klein wenig nach Schnee. Dicht neben dem großen, hölzernen Trichter durch den sonst das fertige Mehl in die Säcke rutschte, vernahm ich mit einem Mal ein lautes Tosen und Rauschen. Um mich herum wurde alles in einen milchigen Schleier gehüllt, und ich spürte wie meine Füße den Boden verließen. Ich hielt meine Ohren zu, denn die Lautstärke war nicht zu ertragen. Auch meine Augen schloss ich vor Angst und betete, dass ich diese Reise überleben möge.
Ein merkwürdiges Gefühl der Ruhe überkam mich, und ich schlug die Augen auf. Um mich herum war alles weiß und wattig. Es saßen überall meine kleinen Schneeelfen herum und hatten verweinte Augen. Sie schluchzten, schnieften, und hielten sich gegenseitig in den Armen.
Schneeflöckchen hatte mich sofort entdeckt und kam zu mir. Es war alles umsonst. Sie nahm einen Zipfel meines Schals und wischte sich damit die Tränen ab. So ein Unglück! Die Winterfee hatte das letzte Jahr über kaum Gelegenheit Freudentränen zu sammeln. Ihr Menschen gebt einfach keinen Grund mehr dazu! Nichts hat ihr Freude bereitet! Die Säcke sind fast leer. Davon wird nicht viel auf der Erde ankommen wenn wir sie ausschütten!
Was kann ich da tun?, wollte ich von ihr wissen, doch sie schüttelte traurig den Kopf und begann erneut zu schluchzen.
Wo ist sie denn, die Winterfee? Mir war da eine grandiose Idee gekommen. Vielleicht konnte ich ja nachträglich noch für Rührung sorgen, und die Säckchen füllen! Schließlich, so fand ich, war es ja schon ein Grund zur Freude, dass ich diesem Spuk Glauben geschenkt hatte, und bereit war allen hier zu helfen!
Sie führte mich hin.
Eine riesengroße, dicke, weiße Frau erhob sich aus den Wattewolken. Wenn sie sich nicht bewegt und plötzlich mit mir gesprochen hätte, hätte ich sie nicht gesehen. Wie kommt ein Mensch hier hoch? Was fällt dir ein? Die Stimme war so laut und dröhnend, wie die Wolkenfrau dick war. Ihr hattet keinen Grund für Freudentränen? Jetzt weinen alle Schneeelfen, und ich wünsche mir auch ein wenig Schnee für die Kinder da unten! Ich hatte einen trockenen Hals und musste husten. Ha, ha, ha! Du willst mir Tränen entlocken? Was die ganze Welt nicht in einem Jahr geschafft hat, willst du jetzt schnell mal nachholen? Ha, ha, ha
Es schien schon zu klappen, denn sie wischte sich einige dicke Tropfen aus den Augenwinkeln, aber ich hatte ja etwas Anderes vorgehabt. Ich baute mich mutig vor ihr auf. Hör mir zu, es ist nur für dich: Ein kleines Klingen, ein Rascheln in der Zeit, es singt die Stille in der Einsamkeit. Natur liegt im Traume, versunken der Klee, auf Hügel und Tal ruht leuchtend der Schnee. Verglast jedes Bächlein, Wassertropfen erstarrt, feuchtes Lüftlein sofort in Kristallen verharrt! Zieht wirbelnde Kreise, tanzt auf gefrorenem Land, hält glitzernden Frost in ihrer Hand. Dampfender Odem flieht in eiskalte Luft, ich atme des Winters Waldesduft. Es flüstern ganz leise die alten Tannen am See: Sieh´ hin, sie ist´s! Die Winterfee! Ja, es schien zu funktionieren! Schon nach den ersten beiden Strophen war die mächtige Frau nicht mehr zu bremsen, und es rannen ihr in Flutbächen dicke Tränen der Rührung aus den riesigen Augen. Meine kleinen Freundinnen wurden gleich munter, und nahmen ihr einen vollen Sack nach dem anderen ab. Freudig und geschäftig schwirrten sie hin und her. Sie ließen es sich nicht nehmen es auch gleich zur Erde zu schütten.
Ich gelangte auf dem gleichen Weg wieder nach unten, wie ich gekommen war. Vor der Mühle tanzte mein lieber Hugstari Hände klatschend durch den Schnee. Im Freudentaumel erblickte er mich, stürmte auf mich zu, sprang mich lauthals lachend an, schmiss mich um, und rollte mit mir über die verschneite Wiese.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, ließ er mich los. Er bedankte sich im Namen aller für meine wunderbare Hilfe. Ich gab ihm dafür einen dicken Schmatzer auf seine große krumme Nase, und klopfte mir anschließend den Schnee von den Kleidern. Als ich von meinem Mantel aufschaute war ich plötzlich alleine. Nur ich, der See, die alte Eiche, und das ruhende Mühlrad, inmitten eingeschneiter Natur.
Die alte Mühle hatte ich schon immer gemocht, doch auch wenn sich Schneeflöckchen, die Schneeelfen und selbst mein guter Freund Hugstari danach nie wieder gezeigt haben, wird sie für mich immer einen ganz besonderen Zauber behalten.
23. Nov. 2013 - Regina Pönnighaus
[Zurück zur Übersicht]
|
|