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Rote Lippen
von Fabienne Siegmund

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
98 Beiträge / 29 Interviews / 31 Kurzgeschichten / 5 Artikel / 66 Galerie-Bilder vorhanden
Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
Ben Blum, Privatdetektiv. Das stand in schwarzen Lettern auf der Milchglasscheibe seiner Bürotür in der Kölner Südstadt, an die Marie an jenem Tag klopfte. Natürlich wusste er da noch nicht, dass sie Marie hieß.
Nun wäre es lachhaft gewesen, Ben einen erfolgreichen Detektiv zu nennen, selbst Detektiv war zu viel. Im Grunde war Ben sein Leben lang ein Versager. Aber er fühlte sich berufen, Detektiv zu sein. Also hatte er das Wort an seine Tür geschrieben, das seinen Kindheitstraum symbolisierte, und er fühlte sich wie Simon Templer oder Columbo.
Es gab sogar einen erfolgreich gelösten Fall in seiner Laufbahn. Den Tod der Nachbarskatze während seiner Kindheit. Doch dies war ein einsamer Triumph gewesen, denn er selbst war dafür verantwortlich: Beim Versuch, vom Ast wieder auf die an den Stamm gelehnte Leiter zu klettern, hatte er diese umgestoßen, und sie war auf die dösende Katze gestürzt. Aber Ben hatte den Fall gelöst, und dieses Erfolgserlebnis ließ er sich nicht mehr nehmen, auch wenn seine Mutter immer wieder behauptete, ein Leiterfall sei noch lange kein gelöster Kriminalfall. Für Ben machte dies keinen Unterschied. Fall war Fall. Und so konnte ihn keiner von seinem Traum abbringen, Detektiv zu werden – oder etwas Ähnliches.
Nach der Schule hatte er es bei der Polizei versucht, schließlich musste man ja etwas Anständiges lernen. Er schaffte die Ausbildung mit Hängen und Würgen. Letzteres war wörtlich zu nehmen, denn die Ausbilderin wäre beim Kampftraining beinah in seinem Würgegriff zu Schaden gekommen. Daher hatte sie lieber die Prüfungsunterlagen abgezeichnet, als ihn noch länger in ihrer Nähe zu wissen. Danach war der Streifendienst gekommen, den Ben als seine glorreichste Zeit bezeichnete. Andere fanden das Wort „Desaster“ passender. Bald hatten die Menschen in dem Ort, wo er Streife fuhr, mehr Angst vor seinen Ermittlungen als vor einem geflohenen Massenmörder. Bei seinen Versuchen, den Verkehr an einer Kreuzung zu regeln, an der die Ampel ausgefallen war, endeten fünf Leute schwer verletzt im Krankenhaus, einer von ihnen später sogar auf dem Friedhof. Und bei einem Banküberfall in der Stadt war es seine Dienstwaffe, aus der sich ein Schuss löste und die einzige Geisel tötete. Immerhin war dem Geiselnehmer so das Druckmittel genommen, doch das interessierte niemanden mehr. Als er dann noch der Polizeihauptkommissarin in den Fuß schoss – natürlich ohne Absicht, er hatte ja nur prüfen wollen, ob die Pistole diesmal gesichert war und sie zu diesem Zweck entsichert – da war es mit der Polizei vorbei.

Aber zurück zu Marie. Und damit dem ersten wirklich kriminalistischen Fall, den er jemals lösen würde. In den Filmen fingen die größten Fälle auch immer mit dem Klopfen einer wunderschönen Frau an. Und Marie war wunderschön.
Sie sah aus wie eine Kopie von Ingrid Bergmann, trug ein graues Kostüm und eine weiße Bluse, deren zwei oberste Knöpfe unverschlossen waren. Ihr helles Haar umrahmte ein blasses Gesicht. Nur ihre Lippen waren geschminkt, ein Ton, der hätte Rot sein sollen, aber seltsam fad wirkte. Überhaupt schien trotz ihrer Schönheit alles an ihr irgendwie trostlos – wie an einem bedeckten Regentag. Dass sie einen Moment später anfing zu weinen, verstärkte diesen Eindruck noch.
Ben stürzte sofort um seinen Schreibtisch und stürmte auf die weinende Schönheit zu, um ihr seine Schulter zum Trost anzubieten. Doch daraus wurde nichts. Er stolperte über eine Teppichfalte und fiel direkt auf Marie. Genauer: Seine Nase landete zwischen ihren Brüsten. Ben genoss es für einen Moment, denn Frauen in solcher Nähe erlebte er sonst nicht häufig. Aber er ahnte die bevorstehende Ohrfeige. Als Detektiv hatte man einen Sinn für so was. Und außerdem tat ihm die Nase weh. Brüste konnten schon sehr eng zusammenstehen. Wahrscheinlich trug Marie einen Wonderbra. Und dass er genau auf ihr Brustbein gefallen war, machte die Schmerzen nicht besser. Wer sich diese anatomische Fehlplanung im weiblichen Körper ausgedacht hatte, gehörte bestraft.
Er richtete sich auf, schnappte nach Luft und lächelte Marie an. „Wie heißen Sie, meine Herzallerschönste?“, fragte er mit einer leicht nasal klingenden Stimme und entging so gerade noch der Ohrfeige, die seinem lädierten Riechorgan bestimmt den Rest gegeben hätte.
„Marie.“ Frauen wie sie hatten nie einen Nachnamen.
„Nun, Marie. Was führt Sie zu mir?“
Ungelenk half er ihr auf das Sofa in der Ecke, stolperte über seinen offenen Schnürsenkel, gab ihr dadurch unabsichtlich einen Schubs, der sie aufs Sofa warf und ihn beinah hinterherschickte. Er konnte es gerade noch verhindern, indem er sich an der Tischdecke festhielt und selbige zu Boden riss. Dabei fiel er auf die Knie und stieß sich schmerzhaft die Schläfe an der Tischecke. Aber immer noch besser, als mit dem Kopf zwischen ihren Schenkeln zu landen, denn er hatte so einen Verdacht, dass dies ihrem Verständnis und dem potentiellen Auftrag ein jähes Ende bereitet hätte.
Während er sich mit dümmlichem Lächeln aufrappelte und fand, dass Marie jetzt noch trister aussah als Momente zuvor, fast schwarz-weiß, beantwortete sie seine Frage. „Mein Mann.“
Ben, gerade im Begriff auf dem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen, sprang empört wieder auf. „Der Schuft! Er betrügt Sie! Ich werde herausfinden, mit wem! Die Beweise für die Scheidung liegen praktisch schon in Ihrer Hand! Meine Dame, ich verspreche, aus dieser Ehe kommen Sie schneller raus, als Sie Aluminiumminimalimmunität sagen können.“
Ben liebte dieses Wort. Es machte ihn so intelligent und attraktiv.
Aber Marie schüttelte den Kopf. „Mein Mann ist tot.“
War Ben bei ihrem Kopfschütteln noch die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, keimte bei dem Satz: „Mein Mann ist tot“, Hoffnung in ihm auf.
„Dann“, schlussfolgerte er, „suchen Sie seinen Mörder.“
Eine Mischung aus Nicken und Schulterzucken war die Antwort. „Eigentlich“, sagte sie, „suche ich nur eine Seele.“
Ben war verdattert, ließ sich das aber natürlich nicht anmerken. Er war Detektiv. Stattdessen sagte er: „Dann werden wir diese Seele für Sie finden. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“
Marie schenkte ihm ein Lächeln, das ihn umgehend aus der Bahn warf. „Das würden Sie tun?“
Ben konnte nur noch, völlig fasziniert von dieser Schönen, nicken. „Was ist mit Ihrem Mann passiert?“, brachte er schließlich heraus.
„Er starb im Dom.“
„Im Dom?“ Fast hätte er bei dieser Frage seine Zunge verschluckt.
Marie nickte. „Ja. Wir sollten ihn dort besuchen.“
„Ihr Mann ist im Dom beerdigt?“ Ben staunte Bauklötze. Niemand wurde im Dom beerdigt.
„Er ist nicht im Dom beerdigt“, erwiderte Marie. „Ich sagte nur, dass wir ihn dort besuchen können.“
Sie griff in ihre Tasche und zog einen Lippenstift hervor. Ben dachte, dass sich ihre Lippen gleich in einen attraktiven Kirschkussmund verwandeln würden, aber außer einem dunkelgrauen Schimmer sah man nichts, obwohl Ben genau wusste, dass es rot sein musste. Verwirrt stellte er fest, dass nun alles grau und trist erschien. Nicht nur Marie. Selbst seine rosarote Kaffeekanne. Er sah in den großen Wandspiegel. Auch sein eben noch blondes Haar war nun aschfarben und sein blau-rotes Hemd hatte verschiedene Töne in Grau angenommen. Es schien ihm, als sei er kopfüber in einen Schwarz-Weiß-Film gesprungen.
Verblüfft wandte er sich Marie zu. „Meine Welt ist schwarz-weiß.“ Marie lächelte so atemberaubend, dass Ben aufstand, sich über den Tisch beugte, um seine hellgrauen Lippen spontan auf ihre zu legen. Sie drehte sich aber in einer fließenden Bewegung weg, und Bens Lippen landeten auf dem leeren Sitzpolster, während sein Körper über den Tisch fiel. Unbeholfen richtete er sich wieder auf und setze sich neben sie. Er liebte Frauen, die sich zierten.
„Sie tragen Lippenstift“, stellte er unnötigerweise fest.
„Roten, ja. Manchmal auch blutroten.“
Das Lied Rote Lippen soll man küssen kam ihm in den Sinn, und ja, er wollte sie küssen, wiederholte aber: „Meine Welt ist schwarz-weiß. Das waren Sie!“ Daran konnte es keinen Zweifel geben.
„Frauen wie ich“, sagte Marie, „bewirken so etwas mitunter.“
„Frauen wie Sie?“, hakte Ben nach, seine Augen klebten an ihren Lippen.
„Frauen aus der Vergangenheit.“ Sie seufzte.
„Ich liebe Frauen mit Vergangenheit“, sagte Ben mit verklärter Stimme.
„Also, nun. Mein Mann – er wurde ermordet.“
„Im Dom?“
Ben rutschte ein wenig näher zu Marie, die abrupt zur Seite wich, aber nickte.
„Ja, im Dom.“
„Wann war das?“ Eine Leiche im Dom hätte doch in den Medien gestanden. Gerade in Köln liebte man solche Aufreißer. Aber er konnte sich nicht daran erinnern.
„Es ist schon eine Weile her“, antwortete Marie vage. Zumindest ein Anhaltspunkt.
„Wie hieß ihr Mann?“
„Ich nannte ihn Heinrich.“
„Erzählen Sie mir, was geschah“, forderte er sie auf.
„Man fand ihn bei den Glocken. Er hat häufiger an der St. Petersglocke gearbeitet.“
„Am dicken Pitter?“
Ein Nicken.
„Er gehörte also zu den Domrestaurateuren?“ Ben fand, er hatte scharfsinnig kombiniert.
Marie schwieg und fingerte in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift.
„Was war die Todesursache?“
Sie biss sich auf die Lippen. „Gift!“
Er stellte die üblichen Fragen, bekam nur wenig befriedigende Antworten und meinte abschließend skeptisch: „Und Sie meinen, wir sollten ihn im Dom besuchen?“
Marie strich ihm sanft mit dem Zeigefinger über die Wange, und beinah wäre Ben einfach aufgesprungen und zum Dom gedüst. Aber der Tisch stand ihm im Weg. Und außerdem galt es zunächst, gründlich recherchieren zu lassen. Er hasste es, sich durch Bücher und Archive zu wühlen. Dazu gab es Studenten. Er verabredete mit Marie einen Termin am frühen Abend, verabschiedete sich von ihr und ließ sich mit der Uni verbinden. So würde er in Kürze wissen, was zu wissen war.
Während er wartete, dachte er wieder an Marie und benötigte einen Moment später ein Taschentuch. Natürlich, um den Schweiß von seiner Stirn zu wischen. Gedanken an schöne Frauen trieben ihm immer den Schweiß auf die Stirn, er war so schrecklich nervös.
Endlich klingelte das Telefon. „Blum.“
„Ja, Hallo. Lydia Schmitz, Studentin der Germanistischen Fakultät.“
Oh je. Germanistische Fakultät und Schmitz. Das war eine Kombination, die ihm gerade noch gefehlt hatte. Solche Damen quatschten einem immer eine Frikadelle ans Ohr. Und jetzt konnte er nicht mal auf Durchzug stellen, er musste ja wissen, was sie herausgefunden hatte. Mist, schoss ihm durch den Kopf, als Frau Schmitz anfing loszuplaudern. Zuerst unwichtige Details über die von ihm genannten Stichpunkte. Marie, Heinrich, Dom, Glocken und so weiter. Natürlich kam auch die alte Legende mit dem Dombaumeister, der seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Die kam beim Dom immer.
Dann aber wurde es interessant. Sie sagte etwas von einem Glockengießer, der unter merkwürdigen Umständen ums Leben gekommen war. Er hieß Heinrich. Seine Frau Marie fand ihn noch in derselben Nacht und benachrichtigte den zuständigen Domküster. Heinrich wurde vergiftet, so hieß es.
Bens Hirn arbeitete auf Hochtouren. Kein allzu vertrautes Gefühl, wie er feststellen musste. Gut, Heinrich und Marie waren keine seltenen Namen, aber es war doch ein merkwürdiger Zufall.
Als Lydia auflegte, rieb Ben sich die Hände. So einfach sollte es immer sein! Die Lösung des Falles lag direkt vor ihm. Er musste nur die Gelegenheit wahrnehmen und am Schopf packen. Vor seinem inneren Auge sah er sie schon vor sich, er griff zu ... und riss die Augen auf. Seine Hand lag flach auf dem Marmeladenbrötchen vom Vortag. Er fluchte. Marmeladenhände waren ein schlechtes Zeichen unter Detektiven. Besonders, wenn sie eigentlich rot sein müssten, jedoch gerade nur schwarz-weiß erschienen.

Szenentrenner


Mit gewaschenen Händen, Gel in den Haaren und mit einem Trenchcoat bekleidet erreichte er den Dom eine halbe Stunde zu früh. So hatte er noch Zeit, sich umzuschauen.
Lydia Schmitz hatte ihm ein paar Fakten über Leichenfunde im Dom erzählt. Mehr als nur einen. Und alle waren vergiftet worden. Aber keine Namen, kein Zeitpunkt – nichts dergleichen.
Er bezahlte den Eintritt für die Dombesteigung. Treffpunkt war bei den Glocken.
Abermals dachte er an Maries Lippen und das Lied, dass man rote Lippen küssen sollte. Er keuchte. Treppensteigen und Träumen – das war nichts für ihn. Um ein Haar hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre rücklings gefallen. Eine dicke Touristin fing ihn auf, und er ging weiter, ohne auf den Tumult hinter sich zu achten, als die Frau fiel und noch einige Besucher mit sich riss. Was kümmerte ihn, was hinter ihm lag?
Er stieg die ausgetretene Treppe hinauf und dachte über den Fall nach. Leichen, verteilt über einige Jahre. Immer wieder Gift. Eine wunderschöne Klientin.
Das schien ein Fall zu sein, mit dem er Berühmtheit erlangen konnte. Reichtum. Glück. Vielleicht Marie.
Erschöpft erreichte er die Glocken, sah sich um, beugte sich über das Geländer, soweit, dass seine Füße vom Boden abhoben. Dabei fiel er fast über die Brüstung, doch ein Mann hielt ihn gerade noch fest und brüllte ihn auf Italienisch an. Ben kümmerte sich nicht darum. Er sah zu den Glocken. Litt er jetzt schon unter Halluzinationen oder ging von ihnen wirklich ein Summen aus? Sie bewegten sich natürlich nicht. Und doch – Ben war sich sicher, ein Lied zu hören. Nicht das mit den roten Lippen. Tot zu sein bedarf es wenig, denn wer tot ist, ist ein König.
Er schüttelte den Kopf, sicher nur Einbildung.
„Sie können sie hören, nicht wahr?“
Erschrocken fuhr er herum und sah Marie. Sie lächelte, am liebsten wäre er auf sie zugetreten.
Diese Lippen.
Aber der Ausdruck in ihren Augen hielt ihn ab. Sie bewegte die Hand, etwas lugte daraus hervor. Eine Lippenstifthülle.
„Sie haben Ihren Mann umgebracht!“, entfuhr es ihm. Marie nickte nur.
„Ihr Mann war Heinrich Ulrich, der Glockengießer der Petersglocke.“
Wieder ein Nicken.
„Aber das kann nicht sein! Die Glocke wurde 1923 gegossen. Sie müssten …“
Marie lächelte. „Sie wollen sagen, ich müsse älter sein? Oder tot?“
Ben nickte. Seine Hände krallten sich an das Geländer. Sie hatte etwas an sich, was ihm Angst machte. Nicht der Lippenstift in ihren Händen, obwohl so gut wie feststand, dass er vergiftet war. Nein, es war etwas anderes. Vielleicht ihre Jugend, die nicht hätte sein dürfen. Oder das unheimliche Lied, das er hörte: „Tot zu sein bedarf es wenig …“
„Nun“, erwiderte Marie, „vielleicht bin ich ja beides.“
Ben, der nicht verstand, was sie meinte, fragte stattdessen: „Sie haben auch die anderen getötet, oder?“
In ihrem Blick war Erstaunen zu lesen. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das herausfinden würden.“
„Ich bin Detektiv“, presste er hervor. Die Melodie in seinem Kopf wurde drückender.
Marie kam auf ihn zu. „Aber ich konnte nichts dafür. Ich wollte nur meinen Mann töten. Ich konnte ja nicht ahnen …“
„Was?“
„Dass mein Mann einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen hatte. Wie einst der Dombauherr.“
„Was ist passiert?“
„Mein Mann hatte mit dem Gehörnten einen Pakt über die Petersglocke abgeschlossen. Wenn sie nicht brechen würde, könne er seine Seele haben. Der Gehörnte schlug in den Pakt ein, doch als die Glocke fertig war, konnte der Teufel die Seele meines Mannes nicht mehr in Empfang nehmen, weil ich ihn zuvor getötet hatte. Mit einem Kuss.“
Sie lächelte Ben an und hob den Lippenstift in ihrer Hand. „Es ist doch die schönste Art, getötet zu werden, nicht wahr?“
Soviel zu Rote Lippen soll man küssen. Lydia Schmitz, fiel ihm ein, hatte von auffallend blutroten Lippen bei allen Leichen gesprochen. Und Marie trug Lippenstift in dieser Farbe – wenn er nicht gerade grau wirkte
Die Melodie in Bens Kopf wurde lauter. Tot zu sein bedarf es wenig …
„Und dann?“
„Dann hörte ich zum ersten Mal die Glockengeister.“
„Glockengeister?“ Herrgott, was war das nun wieder?
Marie nickte. „Sie sind das Herz jeder Glocke. Sie sind ihr Gong und ihr Hall.“
„Woher kommen sie?“
„Sie sind gefangene Seelen. Heinrich wurde zum Geist seiner eigenen Glocke.“ Sie deutete auf die Petersglocke.
„Weshalb haben Sie ihn getötet?“
„Er hat mich betrogen.“
Was hätte es auch sonst sein sollen?
„Und der Teufel?“
„Den habe ich betrogen. Er kam nach Heinrichs Beerdigung, klärte mich über den Pakt auf und beschied, dass ich für die Seele zahlen müsse, die ihm entronnen war.“
„Und Sie zahlten?“
„Natürlich. Wer würde dem Teufel widerstehen? Noch dazu, wo er mir das verlockende Angebot machte, meine Jugend zu erhalten, wenn ich in seine Dienste trat.“
„Was müssen Sie für ihn tun?“
„Seelen fangen.“ Sie seufzte. „Eine Sache stört allerdings ein wenig. Sozusagen eine Nebenwirkung.“
„Sie färben die Welt schwarz-weiß, wo Sie auftauchen“, stellte Ben fest.
Marie nickte. „Ja, kein Zauber, selbst keiner des Teufels, funktioniert ohne ein Überbleibsel aus der Epoche, der man entstammt. Und als die Bilder laufen lernten, taten sie es nun mal in schwarz-weiß.“
Ben hatte das Gefühl, sein Schädel würde platzen. Dieses Lied! Tot zu sein bedarf es wenig …
„Sie werden auch mich töten“, stellte er fest.
Marie nickte lächelnd. „Ja, aber nicht für den Teufel. Für den Chor der Glockengeister.“
Bens Gesicht verzog sich zu einer unausgesprochenen Frage, die Marie sogleich beantwortete: „Nun, Sie vergessen, dass auch mein Mann noch hier ist.“ Sie deutete hinter ihn und winkte. Er sah einen blauen Schimmer unter der Petersglocke.
„Heinrich mag es nicht, wenn Glocken keine Seele haben. Sie hören sich dann traurig an.“
„Und ich soll Teil einer Glocke werden?“
Marie nickte und trat noch einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ihre Lippen glänzten in einem tiefen Rot, das fast schon in Lila überging – selbst in seiner schwarz-weißen Welt.
„Von welcher?“ Sein Blick schweifte zu den Glocken. Unter allen trieb blauer Dunst.
„Nicht im Dom, Sie Narr. Sie heißen Ben! Sie passen nur an einen Ort, wie ich finde.“
Bens Gedanken liefen auf Hochtouren. Was wollte sie ihm damit sagen?
Sie kam noch ein wenig näher, ihr Atem, warm und süß, traf seine Lippen und fast unwillkürlich öffnete er sie, um sie zu küssen. Gift hin, Gift her: Rote Lippen soll man küssen.
Sie aber säuselte: „Haben Sie denn nichts darüber gelesen, dass Big Ben in London seit kurzem keine Melodie mehr hat und die Stimme Britanniens schweigt? Er braucht eine neue Seele.“
Wieder hörte er das Lied. Tot zu sein bedarf es wenig …
Dann küsste Marie ihn, es schmeckte bitter. Im nächsten Moment fiel er.

Szenentrenner


„Ben?“
Verwirrt sah er sich um. Er lag auf dem Boden. In seinem Büro, direkt neben dem Sofa. Die Welt war bunt! Aber die Beule an seiner Schläfe pochte unangenehm.
Ein Gesicht beugte sich über ihn. Marie. Rote Lippen …
„Was haben Sie?“
Schnell schloss er die Augen. Diese Frau brachte Unglück. Sie musste raus – attraktiv hin oder her. Ohne ein Wort packte er sie am Handgelenk, zerrte sie aus seinem Büro und schloss die Tür ab. Sollte sie doch einen anderen finden, der ihr half.

Szenentrenner


20. Sep. 2013 - Fabienne Siegmund

Bereits veröffentlicht in:

CHILL & THRILL
A. Bionda u.a. (Hrsg.)
Anthologie - Modern Crime-Stories - Fabylon - Nov. 2011

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