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Amerika von Norma Feye
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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AGENTUR ASHERA
A. Bionda
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Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Die Dämmerung kündigte sich an, als der Bäckerlehrling Arno seinen voll beladenen Karren durch die Gassen Würzburgs in Richtung der Residenz schob. Das Licht wurde diffuser, und grauer Dunst senkte sich aus dem verhangenen Himmel auf die Stadt.
Arno dachte an die aufwändigen Arbeiten, die in der Residenz stattfanden, um auf Geheiß des Fürstbischofs aus dem gigantischen Rohbau ein Würzburger Versailles zu machen. An grauen, düsteren Abenden wie diesem kam es nicht selten vor, dass das große Treppenhaus von Unmengen von Lampen und Kerzen taghell erleuchtet wurde, weil sich Maestro Tiepolo das Ende seiner täglichen Arbeit nicht von der Tageszeit diktieren lassen wollte.
Wie jeden Morgen und jeden Abend war Arno auch heute unterwegs, um Brot auf die Baustelle zu liefern, damit die zahlreichen Arbeiter in den vierhundert Zimmern zu essen bekamen.
Er schob seinen Karren über den großen Vorplatz und durch den prächtigen Ehrenhof. Er war stolz darauf, dass er jeden Tag durch eines der drei großen Tore das Vestibül betreten durfte, das so groß war, dass selbst eine sechsspännige Kutsche darin wenden konnte.
Der eine Flügel des rechten Tores stand offen, und einladendes Licht leuchtete ihm entgegen. Arno schob den Karren hinein und begann, ihn zu entladen. Wie jedes Mal erschien sehr bald einer der Parliere, um die Verteilung der Brote an die Arbeiter zu überwachen.
Ehe er wieder ging, nahm sich Arno einen Moment Zeit, durchquerte das Vestibül und blieb am Fuße der breiten Treppe stehen. Fasziniert betrachtete er die kühnen Konstruktionen der Gerüste, über die der Maler Giovanni Battista Tiepolo und seine beiden Söhne Giovanni Domenico und Lorenzo hinauf in das gewaltige Gewölbe der Decke gelangten.
Durch heimliches Lauschen und vorsichtiges Fragen auf der Baustelle hatte Arno inzwischen verstanden, dass auf den vier Seiten des Gewölbes die vier Erdteile der Welt verewigt werden sollten: Amerika an der Stirnseite, die man von der Treppe her zuerst sehen konnte, Asien und Afrika an den langen Seiten, und über den großen Türen, durch die man in die prächtigen Säle gelangte, Europa.
In den letzten Wochen hatte Arno mitverfolgt, wie die Herren Tiepolo Amerika entstehen ließen, eine exotische Ansammlung von Wilden aller Art Musiker, Diener und Jäger, Jagdwild und Vögel, eine verwegen wehende Standarte, die grausigen Spuren des Kannibalismus, den die Wilden in Amerika betrieben, und, in der Mitte auf einem Krokodil reitend, eine sagenhafte Königin, die den ganzen Kontinent verkörpern sollte.
Arno sah hinauf
und hielt unwillkürlich den Atem an. Der Maestro hatte die Figur beendet, und sie war unbeschreiblich.
Der Junge verehrte den Maler für seine wundervollen Bilder, aber mit dieser Gestalt von unglaublicher Schönheit hatte sich der Maestro selbst übertroffen.
Arno spürte, wie sein Herz aufgeregt pochte, während er im Licht der zahllosen Lampen seinen Blick über sie gleiten ließ.
Unvergleichlich anmutig lehnte sie auf dem schuppigen Rücken des monströsen Tieres, auf dem sie ritt. Sie war nur spärlich bekleidet, wie es die Wilden immer zu sein pflegten. Einige dunkle Lederriemen, elegant mit Gold verziert, verdeckten gerade das Nötigste und erlaubten dem Blick, über die helle, schimmernde Haut zu schweifen. Aufregende, fremdartige Zeichen bedeckten Teile des makellosen Körpers. Auf dem Kopf trug sie eine üppige Krone aus Federn, Gold und Perlen, von der herab ein zarter Schleier über ihr Gesicht fiel.
Das Gesicht
Arno konnte seinen Blick nicht davon abwenden, es war so unbeschreiblich schön. Schmal und ebenmäßig, mit vollen, geschwungenen Lippen, einer zarten Nase und leuchtenden Augen. Diese Augen waren es, die den Jungen in ihren Bann zogen, sie schienen ihm direkt in die Seele zu sehen.
Jäh wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt, als der Parlier ihm einen Klaps in den Nacken gab.
Steh hier nicht rum, sagte der Mann zu ihm. Pack deinen Karren und mach, dass du raus kommst. Du weißt, der Maestro mag keine Gaffer von der Straße.
Arno murmelte eine Entschuldigung, lief zu seinem Karren und beeilte sich, das Vestibül zu verlassen.
Er war schon fast an der Backstube, als er bemerkte, dass er seine Mütze in der Residenz verloren hatte.
Es war spät in der Nacht, als Arno zur Residenz zurückging. Bald würden die Glocken zur Mitternacht läuten.
Arno zögerte, als er den großen Vorplatz erreichte. Dunkel und einschüchternd erhob sich der gewaltige Schatten der Residenz auf der anderen Seite des Platzes, das Flackern zweier Laternen war der einzige Lichtschimmer und verriet, wo die Wächter ihren Rundgang machten.
Er wartete, bis sie außer Sicht waren, dann rannte er, so schnell er konnte, über den leeren Platz. Keuchend erreichte er die kleine Schlupftür in einem der rechten Torflügel, fand sie zu seiner Überraschung offen und schlüpfte hinein.
Noch immer außer Atem schlich er durch das Vestibül, das im Dunkeln viel mehr wie eine riesige Höhle wirkte. Er spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken rann, aber die Mütze war ein Geschenk seiner Mutter, und er musste sie unbedingt zurückholen. Dort, am Fuße der Treppe, musste er sie verloren haben.
Draußen trieb der Wind die Wolken davon, plötzlich flutete Vollmondlicht durch die vielen hohen Fenster des Treppenhauses und erleuchtete es beinahe taghell.
Arno schaute unwillkürlich zu Amerika auf.
Wieder schienen ihre leuchtenden Augen ihn direkt anzusehen, und, ohne es zu merken, begann er, die Stufen der Treppe hinaufzusteigen.
Der Junge wusste, dass es nicht richtig und wahrscheinlich sogar verboten war, sich des Nachts hier aufzuhalten, aber der Wunsch, Amerika aus der Nähe zu sehen, war stärker. Vorsichtig kletterte er die Leitern des Gerüsts hinauf, schlich die federnden Bretter entlang und kam der wunderbaren Malerei immer näher.
Da, plötzlich, wandte sie den Kopf und sah ihn direkt an.
Mit einem erschrockenen Aufschrei taumelte Arno rückwärts, geriet viel zu nah an die Kante und spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Panisch fuhr er mit den Armen umher und suchte nach Halt, dann plötzlich spürte er einen festen Griff um sein Handgelenk, und er wurde mit Schwung auf das Gerüst zurückgezogen.
Keuchend und mit klopfendem Herzen versuchte er, sich von dem Schrecken zu erholen, da ereile ihn schon der nächste.
Amerika stand vor ihm und hielt noch immer seine Hand.
Was
?
Arno wollte vor der Erscheinung zurückweichen, doch mit überraschender Kraft hielt sie ihn weiter fest.
Verwirrt und ängstlich versuchte er, an der Gestalt vorbei zum Fresko zu blicken, und tatsächlich: Der schuppige Rücken des Krokodils war leer.
Amerika hatte das Gemälde verlassen.
Da sie noch immer seine rechte Hand festhielt, bekreuzigte er sich eilig und unbeholfen mit links, einmal, zweimal, dreimal, doch die Erscheinung zeigte sich davon völlig unbeeindruckt. Sie legte nur fragend den Kopf zur Seite und betrachtete ihn prüfend.
Ihr Blick war freundlich, neugierig, ein wenig verschmitzt, und ganz und gar nicht der einer bösen Erscheinung
soweit Arno das beurteilen konnte.
Als Amerika davon überzeugt schien, dass er nicht mehr abzustürzen drohte, ließ sie seine Hand los, und zu seiner Überraschung verspürte Arno so etwas wie Bedauern deswegen.
Langsam, fast schüchtern, begann sie, ihn anzulächeln, und unwillkürlich lächelte er zurück. Wie wunderschön sie war, ihre Haut schimmerte im Mondlicht und ihre Augen strahlten in einer Farbe, die er nicht benennen konnte.
Sacht schob sie sich an ihm vorbei und ging zur Leiter, wo sie sich umwandte und ihm bedeutete, ihr zu folgen.
Wie im Traum stieg er hinter ihr die Leitern hinunter und ging ihr nach. Vor einer der Türen zum Weißen Saal blieb sie mit der Hand auf der Klinke stehen und sah ihn fragend an. Arno war so versunken in ihren großen Augen, dass er nur nickte.
Gemeinsam traten sie ein.
Überwältigt von solcher Pracht, wie er sie nun zu Gesicht bekam, blieb Arno staunend stehen. Amerika trat sacht an ihn heran und schob ihre Hand in seine.
Mit der anderen zeigte sie fragend in Richtung Kaisersaal, und nur zu gerne folgte er ihr auch dorthin.
Das Mondlicht reichte nicht weit in den Saal hinein, doch es genügte, um das Gold der üppigen Stuckarbeiten zum Schimmern zu bringen und die satten Farben der Decken- und Wandgemälde zu erkennen.
Amerika entzog ihm ihre Hand und lief lautlos auf bloßen Füßen durch den Saal, den Blick staunend zur Decke gerichtet, und Arno konnte nicht anders, als ihr zu folgen. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie ihm spielerisch aus, schenkte ihm ein neckisches Lächeln und lief zur anderen Seite des Saales.
Auch Arno musste unwillkürlich lächeln, als er sich auf das Spiel einließ und ihr hinterhereilte.
Lachend schlüpfte sie durch eine Tür in der Stirnseite des Saales, nicht, ohne ihm zu bedeuten, ihr zu folgen.
Durch einige zum Teil noch im Ausbau befindlichen Zimmer, deren zukünftiger Prunk aber bereits jetzt zu erahnen war, erreichten sie das Spiegelkabinett.
Der Mond war inzwischen weitergewandert, und so fiel sein sanftes Licht nun durch die Fenster und brach sich in den Hunderten von Spiegeln an Wänden und Decken.
Für eine Weile verharrten sie unter dem großen Spiegel im Scheitelpunkt der gewölbten Decke und sahen sich selbst zu, wie sie auf sich herunterblickten.
Es dämmerte bereits, als sie ins Treppenhaus zurückkehrten. Im Laufe der Nacht hatten sie unzählige Zimmer des Palastes erkundet, fertige und unfertige, solche, in denen noch nicht einmal die Ziegelwände verputzt waren, ebenso wie solche, deren fertiggestellte Pracht dem Betrachter den Atem verschlug.
Eine plötzliche, tiefe Traurigkeit erfasste Arno, als er vor Amerika die Sprossen der Leitern erklomm. Er begriff, dass sie mit jedem Schritt, den sie taten, näher an das Fresko gelangten, was bedeutete, dass die Trennung von ihr unmittelbar bevorstand.
Aus irgendeinem Grund zweifelte er keinen Moment daran, dass sie in ihr Gemälde zurückkehren und ihn allein zurücklassen würde.
Der Gedanke schmerzte ihn.
Sollte er sie für den Rest seines Lebens dort oben wissen, angestarrt von den Mächtigen und Reichen, die die Residenz bald bevölkern würden, für ihn aber auf ewig unerreichbar?
Vielleicht, so versuchte er sich zu trösten, war das alles ja nur ein Traum. Vielleicht war er ja tatsächlich vom Gerüst gestürzt, hatte sich schwer den Kopf angeschlagen und würde bald ohne Erinnerung an diese Nacht in einem Hospital erwachen.
Nein, das wollte er nicht. Er wollte die Zeit mit ihr nicht vergessen. Doch genauso wenig wollte er an jedem Tag, an dem er Brot lieferte, zu ihr hinaufsehen und den Schmerz einer unerfüllbaren Sehnsucht spüren.
Amerika schien seine Gefühle zu spüren, weich und tröstend legte sich ihre Hand in seinen Nacken, als sie den verwaisten Rücken des Krokodils erreichten. Behutsam hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange und strich ihm sanft eine Träne aus dem Augenwinkel.
Mit einem letzten Blick aus ihren großen Augen wandte sie sich um und trat in das Fresko hinein.
Warte!
Amerika wandte sich zu ihm um, lächelte und streckte ihm aus dem Gemälde die Hand entgegen.
Als sich ihre warmen Finger um seine legten und ihn sachte zogen, zögerte Arno nicht einen Herzschlag lang und folgte ihr in das Fresko.
Am Morgen fanden die Maler Giovanni Domenico und Lorenzo ihren Vater Giovanni Battista Tiepolo aufgebracht und fassungslos am Fuße der großen Treppe. Er hielt eine verschlissene Wollmütze in der Hand, die er auf dem Boden gefunden hatte, wie er sagte, und deutete, um Fassung ringend, zum Fresko hinauf.
Auch die beiden Brüder waren wie vom Donner gerührt, als sie sahen, was ihr Vater meinte: Die Amerika war verschwunden. Nur ein verwaister Krokodilrücken kündete von dem Ort, an dem sie noch am Abend zuvor gesessen hatte.
Niemand verlor je ein Sterbenswort über das Verschwinden der Amerika. Der Maestro ersann eine neue Schönheit und setzte sie in das Fresko.
Auch das Verschwinden des Bäckerjungen wurde nie aufgeklärt.
Es geht jedoch das Gerücht, dass in Vollmondnächten ein aufmerksamer Betrachter die Gesichter eines verliebten Paares im Fresko entdecken kann, das abenteuerlustig die vier Kontinente erkundet.
08. Nov. 2013 - Norma Feye
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