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Der Junge aus Staub von Fabienne Siegmund
Elke Brandt © http://www.manticor-illustrations.de Melody Rivers kniete auf dem Boden und malte mit einem kleinen Stock Bilder in den Sand. Einen Tannenbaum, Sterne, einen Schlitten, gezogen von Rentieren. Laute Dinge, die es nicht mehr gab und die vergessen waren, seit die Sonne explodiert war und die Städte der Welt zu einer Stadt zusammengeschmolzen war.
Threendon, die Dreifache.
Drei Ebenen hoch, eingeteilt in reich und arm und das Dazwischen. Ober-, Mittel- und Unterstadt.
Melody und ihre Großmutter lebten auf dem Grund von Threendon, tief unten, wo die Erde warm geblieben war. Nur manchmal stiegen sie hinauf in die Oberstadt um nach Dingen zu suchen, die jemand verloren oder fortgeworfen hatte und die sie später auf den Märkten der Mittelstadt gegen Essen eintauschen konnten. Denn in der Unterstadt gab es nichts, nur verbrannte Erinnerung und eingeschmolzene Vergangenheit und von beidem wurde man nicht satt.
Bevor die Sonne explodiert war und der neue Regent die Sterne mit Raketen vom Himmel geholt hatte, war Lyra Thorne jemand gewesen, der in die Oberstadt gehört hatte. Jetzt aber zog sie ihre Enkelin auf, weil ihre Eltern den Sonnensturm nicht überlebt hatten.
Heute lebte sie in einer Ruine, wo es einen Raum gab, der noch ein Dach hatte.
Sie hatte das siebenjährige Märchen fortgeschickt, um in Ruhe aufräumen zu können.
Das tat sie oft, denn sie wusste, dass ihre Enkelin immer sorgsam nach den gläsernen Sternen Ausschau halten würde, die die Augen und Ohren des Regenten waren. Manchmal verschwanden Menschen, weil der Regent etwas durch die gläsernen Sterne gesehen oder gehört hatte, das ihm nicht gefallen hatte.
Meistens malte Melody die Dinge, die sie aus den Geschichten kannte, die Lyra Thorne ihr erzählte. Die alte Dame, die jeden Tag die Blätter eines uralten, längst abgelaufenen Kalenders umdrehte, um nie zu vergessen, welcher Tag war, konnte großartige Geschichten erzählen.
Melody mochte sie alle, besonders aber liebte sie jene, die von Weihnachten erzählten. Jenem Fest, das man in der alten Welt gefeiert hatte.
Heute war der 23. Dezember.
Morgen wäre Weihnachten gewesen. Nicht, dass es eine Bedeutung hatte. Weihnachten war vergessen.
Gerade malte sie eine Kugel an den Tannenbaum, als sie eine Bewegung in den Augenwinkeln wahrnahm, genau dort, wo der weit entfernte Himmel es schaffte, sein weißes Licht bis hinab in die Unterstadt zu schicken.
Einen Moment zögerte Melody, sich umzudrehen. Sie ahnte, was dort war. Sie waren schon immer da gewesen, wenn Staubkörnchen im Himmelshell getanzt hatten. Gesichter. Traurige Gesichter aus flimmerndem Staub.
Als sie noch kleiner gewesen war, hatte sie versucht, mit ihnen zu spielen und geglaubt, einen Freund zu finden. Aber die Gesichter im Staub waren zu traurig gewesen und zu schnell verschwunden. Ihre Großmutter hatte ihr geglaubt und ihr erklärt, dass die Gesichter im Staub die Erinnerungen an die Engel seien, die es einst gegeben hatte. Sehr traurig war sie dabei gewesen, und Melody hatte verstanden, dass Engel etwas sehr Schönes und Gutes gewesen sein mussten. Die anderen Kinder aber hatten ihr nicht geglaubt. Sie hatten über sie gelacht, sie verspottet und Melody Rivers zu einer Außenseiterin gemacht.
Melody seufzte. Die Gesichter im Staub sollten ihr egal sein. Und doch sah sie immer wieder hin, kurz nur, und jedes Mal nahm sie die Traurigkeit in den Staubaugen ein bisschen gefangen.
Auch jetzt sah Melody wieder hin. Und erstarrte.
In der Lichtsäule war nicht einfach nur ein Gesicht. Da war ein Junge. Vollends aus Staub.
Atemlos trat Melody näher. Wer bist du?, flüsterte sie.
Der Junge gab keine Antwort. Er sah sie nur traurig mit goldenen Augen an. Melodys Gedanken rasten. Ihre Großmutter! Sie mussten zu ihr!
Du musst mit mir kommen, flüsterte sie.
Der Junge reagierte nicht.
Plötzlich hörte Melody ein Surren und fuhr herum. Nicht weit von ihr schwebte ein Glasstern. Melodys Augen weiteten sich. Schnell, wisperte sie, griff nach der Hand des Staubjungen und zog ihn mit sich, nicht weiter darüber nachdenkend, warum sie eine Hand aus Staub überhaupt greifen konnte. Nur fort von hier. Sie rannte so schnell sie konnte die wenigen Meter zu dem kleinen Durchgang, der zu ihrem Zuhause führte und verschwand hinter den schützenden Mauern.
Dort ging sie langsamer. Mit jedem Schritt wuchs das ungute Gefühl in ihr, dass etwas nicht stimmte. Und als sie verstreuten Kalenderblätter und die leblose Hand hinter der offenen Tür auf dem Boden sah, wurde das Gefühl zu einer Gewissheit.
Mit einem Schrei löste sich Melody von dem Jungen und stürmte in den kleinen Raum.
Lyra Thorne lag auf dem Boden, eine Hand an die Brust gepresst. Sie hielt ein Kalenderblatt.
Ihr Atem ging schnell und flatternd. Keuchend fiel Melody neben ihr auf die Knie.
Was ist passiert?
Lyra Thorne schenkte ihrer Enkelin ein mattes Lächeln. Das Herz, mein Schatz. Ich glaube, es hat vergessen, wie man richtig schlägt.
Sie schloss die Augen und Melody, die in dieser Sekunde genau wusste, dass ihre Großmutter für immer fortgehen würde, schossen die Tränen in die Augen.
Nein, schluchzte sie und rüttelte an den Schultern der alten Frau. Nein, du darfst nicht sterben. Ich habe einen Jungen mitgebracht, aus Staub. Er hat goldene Augen. Ich glaube, er braucht meine Hilfe, schau doch, Oma, bitte!
Die alte Frau öffnete die Augen. Einen Jungen aus Staub sagst du? Ihre Stimme klang schrecklich leise und brüchig. Melody nickte, stand auf und holte den Jungen, der immer noch im Gang stand.
Lyra Thorne betrachtete den Jungen aus Staub. Ihre Augen wurden groß. Du hast einen Engel gefunden, flüsterte sie. Tränen liefen über die runzligen Wangen. Ich wusste es, mein Kind, schon seit du mir von den Gesichtern im Staub erzählt hast, wusste ich es. Ihre Worte überschlugen sich fast, und Melody drückte ihre Hand, um sie zu beruhigen. Du musst ihm helfen, Melody. Bitte. Es ist wichtig. Du musst ihm helfen. Bring ihn zu Old Santa. Er wird dir erklären
Lyra Thorne keuchte und krümmte sich zusammen.
Melody konnte ihren wild und unstetig trommelnden Herzschlag spüren. Bitte, beruhige dich
ich rufe den Arzt, ja? Ich renne gleich los.
Lyra Thorne schüttelte den Kopf. Nein, mein Schatz. Dafür ist es zu spät. Geh zu Old Santa. Nimm den Engel mit dir. Pass auf ihn auf. Versprich es. Und vergiss nicht: Es braucht nur einen Funken, um ein Feuer zu entzünden. Einen einzigen.
Aber, begann Melody, doch dann versprach sie es und Lyra Thorne nickte zufrieden.
Nimm die Wünsche mit, flüsterte sie mit schwacher Stimme und drückte ihrer Enkelin eine kleine Glasflasche in die Hand.
Melody schluckte. Die Wünsche waren der größte Schatz ihrer Großmutter. Ein Hauch alter Magie, verpackt in einem verkorkten Fläschchen aus Glas. Pusteblumen, dafür gemacht, auf dem Wind in den Himmel zu reisen. Jeder Samen war ein Wunsch.
Melody wusste, dass sich noch drei Samen in der kleinen Flasche befanden.
Nimm sie, wisperte Lyra Thorne, und denk daran: Weihnachten ist die Zeit der Wunder.
Sie schloss Melodys Hand um die Flasche und ließ ihren Kopf zurücksinken. Ihr Herzschlag verstummte.
Nein, flüsterte Melody, dann schrie sie, so laut und lange, bis ihr die Tränen kamen und ein schrecklich vertrautes Surren sie daran erinnerte, dass da ein Junge aus Staub neben ihr stand, dem sie helfen musste.
Sie schaute in den Gang.
Ja, dort schwebte ein gläserner Stern. Noch war er zu weit weg, aber er würde näher kommen.
Melody sprang auf, griff nach der Hand des Jungen und zog ihn unter den schweren, alten Holztisch in der Mitte des Zimmers.
Schon flog der Stern surrend an ihnen vorbei, bis er über Lyra Thorne schwebte. Sein fahles Licht ließ den Tod noch wirklicher erschienen. Melody presste sich eine Hand auf die Lippen.
Der Stern schwebte eine Weile, dann drehte er sich langsam. Melody spürte den tasteten Lichtstrahl und hielt den Atem an.
Plötzlich wurde es dunkel. Für den Sekundenbruchteil erlosch der Glasstern, nur um gleich wieder aufzuleuchten feuerrot.
Melody schluckte. Der Stern hatte den Jungen aus Staub gesehen. Irgendwie.
Sie fluchte. Jetzt war es egal, was der Regent hörte. Sie sah den Jungen aus Staub an. Wir müssen laufen, flüsterte sie ihm zu. So schnell es geht. Okay?
Der Junge sah sie nur an.
Melody stöhnte auf, rannte aber einfach los, den seltsamen Jungen im Schlepptau.
Old Santa, hatte ihre Großmutter gesagt. Melody kannte ihn. Er lebte in der Mittelstadt.
Sie blickte sich nicht um, hörte aber den Klang von mechanischen Schritten in der Ferne.
Der Regent hatte seine mechanischen Diener geschickt, sie zu holen.
Sie waren so weit und schnell gerannt, wie Melody es vermocht hatte. Jetzt kletterten sie eine der zugigen Wendeltreppen hinauf, die in die Mittelstadt führten.
Wie gerne hätte sich Melody unter ihre Decke verkrochen und geweint. Lyra Thorne war tot. Aber sie wusste, dass das nicht ging. Sie hatte ein Versprechen gegeben.
So stieg sie weiter. Bis sie die zweite Ebene erreichte.
In der Mittelstadt war es kälter. Leichte Schneeflocken fielen auf ihr Haar.
Der Junge aus Staub stieg neben ihr die letzte Stufe hoch und sah sich erstaunt um. Melody wusste, was er sah. Hier war alles anders. Nicht verbrannt und trotzdem kälter. Aber sie konnten nicht hier bleiben. In der Mittelstadt gab es mehr Glassterne. Und bis zu Old Santa war es weit. Sie würden sich ausruhen müssen. Nur ein bisschen.
Wir schaffen es heute nicht mehr zu Old Santa. Wir müssen und ausruhen. Ich weiß ein Versteck. Sie führte ihn in eine dunkle Gasse, wo sie unter einigen Brettern Schutz fanden. Sie schliefen nicht lange. Als sie aufstanden, zeigte Melodys alte Uhr ihr, dass es bereits Morgen war.
Der 24. Dezember. Weihnachten.
Ohne die Uhr hätte man den Tag nicht von der Nacht unterscheiden können. Es gab keine Dunkelheit in Threendon. Der Regent fürchtete sie, mehr noch, als er die Sterne jemals gefürchtet hatte. Er ließ den Himmel ausleuchten.
Niemand begegnete ihnen, bis sie das Haus erreichten, in dem Old Santa wohnte. Melody gab den Klingelcode ein.
Wer ist da?, brummte eine Stimme durch die Sprechanlage. Das kleine Mädchen räusperte sich. Melody Rivers. Meine Großmutter schickt mich.
Ein Brummen erklang und vor ihnen öffnete sich ein Aufzug. Es gab in der Mittelstadt keine wirklichen Haustüren mehr. Nur Aufzüge, die den Besucher in die gewünschte Wohnung brachten.
Gemeinsam mit dem Jungen stieg sie hinein.
Im 17. Stock öffneten sich die Türen wieder und Melody stand Old Santa gegenüber. Wie immer trug der alte Mann rot. Sein Haar und der Bart waren weiß und umrahmten ein rundes Gesicht.
Melody, brummte er freundlich. Melody fand, dass er aussah wie der Weihnachtsmann in den Geschichten. Er musterte sie, dann sah er den Jungen aus Staub und erstarrte.
Bei den Sternen, murmelte er. Ein Engel.
Fragend sah er Melody an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Großmutter hat gesagt, wir sollen zu dir kommen. Du könntest uns helfen.
Old Santa runzelte die Stirn. Warum hilft sie euch nicht selbst? Sie kennt die alten Geschichten doch viel besser als ich
Die Frage erstarb auf seinen Lippen, als er Melody in die Augen sah.
Oh nein, murmelte er traurig. Er fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. Erzähl, forderte er das Mädchen dann auf, und Melody erzählte.
Als sie geendet hatte, nickte Old Santa nachdenklich.
Das mit deiner Großmutter tut mir leid, begann er. Aber sie hatte Recht, euch fortzuschicken. Er ist ein Engel, und er muss zurück in den Himmel. Dies wird nicht einfach, denn es gibt nur eine alte Geschichte, die besagt wie es geht. Lyra hat an sie geglaubt, und ich tue es auch.
Was für eine Geschichte?, wollte Melody wissen.
Die, in der der Himmel stirbt.
Melody zog die Augenbrauen nach oben. Diese Geschichte kannte sie. Es war die, in der erzählt wurde, wie der Regent einst Raketen in den Himmel geschossen hatte, um die Sterne zu zerstören.
Er hatte Angst, waren Lyra Thornes Worte gewesen. Dass sie sich genauso gegen die Menschen wenden würden wie die Sonne es getan hatte. Und die Menschen sind ihm gefolgt, blind vor Angst wie sie waren.
Melody erzählte dem alten Mann, was sie wusste.
Old Santa nickte. Ja, das ist die richtige Geschichte. Aber hat deine Großmutter dir auch erklärt, was die Sterne wirklich waren?
Stumm schüttelte Melody den Kopf.
Das dachte ich mir. Es ist zu traurig, um sie kleinen Mädchen zu erzählen. Er räusperte sich. Jeder Stern, musst du wissen, ist das Herz eines Engels. Sein Leuchten schenkt ihm die Flügel. Und als der Regent jeden einzelnen Stern vom Himmel holte, tötete er die Engel. Sie explodierten und zerfielen zu Staub. Lyra hat dir doch erzählt, dass die Gesichter, die du siehst, Erinnerungen an Engel sind, oder?
Melody nickte und Old Santa fuhr fort: Es heißt, dass der letzte Engel damals vorhersagte, dass einmal ein Kind kommen würde, das die Engel wiederfinden und zum Himmel zurückbringen würde. Und dass damit die Wunder in die Welt zurückkehren würden, denn alle Wunder kommen von den Engeln.
Oma hat gesagt, dass Weihnachten die Zeit der Wunder wäre, erinnerte sich Melody.
Old Santa nickte. Ja, das stimmt. Und ein Wunder werdet ihr brauchen, denn ihr müsst das letzte Stück Sternenlicht suchen, das es gibt. Zur Erde geworfen von jenem letzten Engel.
Er betrachtete den Jungen aus Staub.
Melody zeigte ihm das Fläschchen mit den Wünschen. Wir haben Wünsche, sagte sie.
Das ist gut. Wünsche können Wunder sein. Kurz schwieg Old Santa, dann sprach er weiter: Man sagt, der Regent hat den Sternenfunken suchen lassen. Und ihn gefunden.
Melody biss sich auf die Lippen. Kann ich mir das Stück Sternenlicht nicht einfach wünschen?
Old Santa schüttelte den Kopf. Manche Dinge kann man sich nicht wünschen, sagte er.
Melody nickte. Das heißt ich muss in den Palast.
Das heißt es. Der alte Mann betrachtete sie nachdenklich. Du weißt, dass du es nicht tun musst?
Melody sah ihn an. Ich habe es versprochen.
Old Santa nickte. Und Lyra Thornes Enkelin hält ihr Versprechen, ich verstehe. Dann will ich dir etwas geben, was dir helfen wird.
Er ging zu einer alten Kommode, öffnete eine Schublade und holte einen Gegenstand heraus, den er ihr reichte. Es war ein alter, verrosteter Schlüssel.
Er öffnet die vergessenen Türen des Palastes, sagte er, aber noch ehe Melody nachfragen konnte, was vergessene Türen waren, wurde das Zimmer von rotem Licht durchflutet.
Vor dem Fenster schwebte ein rot leuchtender Glasstern.
Alarmiert schrie Melody auf, und Old Santa, der die Lage schnell begriff, schob sie und den Jungen aus Staub in den Aufzug. Schnell. Lauft zum Palast. Ich werde sie aufhalten.
Schon tippte er den Code ein, der sie nach unten bringen würde. Ehe sich die Tür schloss, sagte er: Vergiss nicht. Weihnachten ist die Zeit der Wunder. Und die der Wünsche. Frohe Weihnachten, Melody Rivers.
Frohe Weihnachten, flüsterte Melody, dann schloss sich die Tür und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Melody hörte noch das Splittern von Glas, das Poltern von etwas vielleicht dem Stuhl und die Schreie von Old Santa, aber die Geräusche wurden mit jedem Stockwerk leiser, bis sie schließlich verstummten. Der Aufzug fuhr nach unten.
Melody blickte nach oben als sie ausstiegen, konnte aber nichts erkennen. Sie sah zu dem Jungen aus Staub und fand, dass seine Augen heller geworden waren.
Wir müssen zum Palast des Regenten, sagte sie ihm und der Junge streckte ihr die Hand entgegen.
Gemeinsam rannten sie, erneut von den gläsernen Sternen fort, von denen immer mehr rot leuchteten, sobald sie sie passiert hatten.
Sie hörten die mechanischen Schritte und Melody hoffte inständig, dass sie schnell genug sein würden. Der nächste Aufstieg war nicht weit von hier.
Sie waren gerade um eine Ecke gebogen, als Melody zwei Kinder entdeckte, die an einer Mauer kauerten. Sie waren kleiner als sie, vielleicht vier Jahre alt. Ein Junge und ein Mädchen. Melody konnte sehen, dass sie bitterlich froren. Sie trugen nichts als zwei dünne Leibchen.
Abrupt blieb sie stehen. Der Junge aus Staub tat es ihr gleich.
Wo ist eure Mama?, fragte sie die Kinder.
Fort, weinte das Mädchen. Sie wollte in die Oberstadt, aber sie ist nicht wiedergekommen.
Bestimmt haben die Sterne sie geholt, flüsterte der Junge. Und nun wissen wir nicht mehr, wie wir nach Hause kommen sollen.
Melody sah sich um. Sie hatte keine Zeit, den Kindern zu helfen, aber sie konnte sie auch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Das würde ihr ihre Großmutter nie verzeihen.
Also gab sie ihnen ein Wunschsamenkorn aus ihrer kleinen Flasche.
Hier, sagte sie. Wünscht euch, dass ihr den Weg nach Hause findet. Dann wird es wahr.
Und dann huschte sie weiter, gefolgt von dem Staubjungen, der sich alles aus goldenen Augen angesehen hatte.
In der Oberstadt war die Luft aus Eis. Melody spürte ihre Finger nicht mehr, als sie und der Junge aus Staub durch die weißen Straßen hasteten.
Immer mehr Sterne über ihren Köpfen färbten sich rot, immer lauter wurden die mechanischen Schritte der Wachen.
Dass sie es überhaupt in die Oberstadt geschafft hatten, grenzte für Melody an ein Wunder.
Nur zögernd folgte der Junge aus Staub ihr. Immer wieder blickte er zurück zu den Menschen.
Sie sahen ihn nicht, sie sahen überhaupt nichts mehr. Sie folgten nur den vorgegebenen Wegen der Laufbänder.
Diese Stadt ist so hell, waren Lyra Thornes Worte gewesen, dass sich die Menschen darin verirren.
Melody wusste, dass ihre Großmutter Recht gehabt hatte. Die Menschen waren verloren. Tief in sich, geblendet von all dem Licht. Aber sie hatten keine Zeit, sich um sie zu sorgen. Schon sprangen die mechanischen Menschen über das Laufband hinweg, hoch über die Köpfe der Menschen.
Lauf, schrie Melody, und dann rannten sie erneut, so lange, bis sie vor dem Palast des Regenten standen. Überall gab es mechanische Menschen.
Wohin nun?
Der Junge aus Staub war es, der auf eine Stelle an der Palastwand wies, an der es nichts zu geben schien als weißen Marmor.
Erst auf den zweiten Blick sah Melody das Schloss, das dort eingelassen war.
Vergessene Türen, hallten Old Santas Worte in ihr nach, während sie überlegte, wie sie an den Wächtern vorbeikommen könnten.
Plötzlich standen die beiden Kinder vor ihnen, denen sie eben noch den vorletzten Wunsch geschenkt hatte.
Völlig durchschimmernd waren sie, und Melody begriff, dass sie tot waren.
Was habt ihr euch gewünscht?, fragte sie leise.
Bei Mama zu sein, antwortete der Junge. Er war nicht traurig, aber vielleicht konnten Geister gar nicht mehr traurig sein.
Das Mädchen sagte: Wir werden sie ablenken. Das schulden wir dir. Du hast uns geholfen. Wir haben uns nur das falsche gewünscht. Lauft ihr weiter. Das, was ihr sucht, ist im Schlafzimmer des Regenten.
Melody fragte nicht weiter. Vielleicht wussten die Toten solche Dinge.
Sie rannten zu der Tür ohne sich noch einmal umzusehen. Melody steckte den Schlüssel in das Schloss. Er passte. Die Tür öffnete sich und nach einem kurzen Moment schlüpften sie hindurch, hinter sich die mechanischen Schritte der Wächter, die auf der Jagd nach zwei Geistern waren.
Die Tür schloss sich.
Melody sah sich um. Sie standen in einem Gang, durch dessen Wände hier und da Licht fiel.
Panisch überlegte sie, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Wo war das Schlafgemach des Regenten?
Sie wollte schon auf gut Glück losrennen, da griff der Junge aus Staub ihre Hand und zog sie mit sich. Zuerst wollte Melody protestieren, aber dann sah sie den Blick des Jungen und verstand, dass er den Weg kannte. Weil er das Sternenstück spürte. Denn die Sterne, das sind die Herzen der Engel und das Licht malt ihre Flügel. So hatte Old Santa es ihr erklärt.
Sie liefen hoch und runter und um viele Ecken, bis der Junge stehen blieb. Vor ihnen war wieder ein Schloss in der Wand, und Melody öffnete die dazugehörige Tür.
Sie standen im Schlafzimmer des Regenten. Niemand war dort.
Aber auf einer schwarzen Säule lag ein Stein, der genauso leuchtete wie die Augen des Jungen.
Melody hielt den Atem an, als er darauf zuging und nach dem Stein griff.
Als er ihn in der Hand hielt, war alle Traurigkeit aus den goldenen Augen verschwunden.
Doch gerade, als er die Hand an seine Brust legen wollte, sprangen überall im Zimmer Türen auf und Melody blickte in die hellblauen Augen mechanischer Menschen, die sie eingekreist hatten. Es gab kein Entkommen. Der Junge aus Staub kam zu ihr gelaufen, das Sternenstück in seiner Hand.
Eine Weile geschah nichts, dann trat ein Mann zwischen den Wächtern hindurch. Obwohl Melody ihn nie zuvor gesehen hatte, wusste sie, dass es der Regent war.
So geschieht es also wirklich, sagte er mit schneidender Stimme. Ein Kind findet die Engel wieder.
Seine Hand schnellte vor und griff nach dem Stück Sternenlicht in der Hand des Staubjungen, der es plötzlich nicht mehr halten konnte. Nichts als Staub. Der Regent lachte und betrachtete das Sternenstück in seiner Hand. Dann wandte er sich seinen Wachen zu. Bringt sie ins Verlies!
Damit verließ er das Schlafgemach und überließ es den mechanischen Menschen, seine Befehle auszuführen.
Panisch suchte Melody nach einem Ausweg. Wäre ihre Großmutter hier gewesen, hätte sie gewusst, was zu tun war. Tränen liefen ihr in die Augen und sie wischte sie unwirsch weg. Sie wollte nicht weinen, sie wollte tapfer sein. So wie es Lyra Thorne immer gewesen war.
Reflexartig suchte sie ihre Rocktaschen nach etwas ab, was sie gegen die mechanischen Menschen verwenden konnte, aber natürlich hatte sie nichts.
Da ertastete sie das Fläschchen mit den beiden letzten Wünschen.
Rasch öffnete sie es und blies einen einzigen Samen in den Raum, fest an den Wunsch denkend.
Eine Weile geschah nichts. Die Wachen kamen näher. Doch gerade als sie nach Melody und dem Jungen greifen wollten, stand jemand zwischen ihnen. Groß und schwer gekleidet in Rot.
Erstaunt sah Melody Old Santa an. Der alte Mann lachte. Es ist Weihnachten, Melody. Wenn jemand nach dem Weihnachtsmann ruft, kommt er, rief er, während er einen der mechanischen Wachen niederschlug. Und nun rennt, meine Kinder, rennt so hoch ihr könnt!
Und Melody und der Junge aus Staub rannten. Bis sie auf dem Dach des Palastes standen, dort, wo es schien, als müsse man nur die Hände ausstrecken, um die Raumschiffe zu berühren, die über die Stadt hinwegflogen.
Bitterkalt war es dort, Schnee und Eisregen prasselten erbarmungslos auf sie hinab. Dem Jungen aus Staub machte es nichts aus, aber Melody fror schrecklich. Zudem setzte ihr die grelle Helligkeit zu. Sie musste die Augen schließen, doch sie spürte trotzdem, dass das Licht etwas mit ihr machte, dass sie sich ebenso in der Helligkeit verirrte wie all die anderen Menschen der Oberstadt.
Da spürte sie eine Berührung an der Schulter. Sie öffnete die Augen und sah in die des Staubjungen.
Es tut mir leid, flüsterte sie. Ich habe mein Versprechen nicht halten können. Wir haben das Licht verloren.
Der Junge aus Staub schüttelte den Kopf. Die Blicke seiner goldenen Augen bohrten sich in ihre. Und plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Großmutter. Das Feuer, Melody, denk an das Feuer. Du kannst es entfachen. Du musst es dir nur wünschen.
Einen Moment wusste Melody nicht, wovon Lyra Thorne sprach, aber dann fiel ihr der letzte Samen ein, den sie noch hatte. Der letzte Wunsch.
Mühevoll holte sie die kleine Flasche hervor und ließ sich den letzten Wunsch auf die Hand fallen.
Was soll ich mir wünschen, flüsterte sie dem Jungen aus Staub zu. Es gibt so viele Wünsche. Was, wenn ich mich falsch entscheide? Und was wird aus mir, wenn du fort bist?
Melody wollte nicht allein sein.
Der Junge aus Staub sah sie lange an. Dann beugte er sich vor und küsste sie auf die Stirn.
Du wirst nicht allein sein, hörte sie ihre Großmutter sagen. Niemals. Denn die Sterne werden für dich leuchten.
Und Melody Rivers, die an Wunder glaubte, schloss die Augen. Sie wusste, was sie sich wünschen würde. Sie dachte daran und pustete den kleinen Samen hinaus in die winterkalte Luft.
Sie spürte ein warmes Kribbeln um sich herum und als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass der Junge aus Staub nun ein wirklicher Engel war, mit gemalten Flügeln aus Licht. Und sie sah Lyra Thorne, die neben ihm stand, genau wie die beiden Kinder.
Ihre Großmutter hielt ein Blatt in den Händen. Melody erkannte es. Es war das Kalenderblatt des heutigen Tages.
Sie nahm es entgegen und warf der alten Dame eine Kusshand zu.
Dann war sie allein.
Über ihnen riss der helle Himmel auf und strahlend dunkle Nacht brach hindurch.
Von unten erklangen Rufe. Melody schaute hinab und sah, wie sich die Menschen dem Himmel zuwandten, an dem mit einem Male vier helle Sterne strahlten. Sie beobachtete, wie die Leere aus ihren Gesichtern verschwand und sie die vorgefertigten Wege verließen und sah, wie die mechanischen Menschen des Regenten plötzlich still standen.
Sie ließ das Kalenderblatt fallen.
Wie eine Feder schwebte es in die Tiefe.
Ein alter Mann fing es auf. Las es. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, als er es in die Höhe hielt und rief: Frohe Weihnachten!
Weil er sich erinnerte.
23. Dez. 2013 - Fabienne Siegmund
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