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emperor-miniature
DIE SECRET INTELLIGENCE IHRER MAJESTÄT von Thomas Neumeier
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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FABYLON VERLAG
A. Bionda
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Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Prologstory zu dem gleichnamigen Roman, der als Band 5 in der Reihe SteamPunk erschienen ist.
Als würde ein wild gewordener Schwarm Schmetterlinge in ihrer Brust einen Freudentanz aufführen. Rowena war im höchsten Maße gerührt, musste sogar Tränen zurückhalten. Sie presste das Stück Papier an ihr Herz, atmete tief durch und las die wundervollen Zeilen, die darauf geschrieben standen, noch ein zweites Mal. Es war das schönste Gedicht, das er bislang für sie verfasst hatte. Voller Leidenschaft und Anteilnahme, und doch von achtsam respektvoll gewählten Worten getragen. Ein wärmendes Gefühl von Geborgenheit legte sich wie ein samtenes Tuch über ihr Innerstes. Das Glück war so nah, nur wenige Decks über ihr. Einem Frevel käme es gleich, es noch länger zu vertrösten.
Rowena dachte an den vergangenen Abend, als sie sich einem der Bordoffiziere hingegeben hatte. Es war alles andere als ein Akt der Liebe gewesen, so wie es eigentlich sein sollte. Vor der fraglichen Begegnung in den Kanälen hatte sie nicht einziges Wort mit dem Mann gesprochen und kannte ihn auch jetzt noch nicht näher. In Gedanken war sie ohnehin zu keinem Zeitpunkt bei ihm gewesen. Nicht als er sie vor Dutzenden Augen entkleidet hatte, nicht als er damit begann, sie plump und leidenschaftslos zu berühren, nicht als er sie auf ein unbenutztes Kanapee dirigierte, und auch nicht als er nach einem kurzen, unbefriedigenden Zungenspiel in sie eindrang und in ihr zu arbeiten begann. Für ihn war es eine Gelegenheit, vor der versammelten Gesellschaft Aufmerksamkeit zu erheischen und sich vor seinen Offiziersfreunden zu profilieren. Für Rowena war es einfach nur ein Zeitvertreib. Nichts mehr. Ihr Herz gehörte einem anderen. Einem ungleich feinfühligeren Mann.
Bevor sie seine bezaubernden Verse noch ein weiteres Mal verinnerlichen konnte, klopfte es an der Tür ihres Gemachs. Verwundert sah sie von ihrem Bett auf. Es war schon spät, und sie erwartete keinen Besuch.
Wer ist da?
Eine Antwort erhielt sie nicht. Sie schlug das Bettlaken zur Seite, stand auf und trat zur Tür. Dort wiederholte sie die Frage, erhielt jedoch abermals keine Antwort. Konnte es möglich sein, dass er es war? Stand er dort draußen und begehrte Einlass? Es wäre vermessen von ihm, doch so wie seinen Zeilen nach die Leidenschaft in ihm brannte ... ja, natürlich war er es! Wer sonst sollte es sein? Endlich war er zu ihr gekommen, hatte seiner Sehnsucht nachgegeben! Rowena verzehrte sich gleichermaßen nach ihm. Sie hatte es ihm noch nicht gestanden, doch nur seinetwegen war sie überhaupt an Bord gekommen. Nun endlich würden offene Worte gesprochen werden. Kein Zögern und Zaudern mehr, kein Abwarten und Zurückhalten. Sie löste die Verriegelung der Tür und öffnete, bereit, sich in seine Umarmung zu entlassen. Doch dort draußen in der Dunkelheit wartete ein anderer. Nur kurze Augenblicke nach dieser Erkenntnis hauchte Rowena ihr noch junges Leben aus.
Schön, schön, schön, meine Liebe, sprach der Baron in einem hoheitsvollen Singsang, nachdem wir das nun einvernehmlich geklärt haben, erweisen Sie mir das Vergnügen, mich in mein Schlafgemach zu begleiten.
Oh, aber mein Lord, kiekste Bridget mit einem verlegenen Schmunzeln und vollführte einen untertänigen Knicks. Nun, wenn Sie darauf bestehen?
O ja, und ob ich das tue! Mit einem siegesgewissen Grinsen gestikulierte er zu der verschlossenen Tür. Bitte nach Ihnen! Bitte!
Bridget schaute mit einem verschämten Blick zu ihm auf und sagte: Ich kann die Tür selbstverständlich nicht öffnen, Mylord.
Ach ja, unsere Sicherheitsvorkehrungen. Der Baron seufzte leidend und trat an die tellergroße bronzefarbene Schalttafel neben der Tür. Sie sehen, Sie bringen mich ganz durcheinander, fügte er vergnügt hinzu.
Mit einem leisen Rattern zog er den ersten von drei Hebeln von der Null auf die Acht, den zweiten auf die Neun und den dritten auf die Eins. Nachdem die Bolzen eingerastet waren, löste er den Öffnungsmechanismus aus. Die Tür glitt nach innen auf.
Der Weg steht uns frei, meine Liebe! Treten Sie ein, treten Sie ein!
Als sich der Baron erneut Bridget zuwandte, hatte sie einen Parfümzerstäuber zur Hand. Eine Wolke wehte ihm ins Gesicht. Das huldvolle Lächeln unter dem schwarzen Schnauzbart gefror. Keine Sekunde später gaben seine Knie nach, und er fiel bewusstlos zu Boden. Bridget eilte zur Eingangstür seiner Gemächer und öffnete sie.
Es ist vollbracht, Sir!, flüsterte sie in den finsteren Gang hinaus.
George Franier, der Viscount of Dundee, kam hereinspaziert. Ausladend schwang er seinen Spazierstock und trug in seinem bartlosen Gesicht ein erhabenes Lächeln zur Schau, so als beträte er gerade einen festlichen Empfang. Sein maßgeschneiderter schwarzer Anzug saß wie immer vorbildlich. Der nachtblaue Bowler auf dem Kopf täuschte über sein allmählich schütter werdendes rostbraunes Haar hinweg und schien allein von seinen mächtigen Koteletten getragen zu werden.
Das haben Sie wie immer bemerkenswert gut gemacht, Bridget, konstatierte er, als er um den reglosen Baron am Boden flanierte und die Räume hinter der zuvor verschlossenen Tür eroberte. Und nun kommen Sie, wir haben viel zu sichten! Versuchen Sie möglichst nichts zu verändern. Merryfame soll nach dem Aufwachen keinen Verdacht schöpfen.
Sind Sie sicher, dass er sich nicht an mich erinnern wird, Sir?, fragte Bridget skeptisch.
O ja, ganz gewiss wird er sich an Sie erinnern, erwiderte der Viscount amüsiert. Ich meine, wie könnte man Sie und Ihr bezauberndes Lächeln schon vergessen? Das soll Sie aber nicht sorgen. Wir werden ihm nach getaner Arbeit eine Flasche Gin einflößen, ihn ausziehen und auf sein Bett legen. Sollte er sich bei Ihnen zu gegebener Zeit nach Einzelheiten erkundigen, schwärmen Sie ihm von einer fantastischen Nacht vor. Das funktioniert, glauben Sie mir.
Bridget war davon nicht vollständig überzeugt, doch sie fügte sich und folgte dem Viscount in die Privatgemächer des Barons.
Der Viscount warf einen prüfenden Blick auf seine Taschenuhr. Das Narkotikum wirkt mindestens sieben Stunden, wir haben also mehr als ausreichend Zeit. Er wandte sich seiner Assistentin zu und wies mit einer weichen Geste zu dem großen Himmelbett, das den größten Platz des Zimmers einnahm. Um das Bild, in dem der Baron morgen früh erwachen soll, authentischer zu gestalten, könnten wir dem Szenario, das wir implizieren wollen, in natura entsprechen. Was halten Sie von dieser Idee, Bridget?
Bridget brauchte ein paar Sekunden, bis sie durchschaute, worauf er anspielte. So eine bin ich nicht, Sir!, empörte sie sich.
Ja, ich weiß. George Franier seufzte. Was ich zuweilen bedauere. Also los, an die Arbeit! Öffnen Sie sämtliche Schübe, Schränke und Bücher! Wir haben einen Mörder zu überführen! Auf! Auf!
Es war demütigend. Mit nichts als einer weißen Schärpe und fernöstlichen Spitzpantoffeln bekleidet, wurde Yolanda in einer Schar von etwa dreißig weiteren Frauen von den Umkleideräumen durch breite Korridore zu einem Treppenaufgang gescheucht. Aus den Schreib- und Planungsstuben beiderseits wurden ihnen zahllose Blicke der überwiegend männlichen Bediensteten zuteil. Das Bodenpersonal der Prominence I hatte seine unverhohlene Freude an dem luftigen Aufmarsch.
Am Ende des Treppenaufgangs öffnete der Sicherheitsmann, der den Frauen vorausging, eine Tür und trat auf das flache Dach des Gebäudes hinaus. Das seit etwa zehn Minuten omnipräsente Brummen, Puffen und Zischen wurde lauter. Nacheinander folgten die Frauen dem Uniformierten nach draußen. Ein kühler Windstoß ließ ihre Schärpen flattern. Yolanda hielt die ihrige fest, gestattete dem Wind nicht, auch noch ihre zweite Brust zu entblößen. Die Schärpen beschrieben einen Rundweg, verliefen über die rechten Schultern zur Scham und zwischen den Schenkeln hindurch. Auf den Vorderseiten waren in grünen Lettern die Rufnamen der Frauen aufgestickt. Auf Yolandas stand Mary. Sie hatte auf einen Decknamen bestanden.
Ein graublaues Ungetüm, das den anhaltenden, wummernden Lärm verursachte und dabei unentwegt Rauch- und Dampfschwaden aus Schloten und Kiemen spie, schirmte das Gebäudedach von der Sonne ab, die vom heute kaum bewölkten Himmel Londons strahlte. An einem Personenzugkorb, der auf die Ankunft der weiblichen Passagiere wartete, standen zwei weitere Sicherheitsleute in ihren rotschwarzen Uniformen postiert. Hohe schwarze Stiefel und gleichfarbene Dreispitzhüte komplettierten ihre Erscheinung. Die eisernen Kettenläufe der Trageplattform, die sie flankierten, mündeten hoch über ihnen an einem Gestänge am gewölbten Kiel der Prominence I, dem gewaltigsten Luftschiff, das die Royal Air Domination bislang hervorgebracht hatte. Es war der ganze Stolz des Empires, beherbergte neben der höchsten Flottenadmiralität auch einen Teil des Militäradels und konnte bei Bedarf ein Kontingent von dreitausend Soldaten aufnehmen und sie binnen einer Woche nach Afrika und in weniger als zwei zu den indischen Kolonien verlegen. Bei der bevorstehenden Reise beschrieb das Royal Fort auf Sizilien ihr Reiseziel, wie Yolanda wusste. Für sie würde es das erste Mal sein, dass sie den von zwölf gewaltigen Rotoren getragenen Koloss, der derzeit so anmutig über London schwebte, betrat. Auf die anderen Frauen traf vermutlich dasselbe zu. Nicht ohne Groll rief sie sich das Gespräch in Erinnerung, welches sie an diesen prekären Punkt gebracht hatte.
Ich möchte Sie an Bord haben, um die Ermittlungen aus dem Hintergrund zu überwachen und darüber hinaus eigene anzustellen, hatte Charles Walden-Rothwell, Londoner Sektionschef der Secret Intelligence Ihrer Majestät Königin Victoria, ihr in einer geheimen Unterredung unterbreitet. Das Opfer, Lady Rowena, ist die Tochter des Dukes of York. Ich will gewährleistet wissen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Die ganze und die einzige Wahrheit.
Yolanda durchschaute die Absichten ihres Fieldleaders nicht. Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, hatte die SI bereits den besten zur Verfügung stehenden Mann beauftragt: George Franier, den Viscount of Dundee. Er war der unangefochten verdienteste Agent der SI und aufgrund seines Aristokratenstandes geradezu prädestiniert, in den Reihen der Militärgrafen Ihrer Majestät Ermittlungen anzustellen.
Verzeihung, Sir, trug sie Walden-Rothwell deshalb an, ich fürchte, mir bleibt verborgen, was ich zu diesen Ermittlungen beitragen könnte. Ich wüsste nicht, wie ich dem Viscount an Bord von Nutzen wäre.
Oh, Sie sollen ihm nicht von Nutzen sein, Agent Baker, wurde ihr entgegnet. Der Viscount wird nichts von Ihrer Anwesenheit erfahren. In den Akten werde ich Ihren Einsatz als zweite Garde hinter dem Viscount deklarieren. Tatsächlich aber möchte ich, dass Sie unabhängig von ihm Nachforschungen anstellen und gleichwohl auf seine Arbeit ein Auge werfen.
Ein solcher Auftrag legte nur einen einzigen bezeichnenden Verdachtsmoment nahe.
Gibt es denn neuerdings ... Vorbehalte gegenüber dem Viscount?, erfragte Yolanda.
Nicht direkt, antwortete Walden-Rothwell zögerlich. Doch es ist möglicherweise ein Interessenkonflikt zu befürchten. Bedenken Sie das Umfeld, in dem sich der Viscount bei dieser Angelegenheit bewegen muss.
Nachfolgend erfuhr Yolanda von einigen ungeahnten und schockierenden Gepflogenheiten an Bord der Prominence I, über die wohl auch Ihre Majestät nicht in vollem Umfang informiert war.
Zuweilen gewinne ich den Eindruck, die Prominence I hat sich längst verselbstständigt, sprach Walden-Rothwell versonnen. Die gewobenen Strukturen an Bord sind fraglos innovativ, doch sie haben eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, scheint mir. Ich brauche Sie bei dieser Mission als verlässliches Gewissen, Agent Baker.
Pflichtschuldig hatte Yolanda eingewilligt.
Na los, macht schon! Einer der Sicherheitsleute trieb die Frauen in den Zugkorb. Sonst erkältet ihr euch noch, hähähähä, fügte er mit einem jovialen Grinsen hinzu. Und das wäre doch jammerschade.
Yolanda hatte sich ausreichend im Griff, seinen gönnerhaften Blick nicht mit der gebotenen Verachtung abzustrafen, sondern wich ihm stattdessen aus. Nachdem sich alle auf der Trageplattform eingefunden hatten, wurde der Zugkorb nach oben gefahren. Eine faustdicke Leitstange sorgte dafür, dass der Wind kein Spiel mit ihm treiben konnte.
Passabel. Ja, ganz passabel, in der Tat, murmelte ein dicklicher Mann, während er die lange Reihe der Frauen abschritt. Er hatte keine Haare auf seinem voluminösen runden Kopf, doch ein buschiger schwarzer Schnauzbart kräuselte sich unter seiner mächtigen Nase. Er trug eine ähnliche Uniform wie die Sicherheitsmannschaft, jedoch keinen Dreispitz und auch keine Stiefel, stattdessen feine schwarze Gamaschen. Silberne Jackenknöpfe und weiße Ärmelaufschläge aus Satin hoben ihn fürderhin von den Sicherheitsleuten ab. Er musterte die angetretene Schar wie Ware, die er hernach auf einem Basar anpreisen musste. Regungen ließ er nicht durchblicken. Seine dunklen Augen behielten bei der Fleischbeschauung eine wohl durch Routine gewonnene Glanzlosigkeit bei. Fünf der Frauen sortierte er kommentarlos aus und wies ihnen, einem der Sicherheitsmänner zu folgen. Ob dies einer Auszeichnung oder einer Herabstufung gleichkam, wusste Yolanda nicht.
Nachdem er seine Inspektion beendet hatte, winkte er eine rothaarige Frau herbei, die bislang fügsam unter einem Torbogen abgewartet hatte. Mit ruhigen, unaufdringlichen Worten hieß er sie, die Schar einzuquartieren. Dagegen wurde jedoch ein Einwand laut.
Nicht so schnell, sprach eine Stimme, nicht lärmend aber doch autoritär.
Zackigen Schrittes tauchte hinter der Rothaarigen jener Mann auf, den Walden-Rothwell Yolanda leider nicht ersparen konnte: Guy Jesse, Head of Security auf der Prominence I, betrat den Schauplatz. In den vier Jahren auf der Offiziersakademie war er eine unbequeme Bekanntschaft und ein Kommilitone Yolandas gewesen. Dieser Tage war er der Einzige an Bord des Luftschiffes, der über ihren Auftrag und ihre wahre Identität informiert war und ihr überdies dieses zweifelhafte Arrangement als dienstbare Gesellschafterin verschafft hatte. Walden-Rothwell war ihm sehr dankbar dafür. Yolanda hingegen hasste ihn schon jetzt. Sein blondes Haar war deutlich länger als auf der Akademie, beinahe schulterlang, was Yolanda erstaunte, da es nicht dem ihm angedachten Erscheinungsbild entsprach. Darüber hinaus trug er entgegen seiner Mannschaft eine blaue Uniform mit goldenen Knöpfen und ähnlich satinbestickten Ärmeln wie der dickleibige Fleischinspekteur.
Ah, Jesse, begrüßte ihn der Dicke. Gibt es ein Sicherheitsproblem?
Mitnichten, entgegnete Jesse ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ich brauche eine der Damen.
Ähnlich wie zuvor der Dicke schritt er die Reihe der Frauen ab, wenn auch deutlich zügiger.
Wozu?, wurde er von dem Dicken hinterfragt. Ich wurde nicht informiert, dass ...
Sie werden sich damit abfinden müssen, Cropper, dass ich Besseres zu tun habe als Sie über meine Belange informiert zu halten.
Wie nicht anders erwartet, blieb Guy Jesse vor Yolanda stehen. Ihr Blick begegnete dem seiner tiefblauen Augen. Du!, sagte er barsch. Mitkommen!
Schon machte er kehrt und schlug die Richtung ein, aus der er gekommen war. Yolanda folgte ihm. Weder die Rothaarige noch der Dicke stellten weitere Fragen oder widersprachen. Offenbar genoss der Head of Security ein entsprechendes Privileg, über die vorwiegend für den Adel gedachten Frauen zu verfügen.
Jesse voran durchschritt Yolanda enge, blechverkleidete Korridore und erklomm gusseiserne Wendeltreppen. Daumendicke Stahlnieten hielten die Verkleidungen, faustgroße Exemplare trugen die gewichtigen Lasten des schwebenden Schiffes. Schließlich stand sie Guy Jesse in dessen Privatgemach gegenüber, das sich unmittelbar seinem Planungsraum anschloss. Es war so spärlich wie die Stuben auf der Akademie eingerichtet. Mit unverhohlenem Hohn begutachtete er seine einstige Kommilitonin von Kopf bis Fuß. Auf ihrer entblößten linken Brust blieb sein Blick ein wenig länger haften.
So so, wisperten seine schmalen Lippen und kräuselten sich zu einem süffisanten Lächeln. Habe ich also endlich herausgefunden, wofür das Empire weibliche Offiziere benötigt.
Yolanda gehörte zur ersten Generation weiblicher Offiziersanwärter, welche die Royal Air Domination seinerzeit angeworben hatte. Auf der Akademie vertraten Jesse und der Großteil der anderen männlichen Kadetten die Meinung, man hätte ihre Schulungsplätze besser als Web- und Stickkurse beschaffen und ihnen die Aufgabe übertragen sollen, die Uniformen der Akademie aufzuwerten. In ihrem gegenwärtigen Aufzug nach fast acht Jahren vor ihm zu stehen, war für Yolanda der Gipfel der Demütigung und für Guy Jesse offensichtlich eine einzige Genugtuung.
Du bist also die Antwort der Secret Intelligence Ihrer Majestät, wenn die Tochter eines Dukes ermordet wird, fuhr er fort. Ich wollte es nicht glauben, als mich Walden-Rothwell instruierte. Mir war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, wie weit die Dekadenz des Empires tatsächlich vorangeschritten ist.
Vorsicht, Guy, gemahnte Yolanda ihn. Ich bin nicht hier, um deine Impertinenz zu ertragen. Gib mir nur einen Grund, und ich sorge dafür, dass du diese Begegnung lange bereuen wirst.
Jesse lachte grimmig auf. Eine Drohung, das ist alles, was dir darauf einfällt? Wie entlarvend. Ich finde das wirklich erbärmlich, Yolanda.
Yolanda gab ihrer angestauten Wut nach, packte ihn am Revers seiner Uniform und wuchtete ihn gegen die nahe Wand. Jesse setzte keinerlei Gegenwehr ein.
Du bist der Letzte, der mir zu erklären hat, was erbärmlich ist, sagte sie. Wenn du in der Lage wärst, die Sicherheit deiner Passagiere zu gewährleisten, wäre meine Anwesenheit gar nicht erst nötig.
Mit einem unerwartet heftigen Ausbruch schlug Jesse Yolandas Hände von sich und beförderte sie damit einen Schritt rückwärts. Für einen Augenblick schienen seine Augen zu lodern, und Yolanda erwartete schon einen Übergriff, doch schnell beruhigte er sich wieder und gewann seine Fassung zurück. Er richtete sein Revers und tat ein paar gemessene Schritte um sie herum, bis er erneut vor ihr stand. Was glaubst du, was du an Bord dieses Schiffes ausrichten kannst?, raunte er duldsam. Glaubst du, du kannst hier herumspazieren und Fragen stellen? In Quartieren und Gemächern herumschnüffeln? Den Gesprächen der Lords lauschen, während du gemütlich mit ihnen Tee trinkst?
Dass auch der Viscount of Dundee für die SI Ermittlungen an Bord anstellte, wusste Jesse nicht, und dabei würde es Yolanda belassen. Meine Arbeitsweise hat dich nicht zu interessieren, gab sie ihm zur Antwort.
Ah, verstehe, deine Arbeitsweise, wiederholte er mit einem höhnischen Grinsen. Seine Selbstgefälligkeit war Yolanda geradezu unerträglich. Kläre mich auf, was sieht die vor, deine Arbeitsweise? Wirst du für den Adel an Bord deine Beine öffnen? Ist das deine Art, wie du dem Empire von Nutzen bist? Fühlst du dich vielleicht sogar gut dabei, wenn du den Mächtigen dererlei Gefälligkeiten erweisen darfst? Als Hure der Aristokratie?
Es war nicht einfach, doch Yolanda ließ sich nicht noch einmal provozieren. Sie taxierte ihn scharf. Armer Guy. Ich sehe, aus dir sprechen Frust und Enttäuschung, weil sich wohl außerhalb von Bordellen keine Frau für dich interessiert, trug sie dem Head of Security gewogen und mit geheucheltem Mitleid an. Aus dir sprechen außerdem Scham und Neid, ist es nicht so? Du bist Tag und Nacht dem Militäradel zu Diensten, der sich unentwegt mit kulinarischen Genüssen und schönen Frauen umgibt. Doch an dich fällt nichts davon ab. Es sei denn du machst, so wie vorhin, deine kümmerlichen Befugnisse geltend. Du beneidest die, über die du wachst, und schämst dich gleichwohl vor dir selbst, weil deine Karriere nicht mehr als das hier für dich bereithalten wird, wo du den tatsächlich wichtigen Leuten des Empires allenfalls ein Glas Scotch reichen darfst, wenn sie untereinander weilen. Nun, das ist wirklich traurig, Guy. Oder wie du vorhin so trefflich anführtest: erbärmlich.
War das alles?, erwiderte er.
Das hängt von dir ab, Guy, antwortete Yolanda. Verträgst du denn noch mehr?
Sehen wir für einen Moment darüber hinweg, setzte er lauernd an, dass ich dich und deinen Auftrag als nicht viel mehr als einen schlechten Witz begreife, und beantworte mir, was die Secret Intelligence Großes vollbringen wird, sollte die Wahrheit offenliegen.
Wir werden selbstverständlich Ihre Majestät und den Duke of York von den Gegebenheiten unterrichten, sagte Yolanda von dieser Frage ein wenig irritiert. Alles weitere liegt nicht in unserer Hand. Man wird Anklage gegen den Mörder erheben.
Ach, tatsächlich, wird man das, sagte Jesse, und Yolanda forschte in seinen verengten Augen, worauf er damit abzielte. Dann sag mir doch, wie weit geht dein Pflichtbewusstsein, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen?
So weit wie nötig, antwortete Yolanda.
Sie hatte daraufhin eine weitere herablassende Spitze von ihm erwartet, doch Jesse lächelte nur verächtlich und wandte sich von ihr ab. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging einige Schritt auf und ab. Offiziell wurde der Gerechtigkeit bereits genüge getan, wie du wohl weißt.
Ja, der junge Mann aus dem Gesinde, bestätigte Yolanda. Ich nehme an, er wurde bereits exekutiert.
Selbstverständlich. Wir befanden uns über Gibraltar, als das Verbrechen verübt wurde. Während eines Einsatzes gilt auf diesem Schiff das Kriegsrecht. Mein Vishead hat ihn enthauptet.
Ohne eine formelle Anklage.
Jesse nickte verhalten und drehte sich wieder zu ihr um. Drei Männer haben ihn in der Nacht des Mordes aus dem Gemach des Opfers fliehen sehen. Drei Lords, um genau zu sein.
Aber er hat die Tat nicht gestanden?
Jesse schüttelte den Kopf. Bis zu seiner Exekution hat er das Verbrechen geleugnet und beteuert, an dem Abend nicht in ihrem Gemach gewesen zu sein.
Er hat die drei Lords der Lüge bezichtigt?
Wo denkst du hin, damit hätte er sich ebenfalls der Enthauptung preisgegeben. Aber er beschwor sie, sie müssten sich irren.
War er denn an anderen Abenden in Lady Rowenas Gemach zu Gast?, hinterfragte Yolanda. Demnach hat sie sich von dem jungen Mann zuweilen die Zeit versüßen lassen?
Sie hat ihm das Lesen beigebracht, behauptete er.
Nun war es Yolanda, die geringschätzig lächelte. Dass eine Dame von Stand einem Jüngling aus dem Gesinde das Lesen beibrachte, klang wenig glaubhaft. Viel näher lag, dass er ihr Liebhaber gewesen war.
Wer sind die drei Zeugen, die ihn gesehen haben wollen?, fragte sie.
Der Earl of Rochester Clarence Talbot, der Baron of Hyde Wilford Merryfame und Roger Dale, der Baron of Jacksville. Letzterer dürfte dir bekannt sein.
Roger Dale? Der Name rief in Yolanda tatsächlich etwas wach.
Er war auf der Akademie zwei Jahrgänge über uns, half Jesse ihr auf die Sprünge. Durch die jüngsten Landschöpfungen Ihrer Majestät und seiner Verdienste in den Kolonien hat er es zu einem Adelstitel gebracht.
Das verkomplizierte die Sache. In Roger Dale erinnerte sich Yolanda an einen stattlichen, dunkelhaarigen Mann, mit dem sie jedoch nie ein Gespräch geführt hatte. Er würde sie bei einer etwaigen Begegnung hoffentlich nicht wiedererkennen. Könnten die drei einen Grund haben, dem jungen Mann zu schaden?
Keinen, der sich mir erschließt.
Woher kamen die drei zu der späten Stunde?
Aus dem Bereich des Schiffes, den die Lords und Ladies für ihre Feierlichkeiten beanspruchen. Du wirst ihn schon sehr bald kennenlernen.
Woher stammte die Tatwaffe?
Ein Messer aus dem Kombüsenbestand. Das Gesinde geht dort ein und aus.
Irgendwo tief unter ihnen wuchs ein monströsen Wummern an, und Boden, Wände und die kaum vorhandenen Einrichtungsgegenstände in Jesses Gemach begannen zu vibrieren. Dann erfolgte ein Ruck, und Yolanda stützte sich reflexartig an einer Wand ab. Was ist das?, fragte sie.
Wir nehmen Fahrt auf, antwortete Jesse ungerührt.
Das wummernde Geräusch verebbte zu einem leisen Brummen. Die Prominence I nahm Kurs auf die Fabriken im Norden Londons, wo weiteres Frachtgut aufgenommen werden sollte.
Yolanda stand wieder gerade. Jesse, der seine Haltung zu keinem Zeitpunkt verändert hatte, musterte sie spöttisch, sagte jedoch nichts.
Was kannst du mir über Lady Rowena sagen?, fuhr Yolanda fort. Was tat sie an Bord, wenn sie nicht gerade dem Gesinde Leseunterricht gab?
Sie hat die Vorzüge dieses Schiffes zu ihrem Vergnügen genutzt.
Welche da wären?
Jesse kam einen Schritt näher. Nun, das, was du hier gegenwärtig darstellst, gibt es auf der Prominence I auch in männlicher Ausführung.
Yolanda verstand. Walden-Rothwell hatte offensichtlich nicht übertrieben, was die sittenlosen Zustände an Bord dieses Schiffes anbelangte.
Jesse trat an ein trichterförmiges Sprechgerät an der Wand und zog einen der vier nächstliegenden fingergroßen Messingringe ein Stück weit heraus. Vishead Kane, melden Sie sich in meinem Planungsraum!, bellte er brüsk in den Trichter.
Zerzause deine Haare, gebot er Yolanda. Wir wollen doch deiner eigenen Sicherheit willen einen Schein wahren, nicht?
Nebenan, in Jesses Planungsstube, meldete sich kurz darauf ein schlanker Mann mit schwarzem Lockenhaar und dicken Koteletten. Er war schätzungsweise einige Jahre jünger als Jesse und Yolanda und trug die rotschwarze Uniform der Sicherheitsleute.
Vishead Kane, bringen Sie Mary zu ihrer Unterkunft, wies Jesse ihn an.
Mit Vergnügen, bestätigte der Vishead mit einem Nicken.
Der junge Henker, dachte Yolanda bei sich. Hätte sie es nicht gewusst, sie hätte diesem Burschen keinerlei solcher Ambitionen zugetraut. Wie zuvor Jesse musterte er sie von Kopf bis Fuß. Verzeihung, HS Jesse, wäre es wohl vertretbar, wenn ich mit ihr einen kleinen Umweg in mein Quartier mache?
Nein, wäre es nicht, sagte Jesse. Sie bringen sie unverzüglich in ihre Unterkunft.
Verstanden, HS. Vishead Kane salutierte.
In ihrem Gemach lag Bridget auf dem Bett und brütete über dem Tagebuch des Opfers, als es klopfte. Sie kannte das Klopfen genau. Es war der eiserne Knauf von Viscount Franiers Spazierstock, der fordernd gegen ihre Holztür schlug.
Es ist offen, rief Bridget.
Schon schwang die Tür auf, und der Viscount tänzelte herein. Ich folge einer Verabredung im Salon, eröffnete er launig. Und ich halte es für angebracht, dass Sie mich begleiten. Bitte machen Sie sich zurecht.
Bridget nickte folgsam und legte das ledern eingebundene Büchlein beiseite.
Wie weit sind Sie damit?, fragte Franier.
Ich habe im Mittelteil angefangen, erläuterte Bridget. Die Datumsangaben sind unzureichend, doch die Einträge entsprechen dem Zeitraum, als Lady Rowena an Bord der Prominence I ging. Am Tage bevor sie nach Afrika aufbrach.
Erkenntnisse?
O ja. Lady Rowena hatte einen Verehrer an Bord. Jemanden, der ihr Gedichte schrieb und ihr zuweilen eine Rose aus den Gärten vor die Tür legte.
Der Viscount nickte wissend. Es liegt auf der Hand, dass der junge Mann mehr für sie war als ein Schüler, dem sie Lesen beibrachte. Er war ihr Kavalier. Leider nicht von angemessenem Stande, weswegen sie ihre Liaison verheimlichten.
Warum sollte er sie töten?
George Franier schüttelte den Kopf. Diese Variante habe ich bereits verworfen. Der junge Mann hat sie nicht getötet. Er war nur der Sündenbock für die Tat.
Aber drei der Lords wollen ihn gesehen haben, als er in der Nacht des Mordes ihr Quartier verließ.
Dann sollten wir herausfinden, weshalb sie das behaupten, nicht wahr?, meinte der Viscount und machte schwungvoll kehrt. Fürderhin drängt sich die Frage auf, wie das fragliche Tagebuch in Wilford Merryfames Schlafzimmer gelangen konnte. Wir treffen die Herren im Salon! Machen Sie sich zurecht, Bridget, ich warte draußen auf Sie. Ach ja, und das Buch möchte ich ebenfalls lesen. Reservieren Sie es als meine heutige Bettlektüre.
Ja, Sir.
Zwanzig Minuten später saß der Viscount eine Zigarre schmauchend in der Runde dreier weiterer Lords im großen Salon der Prominence I. Gläserne Flügeltüren luden in einen weiten, säulengestützen Raum. Mit rotem Samt oder Leder ausgekleidete Sessel scharten sich um robuste Holztische, hinter einer prunkvollen Bar werkelte ein indischer Bartender, an den Wänden hingen Ölportraits bedeutsamer britischer Persönlichkeiten vergangener Dekaden. Auch einen Kamin gab es, wenngleich kein Feuer darin brannte. Der Boden war mit Perserteppichen ausgelegt. In der Raummitte baumelte ein von Zigarrenrauch umnebelter Kronleuchter von der mit vielfarbigen Fresken verzierten Decke.
Haben Sie schon eine Führung genossen, Viscount?, fragte Clarence Talbot, der Earl of Rochester, wobei er ausladend seinen Scotch schwenkte. Nicht zu Unrecht ist die Prominence I inzwischen das Vorzeigeobjekt des Empires. Dieses prächtige Schiff wird uns in ein glorreiches, noch junges Jahrhundert führen.
Ich gewann jüngst den Eindruck, dass Ihre Majestät noch immer eine Tasse Schwarzen Tee mit einer optimal dosierten Portion Milch für die größte Errungenschaft des Empires hält, entgegnete der Viscount mit einem Schmunzeln, dem sich die beisitzenden Barone Dale und Ballonfirst anschlossen. Nichtsdestotrotz ist dies in der Tat ein beeindruckendes Werk. Ich bin sicher, ich werde die bevorstehende Reise rundum genießen.
Nun, das haben Sie völlig in Ihrer eigenen Hand, George. Blaise Wedderburn, der Earl of Derbyshire, trat zu der Runde. Er blieb neben dem Viscount stehen und lud die Asche seiner Zigarre in den Aschenbecher, den der Viscount auf der Lehne seines Sessels stehen hatte. Ich hoffe doch, Sie und Ihre reizende Assistentin werden unserer heutigen Feier zum Auftakt dieser Reise beiwohnen?
Bridget saß in einem bequemen Sessel abseits der hohen Herren, folgte der Unterhaltung jedoch Wort für Wort. Ihr gegenüber las ein graubärtiger Offizier in einer Zeitung und schenkte ihr dabei keinerlei Beachtung.
O ja, ich bin schon sehr neugierig, beteuerte der Viscount. Haben wir eine gewisse Etikette zu beachten?
Sie werden sehen, Viscount, meinte der rotgesichtige Baron Ballonfirst grinsend, jedwede Etikette löst sich in den Kanälen sehr schnell in Luft auf, hähähä.
Auch den anderen entwichen kurze Lacher. Bridget vernahm auch den Viscount. An seiner Seite fühlte sie sich sicher, doch der Besuch der Kanäle am Abend würde ihr gewiss einige Überwindung kosten, falls sich die Gerüchte, was dort alles vor sich ging, bewahrheiten sollten.
Ah, nun lernen Sie einen der Konstrukteure dieses erstaunlichen Wunderwerkes kennen, George, sagte Clarence Talbot, der trotz seiner noch vergleichbar jungen Jahre schon etliches Weiß in seinem dunklen Haarschopf geltend machte, und verwies zur gläsernen Eingangsfront. Herein trat ein kleiner, pummeliger Mann mit krausem Wuschelhaar und roten Wangen. Dies war Baron Cyrus Dashwood, wie Bridget wusste. Schon einer seiner Vorfahren war bezichtigt worden, die guten Sitten des Empires zu untergraben.
Kommen Sie hierher, Cyrus!, rief Talbot. Lernen Sie unseren Neuzugang kennen!
Ah ja, der Viscount, krächzte der Pummelige und trat ebenfalls zu der Runde. Es ist mir ein Vergnügen.
Yolanda war alles andere als angetan, als sie ihre Unterbringung erkundete. Nachdem sie wie alle anderen neu an Bord gekommenen Gesellschafterinnen noch ein weiteres Mal von einem Arzt nach Infektionen und Geschlechtskrankheiten untersucht worden war, wurde die Schar nur zwei Decks über den gewaltigen Heizkesseln des Schiffes in verschiedene Schlafsäle abgeschoben. Die Nähe zu den wummernden Maschinen waren jedweder Ruhe sehr abträglich. In Yolandas Schlafsaal nächtigten zudem noch fünfzehn weitere Frauen, die wie sie als Zerstreuung für die Offiziere und den Militäradel an Bord genommen worden waren. Die blechernen Bettgestelle waren eng aneinandergepfercht, die Waschräume bescheiden klein, Aborte gab es nur zwei, und die mussten sie sich mit dem benachbarten Saal teilen. Nicht weniger missfiel ihr, dass sie außer der Schärpe und den Pantoffeln nichts mit an Bord hatte nehmen dürfen, weder Kleidung noch Hygieneartikel. Und auch keine Waffen.
Hier findet ihr alles, was ihr braucht, verkündete Abigail, die Rothaarige, und deutete in die Richtung einer Reihe blecherner Spinde an der Wand. Sie öffnete sie nacheinander, und Yolanda erspähte Seifen, Pflegemittel, Tücher, Waschlappen, Salonmäntel und sogar Unterwäsche. Wenn eine von euch unpässlich ist, will ich das rechtzeitig wissen, damit ich planen kann, fuhr sie gebieterisch fort. Auch alle anderen etwaigen Anliegen und Sorgen will ich hören, bevor sie an die Ohren der Herrschaften dringen. Haben das alle verstanden?
Das Gesinde ruhte nicht weit von hier, was Yolanda sehr zupass kam. Sie wollte umgehend Erkundigungen nach dem Ärmsten einholen, den man vermutlich zu Unrecht enthauptet hatte.
Weiche Streichermusik drang an Bridgets Ohren. Ihrer tadellosen Funktion war sie sich gewiss, ihren Augen aber traute sie gegenwärtig nicht. Die ausladenden Stufen, die sie an der Seite des Viscounts hinabstieg, mündeten im Wasser. Auf dem etwa neun Yards breiten Kanal fuhr eine venezianische Gondel vorbei, gelenkt von einem Jüngling in venezianischer Gondolierstracht am Heck. Auf dem Vordeck vollzogen ein Mann und eine Frau schamlos und geräuschvoll den Liebesakt. Die Frau war Bridget unbekannt, wohl aber erkannte sie den Mann: Es war Roger Dale, der Baron of Jacksville. Seine Gespielin lag mit weit gespreizten Beinen auf der Seite, die obere Kniebeuge auf seiner Schulter abgelegt, während er schnaufend und schwitzend in sie stieß und ihr damit ekstatische Laute entlockte.
Das sind die Kanäle, Viscount, erklärte Clarence Talbot mit einem überlegenen Lächeln. Wissen Sie, der Grundgedanke, der dieser Konstruktion zugrunde liegt, lautet dahin, alles Wasser, das wir für den Antrieb aufnehmen müssen, ausgiebig zu nutzen, bevor es zu Dampf verheizt wird. So kühlt es die heiß laufenden Maschinen rundherum und nimmt im Gegenzug eine angenehme Badetemperatur an. Probieren Sie es aus, George!
Die Gondel hatte Bridgets anfängliche Aufmerksamkeit für sich beansprucht, doch es gab noch weit mehr zu bestaunen. Auf den blechernen Stegen entlang des Wassers fläzten unbekleidete Menschen beider Geschlechter, naschten aus Obstkörben und tranken Wein. Nicht weit zu ihrer Linken erkannte sie auf einem Kissengelage den pummeligen Baron Dashwood, umgeben von vier nackten Schönheiten. Seidene Vorhänge gaben vage, in schummriges Licht getunkte Eindrücke vom Treiben abseits des Wassergrabens preis, wo sich in Nebenräumen offensichtlich weitere Feiernde aufhielten. Auch im Kanal schwammen Leute, Frauen und Männer. Am gegenwärtig einsehbaren Stück der hohen Decke über dem Wasser baumelten in angemessenen Abständen zwei prächtige Kronleuchter. Bridget hatte sich auf einiges gefasst gemacht, doch dies übertraf ihre Erwartungen. Was war das hier für ein Ort? Und wer waren all diese Leute?
Bekommt man hier auch einen guten Cognac?, fragte der Viscount für Bridget vollkommen aus dem Kontext gerissen.
Der Earl of Rochester lachte. Kommen Sie mit!
Sie folgten Clarence Talbot über eine schmale Bogenbrücke zur anderen Uferseite. Bridget und der Viscount sahen sich beiderseitig um. Wie es schien, beschrieb der Kanal einen ovalen Rundlauf, doch gelegentliche Nischen ließen vermuten, dass es auch Nebenläufe gab. Auf unmerklich erhobenen Plattformen entlang des Wassers hatten sich Dutzende Menschen beider Geschlechter eingefunden, gaben sich auf Diwans oder Teppichen ihren Trieben hin oder sahen anderen dabei zu. Weitere mussten sich jenseits der Vorhänge aufhalten. Dies also war das heimliche Herz der Prominence I. Als Ihre Majestät den Koloss bei seiner Taufe besichtigt hatte, wurde sie darüber sicherlich nicht in Kenntnis gesetzt.
Als die Gondel schon wieder gefährlich nahe kam, tauchte Yolanda ab und hielt auf eine der Ausstiegstreppen zu, wo ihre Bettnachbarin Wendy mit zwei anderen jungen Frauen ausgelassen kicherte und schäkerte. Zwar war es sehr unwahrscheinlich, dass Roger Dale sie wiedererkennen würde, schon gar nicht während er sich sexuell verausgabte, doch Yolanda wollte ihr Glück und Geschick nicht herausfordern.
Als sie den Kopf wieder aus dem Wasser hob, erspähte sie George Franier und das Blondchen, das als seine Assistentin fungierte. Yolanda glaubte sich zu erinnern, dass sie Bridget hieß. Der Earl of Rochester komplimentierte sie gerade über eine Brücke. Genau wie bei Roger Dale war Yolanda gut beraten, sich vor den Blicken der beiden in Acht zu nehmen. Ihr vorgeblicher Auftrag lautete dahin, die Ermittlungen des Viscounts zu überwachen.
Entgegen der meisten anderen Gäste waren die drei noch voll bekleidet und marschierten weiter den Steg entlang, als würden sie einen Kuriositätenladen besichtigen. Yolanda folgte ihnen auf dem Wasserweg.
Der Abend nahm seinen Verlauf. Walden-Rothwell hatte sie entweder absichtlich hinlänglich getäuscht oder er war selbst unzureichend über das Ausmaß der hiesigen Ausschweifungen informiert. Er hatte von exzessivem Zechen erzählt, von hemmungslosem Wein- und Opiumgenuss und nackten Tänzerinnen, die den Lords und Offizieren dabei Gesellschaft leisteten. Dies hier aber ging weit darüber hinaus. Und die Frauen waren nicht nur Tänzerinnen und Gesellschafterinnen, sie waren Gespielinnen Prostituierte. Yolanda überlegte, wie sie handeln würde, sollte sie von einem der Lords erkoren werden. Sie hatte sich für Walden-Rothwell dazu bereit erklärt, das hier auf sich zu nehmen, doch bei der Auftragsannahme war lediglich von tanzen und liebäugeln die Rede gewesen, mitnichten von orgiastischen Exzessen, wie sie hier zelebriert wurden.
Auf einer der leicht erhobenen Plattformen am Hauptlauf des Kanals lag Blaise Wedderburn in einen seidenen Mantel gehüllt auf einem altrömischen Kanapee und ließ sich von einer unbekleideten blonden Schönheit mit Weintrauben füttern. Mit der freien Hand kraulte sie sein dunkles Haupthaar. Zu seinen Füßen hockte eine weitere dienstbare Gesellschafterin. Zwei Diwans warteten in unmittelbarer Umgebung auf. Der eine war unbenutzt, auf dem anderen saß ein stämmiger Mann mittleren Alters in einem meeresblauen Morgenmantel und mit einem Glas Wein in der Hand. Eine rothaarige Unbekleidete massierte ihm die Füße. Bridget erkannte ihn nicht. Wahrscheinlich war es einer der Offiziere. Nicht weit entfernt saßen in einer Ecke die sieben Streicher, die den weiten Raum mit Musik bereicherten, das Arbeiten der unfernen Schiffsmaschinen aber nicht gänzlich übertönen konnten.
Keine Etikette, Viscount!, rief Wedderburn empört, als Talbot gefolgt vom Viscount und Bridget näherkamen. Sie zerstören damit das Ambiente!, fügte er mit einem Anflug von Scherzhaftigkeit hinzu.
Ich fürchte, ich fühle mich trotz all Ihrer Bekundungen vor falsche Erwartungen gestellt, entgegnete George Franier tadellos vergnügt. Gleichwohl bin ich unsäglich beeindruckt von diesem Ort. Mir scheint, die Gelder des Schatzministers wurden entgegen aller Unkenrufe doch sinnvoll verwendet.
Gelächter.
Nehmen Sie doch Platz, lud Talbot den Viscount ein und machte sich davon. Bridget vermutete, dass er sich irgendwo seiner Kleidung entledigen und sich in etwas Bequemeres hüllen wollte. Standen ihr und dem Viscount dasselbe bevor? War das womöglich sogar eine Bedingung, hier verweilen zu dürfen? Bridgets innere Unruhe wuchs.
Sie und der Viscount hatten kaum auf dem freien Diwan Platz genommen, als ein weiterer in einen hauchdünnen Mantel geschälter Mann hinzutrat. Es war Baron Wilford Merryfame, aus dessen Gemach Bridget und der Viscount das Tagebuch von Lady Rowena entwendet hatten.
Ah, Merryfame, wir haben Sie schon vermisst, verlautete Wedderburn und empfing dabei eine weitere Weintraube. Wo haben Sie sich den ganzen Tag lang herumgetrieben?
In meinen Räumen natürlich, entgegnete Merryfame, wobei sein unsicherer Blick über Bridget huschte. Ich hatte viel zu tun und habe ausgiebig geruht. Es folgte ein Lächeln, woraus Bridget schloss, dass der Gin und der Zerstäuber die erhoffte Wirkung erzielt hatten.
Ein Wandvorhang wurde flatternd beiseite gerissen, und zwei junge Damen traten heraus. Entgegen aller anderen Frauen, die Bridget in diesem Areal bislang erspäht hatte, waren sie nicht nackt, sondern trugen leichte Gewänder aus Florentiner Seide. Baron Merryfame!, stieß die Erste aus und warf sich ihm um den Hals. Wie Bridget hernach erfuhr, waren dies zwei Nichten des Dukes of Northumberland.
Bridget verbrachte eine angespannte Zeit unter den hohen Herrschaften. Anders der Viscount, der sich so locker und entspannt wie immer gab, so als säße er bei einem gemütlichen Plausch und einem guten Drink in einem beliebigen Salon. Seine unbrechbare Haltung verlieh ihr Kraft und Durchhaltevermögen, und so wusste sie auch zu kontern, wann immer sie jemand aufforderte, sich auszuziehen und ins Wasser eintauchen. Ihr Selbstvertrauen erlosch jedoch jäh, als der Viscount einer der Nichten des Dukes in die Gefilde jenseits der Vorhänge folgte. Bridgets Herz beschleunigte seinen Takt. Dergleichen war nicht abgesprochen. Weshalb ließ er sie allein zurück? Was hatte er vor?
Der Offizier war Schwimmen gegangen, Merryfame mit der anderen Nichte des Dukes von dannen gezogen. Betreten und verunsichert verweilte Bridget in der Gesellschaft Wedderburns, der sie nicht weiter beachtete und nach wie vor von seinen beiden Gespielinnen verwöhnt wurde. Als eine von ihnen seinen Penis freilegte und begann, ihn mit Lippen und Fingern zu umgarnen, erhob sich Bridget von dem Diwan und verließ den Schauplatz.
Die Neugier trieb sie zu dem Vorhang, hinter dem der Viscount verschwunden war. Schon als sie näherkam, überlagerten Laute der Fleischeslust die Musik. Sie lüftete den Vorhang und blickte in einen dezent mit roten Laternen ausgeleuchteten Wohnraum. Auf einer Liege fand sie den Viscount und die Nichte des Dukes vor, beide entkleidet und nicht untätig. Erhaben und leidenschaftlich stieß der Viscount mit seinem erigierten Penis in sie. Als er Bridgets Blick begegnete, lächelte er.
Warum haben Sie das getan?, fragte Bridget, als sie dem Viscount am nächsten Morgen beim Frühstück gegenüber saß. Ich meine, wie konnten Sie nur?
Ich nehme an, Sie spielen auf meine sexuelle Exkursion an?, entgegnete George Franier und nippte an seinem Tee. Bridget, um diese Gesellschaft zu begreifen, müssen wir uns ihr angleichen. Ich lege Ihnen dasselbe nahe.
Ich soll mich in den Kanälen vergnügen?, erwiderte Bridget entrüstet.
Deshalb sind sie so angelegt worden, meinte der Viscount. Wenn Sie nicht mit einem der Lords Vorlieb nehmen wollen, suchen Sie sich einen hübschen Offizier aus. Oder einen der jungen Männer, die für den weiblichen Adel an Bord genommen worden sind. Sie haben die freie Auswahl.
Davon werde ich Abstand nehmen!, sagte Bridget entschieden und war von dieser neuerlichen Haltung des Viscounts gleichermaßen schockiert wie enttäuscht.
Das ist natürlich Ihre Entscheidung, meinte Franier gleichmütig. In Ihrem eigenen Sinne hoffe ich, Sie werden sich in den nächsten Tagen nicht allzu sehr langweilen.
Bridget musterte ihn abschätzig. Glaubte der Viscount tatsächlich, damit dem wahren Mörder von Lady Rowena auf die Spur zu kommen oder hatte er gar sein Vergnügen an dem Treiben entdeckt?
Haben Sie gestern noch in dem Tagebuch gelesen?, fragte sie.
Wie? Oh. Nein. Ich war zu müde. Ich werde die Lektüre nachholen.
Tagsüber fielen den Gesellschafterinnen keinerlei Aufgaben zu. Ihr einziger Bestimmungszweck an Bord bestand darin, den Herrschaften gefällig zu sein. Die Reinigung der Kanäle übernahm das Gesinde, ebenso das Austauschen der Laken, Kissen und Teppiche sowie das Wiederauffüllen der Obst- und Weinbestände. Yolanda versuchte zu schlafen, was ihr aufgrund der brummenden Maschinen jedoch nur bedingt gelang. Darüber hinaus beschäftigten sie die Eindrücke, die sie in ihrer ersten Nacht an Bord der Prominence I sammeln durfte. Es war geradezu unfassbar, was hier auf dem Flaggschiff der Royal Air Domination vor sich ging. Wie konnte es so weit kommen? Wer hatte diese entwürdigende Entwicklung vorangetrieben? Und warum schritt niemand dagegen ein?
Der nächste Abend brach an, und Bridget graute davor, erneut die Kanäle zu betreten. Der Viscount aber bestand auf ihre Begleitung. Wie tags zuvor trug sie eines ihrer Hosenkostüme. Der Viscount hingegen begnügte sich bereits bei ihrem Treffen mit einem dünnen Mantel aus Kaschmir und schlichten Pantoffeln. Auch auf seinen Spazierstock hatte er verzichtet. Er musterte seine Assistentin von oben bis unten. Möchten Sie die Wahl Ihrer Garderobe nicht noch einmal überdenken, Bridget?
Nein, das möchte ich nicht, Sir!, betonte Bridget deutlich.
Wie Sie meinen. Franier seufzte schulterzuckend und setzte sich zielstrebig in Bewegung. Auf zur Tat!
Bridget hielt mit ihm Schritt. Sir, wieso tun Sie das?, fragte sie flüsternd.
Was denn?, erkundigte sich der Viscount mit gespieltem Erstaunen.
Bridget wurde wütend. Na, das!, erwiderte sie und deutete auf seinen unangemessenen Aufzug. Das lässt mich schließen, dass Sie gedenken, sich erneut diesem unsäglich skandalösen Treiben hinzugeben!
Da schließen Sie vorbehaltlos richtig, Bridget, gestand Franier ohne Umschweife. Unser Auftrag macht das erforderlich.
Das sehe ich anders, Sir!
Was Sie nicht sagen ...
Ich bin schon gespannt, was heute alles passieren wird!, schnatterte Wendy mit unverhohlener Vorfreude in Yolandas Ohr, als sich die beiden in einer Schar von etwa vier Dutzend weiteren unbekleideten Gesellschafterinnen auf den Weg in die Kanäle machten. Für sie und das Gesinde gab es einen separaten Zugang zu den Kanälen, einen schwach beleuchteten Korridor, der ihre Schlafsäle mit einem Seitenlauf des Rundkanals verband. Ich werde heute mein Bestes geben, dem Earl of Devon schöne Augen zu machen, fuhr Wendy erwartungsvoll fort. Er ist ein toller Mann, findest du nicht auch? Charmant und so witzig! Und ich glaube, er hat schon gestern ein Auge auf mich geworfen. Heute werde ich die Gelegenheit beim Schopf packen!
Es kostete Yolanda nicht wenig Mühe, sich ihrer Bettnachbarin und den anderen gegenüber als ebenso mannstoll und mächtigenhörig aufzuspielen.
Als sie sich kurz darauf dem warmen Wasser übergab und den anderen hinterher den Hauptkanal anstrebte, war das Areal noch weitgehend menschenleer. Yolanda erspähte ein paar der männlichen Gesellschafter, von denen es weitaus weniger als weibliche an Bord gab, dazu einige Diener aus dem Gesinde, die Weingläser füllten und Obstschalen und Brotkörbe bestückten.
Die dienstbaren Lustobjekte, zu denen sich auch Yolanda bedauerlicherweise zählen musste, schwärmten aus. Vereinzelte blieben im Wasser, die meisten verteilten sich am Ufer entlang des Hauptlaufes. Diesen schloss sich auch Yolanda an. Sobald die ersten Lords anrücken und auf Damenschau gehen würden, wollte sie sich ins Wasser zurückziehen. Im Gegensatz zu Wendy verspürte sie keinerlei Begehrlichkeiten, hier irgendjemandes Gunst zu erringen.
Die ersten Vertreter der Herrschaften ließen nicht lange auf sich warten. Baron Cyrus Dashwood war einer der ersten, der eintraf. Yolanda aber interessierte sich mehr für den Earl of Rochester Clarence Talbot, der kurz nach ihm einzog. Er war einer der drei Zeugen, die Lady Rowenas Mörder aus deren Gemach schleichen sahen. Zumindest behaupteten die drei das.
Als die muskulöse Gestalt Roger Dales, des jüngst ernannten Barons of Jacksville, die breiten Eingangsstufen herabstieg, senkte Yolanda den Kopf auf die Wasseroberfläche. Es war höchst unwahrscheinlich, dass er sie bei einem flüchtigen Blickkontakt wiedererkennen würde, Yolanda wollte dennoch alle Vorsicht walten lassen.
In einem stattlichen Wohnraum, der durch dünne Vorhänge vom Hauptlauf des Kanals abgetrennt war, strebten Bridget und der Viscount eine zwanglose Gesprächsrunde der Barone Dale, Merryfame und Ballonfirst an. Die Barone hatten sich auf mit rotem Samt bezogenen Sesseln um einen prächtigen Kirschholztisch geschart und kosteten rubinroten Wein. Bridget und der Viscount nahmen mit einem gleich beschaffenen Kanapee Vorlieb.
Der französische Traubennektar ist seinen Preis fraglos wert, gab Baron Ballonfirst gerade genüsslich zum Besten und vollführte mit seinem Glas einen großzügigen Schwenk. Ich wünschte mir dennoch, wir würden den Schneckenfressern dafür anstelle von Sterling ein paar Kanonenkugeln in ihre Weinberge schicken.
Von Merryfame und Dale erntete er dafür zustimmendes Gelächter. Wie der Viscount waren die drei in bequeme Abendmäntel gehüllt. Darunter trugen sie vermutlich nichts.
Ah, Viscount, wie schön!, vermerkte Merryfame leutselig und winkte nach einer unbekleideten Frau mit langen, haselnussbraunen Haaren und gleichfarbigen Augen, die von Bridget bislang unbemerkt und offensichtlich auf Anweisungen wartend in einer Ecke verharrt hatte. Wein für den Viscount und seine reizende Begleitung!, trompetete Merryfame hinaus. Darf es auch etwas zu rauchen sein, Viscount?
Dale und Ballonfirst pafften Zigarre, Merryfame hatte eine Opiumpfeife und Besteck vor sich auf dem Tisch liegen.
Mit Vergnügen!, tat der Viscount kund. Eine Zigarre für mich!
Die nackte Schönheit erfüllte ihm den Wunsch ohne Verzögerung. Auf einem Silbertablett servierte sie zwei Gläser Wein, einen Aschenbecher und eine frische Zigarre. Beim Entzünden des Tabakröllchens mittels eines Zündstabes ging sie dem Viscount zuvorkommend zur Hand. Die lüsternen Blicke, mit denen er ihren wohlgeformten Körper dabei bedachte, blieben Bridget nicht verborgen.
Nun, George, wonach steht Ihnen der Sinn heute Abend?, fragte Merryfame. In diesen ehrwürdigen Hallen ist alles möglich, denken Sie daran und schöpfen Sie Ihre Phantasien aus!
Der Viscount antwortete nicht sofort. Seine Blicke verfolgten die Unbekleidete, die sich nach getaner Arbeit wieder in ihre Ecke zurückzog. Ich habe vor, die Dinge auf mich zukommen zu lassen, erklärte er beiläufig.
In der Runde der vier Lords fühlte sich Bridget vollkommen fehl am Platze. Auch den Wein wollte sie nicht anrühren und tat nur so, als würde sie daran nippen. Am Meisten machte ihr zu schaffen, dass sie nicht wusste, was der Viscount von ihr erwartete. Sollte sie Fragen über Lady Rowena stellen? Nein, das wäre unangebracht aufdringlich und vor allen Dingen geradezu penetrant entlarvend. Die Lords würden sie augenblicklich durchschauen. Das konnte nicht der Weg sein, den der Viscount zu gehen gedachte. Doch was wollte er dann? Warum hatte er ihr keine klaren Anweisungen gegeben, wie er es bei früheren Gelegenheiten immer getan hatte?
Das Gesinde hat hier wohl keinen Zutritt, wie?, stellte der Viscount in den Raum.
Diese saloppe Frage ließ in Bridget ein wenig Hoffnung aufkeimen, versprach sie doch zumindest einen kleinen Schritt in die sachbezogenen Gefilde ihres Auftrags an Bord dieses Schiffes. Der angebliche und zwischenzeitlich enthauptete Mörder Lady Rowenas hatte immerhin dem Gesinde angehört.
Oh, nicht solange wir feiern, legte Baron Rufus Ballonfirst dar. Woher rührt Ihre Frage, Viscount? Sagt Ihnen unsere Tischdienerin etwa nicht zu?
Doch doch, Baron, das tut sie voll und ganz. Wirklich, voll und ganz.
Ballonfirst grinste und bedeutete der Unbekleideten mit einer fordernden Gestik, zum Tisch zurückzukehren. Sie leistete dem Befehl gehorsam Folge.
Der Viscount ist noch nicht gänzlich von deinen Qualitäten überzeugt, sagte Ballonfirst. Du tust gut daran, dich ihm zu beweisen.
Sprechen stand der Freudendame offenbar nicht zu. Schweigsam begann sie, sich vor dem Viscount zu bewegen, ließ verführerisch die Hüften kreisen und spielte mit den Fingern der linken Hand in ihrem langen Haupthaar. Der Viscount zog an seiner Zigarre und sah erwartungsvoll zu ihr auf.
Sie wird jeder Ihrer Anweisungen Folge leisten, Viscount, bemerkte Merryfame. Also keine falsche Scheu.
Ich finde, sie macht sich auch ohne Anweisungen sehr gut, meinte der Viscount paffend und ohne den Blick von ihrem Spiel abzuwenden.
Sie spielte mit den von ihrer Zunge benetzten Fingern beider Hände an ihren Brustwarzen, glitt lasziv tiefer bis zu ihrer Taille, nur um dann zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Nun hob sie ihre Brüste weit genug an, um die Brustwarzen mit ihrer Zunge lustvoll zu bestreichen. Dann vollführte sie mit unentwegt einladend kreisenden Hüften eine halbe Drehung und bot dem Viscount ihren Hintern dar.
Was ist mit Ihrer stillen Begleitung, Viscount, meldete sich erstmals Roger Dale zu Wort. Welchen Zweck erfüllt sie an Ihrer Seite? Möchte sie nicht ebenfalls für uns tanzen?
Sie erfüllt einen äußerst wichtigen Zweck an meiner Seite, Baron, betonte der Viscount. Ob sie für Sie tanzen will, müssen Sie sie selbst fragen. Nur zu! Sie verfügt über eine Stimme.
Bridgets Herzschlag legte zu. Baron Roger Dale fixierte sie mit Blicken, die keinen Widerspruch dulden wollten. Folglich würde dies eine neue Erfahrung für ihn werden, denn auf dergleichen würde sich Bridget nicht einmal auf Bitten des Viscounts herablassen.
So denn!, bellte ihr Dale befehlsgewohnt zu. Fang an! Erhebe dich und tanze für uns!
Bridget schüttelte den Kopf. Davon muss ich absehen, Mylord, entgegnete sie mit nicht so fester Stimme, wie sie es sich vorgenommen hatte. Verzeiht mir. Ich tanze nicht.
Du tanzt nicht, ich verstehe. Dale zuckte belustigt mit seinen Schultern. Nun gut, dann setze dich ohne zu tanzen zu mir.
Das ... das möchte ich ebenfalls nicht, Mylord.
Dales Ausdruck verfinsterte sich. Ach so, du möchtest das nicht, formulierte er gewogen. Sehr wählerisch, Ihre Begleitung, Viscount. Falls es ihre Absicht war, mich zu verärgern, ist ihr das gelungen.
Das lag wirklich nicht in meiner Absicht, Mylord, sprach Bridget mit demütig gesenktem Haupt. Bitte entschuldigt meine Zurückhaltung.
Ihr werdet akzeptieren müssen, Baron, meinte der Viscount die Tanzende hatte inzwischen auf seinem Schoß Platz genommen , dass Miss Sharpe ausschließlich mir gegenüber Verpflichtungen nachzukommen hat. Alles darüber hinaus liegt in ihrer eigenen Befindlichkeit.
Dales Lippen formten ein verächtliches Lächeln, als er sich an Merryfame wandte. Du sagtest, das kleine Luder hätte dir eine Menge Spaß bereitet. Erzähl mir, wie hast du sie angepackt?
Das wird mein Geheimnis bleiben, Roger, gab Merryfame etwas kleinlaut zur Antwort und bestückte seine Opiumpfeife. Sein flüchtiger Blick auf Bridget fiel ungleich unsicherer aus. Verständlicherweise haderte er noch immer mit fehlenden Erinnerungen an ihre vorgebliche gemeinsame Liebesnacht in seinen Gemächern, die in Wahrheit nie stattgefunden hatte.
Dale schien sich mit Bridgets unnachgiebiger Haltung abzufinden, drückte seine Zigarre in einem Aschenbecher aus und verließ die Runde. Vermutlich wollte er sich draußen um eine andere Dame bemühen, was ihm bei der vorherrschenden Auswahl keine Schwierigkeiten bereiten sollte. Bridget war froh, dass er fort war.
Die stumme wie namenlose Tänzerin und Tischbedienstete nahm den Viscount nun vollends in Beschlag. Auf Knien über ihm bedrängte sie ihn mit beiden Händen und Brüsten und zwang ihn damit weitestmöglich in die weiche Lehne des Kanapees. Bridget wandte brüskiert den Blick ab und nahm auf ihrer gemeinsamen Sitzgelegenheit größtmöglichen Abstand zu dem Geschehen. Sie suchte nach etwas anderem in dem Raum, das ihre Aufmerksamkeit verdiente, doch außer den verbliebenen Lords war da nichts. Baron Ballonfirst beäugte sie mit falschem Mitleid, enthielt sich aber eines Kommentars, wofür Bridget dankbar war. Erneut hinterfragte sie im Stillen, weshalb sie hier war. Der Viscount verlangte nichts von ihr, hatte ihr auch keinerlei Anweisungen gegeben. War es Bestandteil seiner Taktik, sie uneingeweiht zu lassen? Oder verfolgte er gar keine Taktik? Tat er das einfach nur zu seinem Vergnügen? Gefiel es ihm, seine gelehrige Assistentin in diese furchtbare Lage zu bringen?
Die Hände der fremden Frau unterwanderten den Mantel des Viscounts und legten seine behaarte Brust frei. Während sie ihn auf den Mund küsste, glitten ihre Hände tiefer hinab zu seinem Schritt. Weshalb ließ er das zu?, fragte sich Bridget. Warum befahl er sie nicht von sich? Wollte er, dass sie das tat?
Als sie von ihm stieg, erkannte Bridget, dass die Bemühungen der Unbekannten Wirkung gezeigt hatten. Der Abendmantel vermochte die Erektion des Viscounts nicht zu verbergen. Die nackte Schönheit verbannte ihre langen Haare hinter ihre Schultern und ging vor ihm in die Hocke. Ihre schlanken Finger öffneten die Schleife, welche die Mantelflügel zusammenhielten, legten Franiers erigierten Penis frei und nahmen sich seiner an.
Bridget konnte es nicht länger ertragen. Dass sich der Viscount in ihrer unmittelbaren Gegenwart auf derartige Obszönitäten herabließ, konnte sie nur als Respektlosigkeit ihrer Person gegenüber auffassen. Sie sprang auf und strebte die Vorhänge an. Unter Ballonfirsts schallendem Gelächter verließ sie den Raum.
Am Hauptkanal angelangt, tat Bridget ihr Bestes, ihre Enttäuschung nicht nach außen zur Schau zu tragen. Sie hielt auf einen vereinsamten Diwan in der Nähe der Musizierenden zu und versuchte, das Treiben auf den Plattformen entlang des Wassers zu ignorieren, was ihr nur bedingt gelang. Mit wachsender Verzweiflung bemerkte sie, dass sie den Glauben an ihren einst so geschätzten Mentor, den Viscount of Dundee George Franier, verloren hatte.
Die folgenden beiden Tage, während die Prominence I noch mehrfach ihren Standort über London veränderte, um die für das Royal Fort auf Sizilien bestimmte Fracht zu komplettieren, wandte Yolanda dafür auf, beim Gesinde beiläufig Hintergründe über den Enthaupteten zu erfragen. Da sich die Dienerschaft mit den Gesellschafterinnen und Gesellschaftern einen Speisesaal teilte, stellte das keine Schwierigkeit dar. Die Art seiner Beziehung zu Lady Rowena blieb ihr jedoch verschlossen.
Die Abende und Nächte brachte sie in den Kanälen zu, wo die Schamlosigkeiten immer neue schockierende Höhepunkte erklommen. Die Lords und Ladies, die Offiziere und ihre geduldeten Lustobjekte gaben sich jeglichen Anstands enthemmt orgiastischen Gelagen hin, wie Yolanda es nicht für möglich gehalten hätte. Würden Ihre Majestät und das House of Lords von diesen sittlichen Niederungen Kenntnis haben, würden sie gewiss Maßnahmen ergreifen. Wendy und die meisten anderen Frauen, die wie Yolanda an Bord genommen wurden, um der Wollust der Herrschaften genüge zu tun, waren geradezu erpicht darauf, den Lords nach deren Belieben gefällig zu sein. Nicht wenige der Dummchen erhofften sich eine spätere Heirat mit einem jungen Baron oder gar einem Earl.
Yolanda ging den Exzessen erfolgreich aus dem Weg, indem sie sich niemandem aufdrängte, nur selten das Wasser verließ und respektvollen Abstand zu den Zügellosigkeiten auf den Plattformen und den Räumen jenseits der Vorhänge wahrte. Ihre Aufmerksamkeit galt allen voran jenen drei Lords, die den enthaupteten Gesindling angeblich aus dem Gemach des Opfers flüchten sahen, sowie dem Viscount of Dundee. Zu Yolandas Besorgnis sprach Letzterer inzwischen ebenfalls den hiesigen Gepflogenheiten zu und schien gänzlich in ihnen aufzugehen. An den Massenveranstaltungen beteiligte er sich nicht, doch auch er scharwenzelte nackt mit unterschiedlichen Damen umher und geleitete sie hinter die Vorhänge. Am Abend zuvor hatte er eine von ihnen öffentlich begattet.
Die Einzige, die neben Yolanda nicht an dem Spektakel teilnahm, war Franiers Assistentin Bridget. Wie eine an diesem Ort vollkommen deplatzierte Anstandsdame blieb sie stets im Hintergrund und öffnete nicht einmal den obersten Knopf ihres burschikosen rotblauen Kostüms. Sie spielte ihr anhaltendes Missbehagen entweder sehr gut oder dieses obszöne Treiben widerte sie tatsächlich über alle Maßen an. Ihr Ausbilder Franier wäre demnach davon nicht ausgenommen. Verfolgte er damit eine Strategie? Wollte er das Empfinden seiner Assistentin in irgendeiner Weise zu seinem Vorteil nutzen? Wollte er mit ihrem rundum gegenteiligen Verhalten eine Reaktion seitens der Lords provozieren? Yolanda durchschaute die Absichten Franiers nicht, und das beunruhigte sie. Walden-Rothwells Befürchtungen, die um einen möglichen Interessenkonflikt lauteten, gewannen dadurch an Substanz. Anstatt in den Reihen der Lords Ermittlungen anzustellen, schien der Viscount voll und ganz Teil dieser illustren Gesellschaft geworden zu sein, so als habe er hier seine Erfüllung gefunden. Doch aus welchem Grund nahm er dann Abend für Abend seine Assistentin mit hierher? Verfolgte er vielleicht doch irgendein noch unabsehbares Vorhaben in Bezug auf seinen Auftrag? Sein Verhalten gab Yolanda Rätsel auf.
Die Nacht war bereits vorangeschritten, und Yolanda sah keinen Grund, noch länger in den Kanälen zu verweilen, wo sich nichts anderes abspielte als an den Abenden zuvor. Am Fluchtkorridor, der zu den Schlafsälen der Gesellschafterinnen führte, hievte sie sich aus dem Wasser, nahm eines der bereitliegenden Handtücher auf und trocknete sich beim Weitergehen ab. Das gebrauchte Tuch landete normalerweise ein paar Schritte weiter in einer Wäscheklappe. Dieses Exemplar aber hielt sich Yolanda reflexartig vor den Körper, als ihr plötzlich jemand aus einem Seitengang in den Weg trat. Im schemenhaften Licht des schmalen Korridors identifizierte sie die zierliche Gestalt Bridgets.
Ich habe mich also nicht getäuscht, sprach die junge Frau mit einem merkwürdigen, fast wahnhaften Flackern in den Augen. Sie sind Yolanda Baker! Ja, ich erkenne Sie wieder! Ich habe mich nicht getäuscht. Sie sind es.
Yolanda fluchte insgeheim. Offenbar war sie doch zu unvorsichtig gewesen. Das gefährdete ihren Auftrag empfindlich und war nun leider nicht mehr rückgängig zu machen. Ihre Identität zu leugnen, war sinnlos.
Seit wann wissen Sie es schon?, fragte sie.
Sicher bin ich mir erst jetzt, antwortete Bridget, wobei sie sich um ein Lächeln bemühte, das nicht glückloser hätte ausfallen können. Gestern glaubte ich, Sie im Wasser gesehen zu haben, fuhr sie mit bebenden Lippen fort. Ich dachte schon, ich würde allmählich den Verstand verlieren. Doch heute glaubte ich es erneut. Und jetzt stehen Sie vor mir. Ich habe mich nicht getäuscht. Sie sind hier.
Yolanda war beeindruckt. Die junge Frau musste über eine scharfe Beobachtungsgabe und ein gutes Gedächtnis verfügen. Sie waren einander vor diesem Abend nur ein einziges Mal begegnet.
Bridget trat einen zaghaften Schritt näher. Ich bin so froh, dass Sie da sind, sagte sie, dieses Mal mit einem flehenden Lächeln. Der Viscount! Ich verstehe ihn nicht mehr! Ich begreife einfach nicht, warum er ...
Scht! Yolanda sah sich beflissen um. Sollten sie belauscht werden, stand bald noch viel mehr auf dem Spiel als das Gelingen ihres Auftrags. Sie packte Bridget mit der freien Hand am Arm und zog sie in den Seitengang, aus dem sie zuvor gekommen war. Bridget gegenüber war ihre Tarnung dahin, so blieb nun nicht viel mehr als ihr zu unterbreiten, dass sie als Rückendeckung für Bridget und den Viscount an Bord war, was zumindest halbwegs der Wahrheit entsprach. Ihren wahren Auftrag, die beiden zu überwachen, hielt sie vornehmlich bedeckt.
Anschließend bestätigte die junge Frau den Eindruck, dem sich auch Yolanda nicht erwehren konnte: Der Viscount hatte sich mit dem Bordgeschehen offensichtlich mehr angefreundet als gut für seinen Auftrag war. Freilich war es möglich, dass er damit eine Strategie verfolgte, doch wenn selbst seine Assistentin verunsichert war, gab das Anlass zur Besorgnis.
Er ist seit ein paar Tagen nicht mehr wiederzuerkennen, flüsterte Bridget den Tränen nahe. Ich verstehe das einfach nicht. Er scheint sich nicht einmal mehr für das Tagebuch des Opfers zu interessieren. Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck.
Es gibt ein Tagebuch?, hinterfragte Yolanda.
Bridget nickte und erklärte, dass sie selbiges mit einer List aus dem Gemach von Baron Merryfame entwendet hätten, den sie und der Viscount inzwischen für den tatsächlichen Mörder von Lady Rowena hielten. Ein Motiv erschloss sich bislang jedoch nicht.
Sie schreibt von einem Verehrer, schilderte Bridget weiter. Einen Rosenkavalier und Gedichteschreiber. Die fraglichen Gedichte fanden sich leider nicht in dem Buch, aber der Verurteilte aus dem Gesinde war wohl ihr heimlicher Liebhaber. Vielleicht war Merryfame das ein Dorn im Auge.
Yolanda wandte sich kurz von ihr ab, um den rückwärtigen Korridor nach etwaigen Lauschern zu überprüfen, und nutzte die Zeit, die neuen Informationen zu ordnen. Sie war sich unschlüssig, wie das neuerliche Verhalten Franiers zu bewerten war, doch wenn er Merryfame überführen wollte, wie es sein Auftrag vorsah, entsprach seine Verbrüderung mit dem hiesigen Militäradel wahrscheinlich doch einer Taktik, an Hintergrundwissen zu gelangen.
Sie kehrte zu Bridget zurück. Bleiben Sie an seiner Seite, riet sie ihr. Er wird Ihren Beistand brauchen.
Das empfinde ich anders, klagte Bridget. Ich fühle mich vollkommen nutzlos. Könnten Sie mich nicht miteinbeziehen, Miss Baker? Dann würde ich mich besser fühlen.
Für ihren eigenen Auftrag, die Ermittlungen des Viscounts zu prüfen, wäre es sicher hilfreich, eine Vertraute in dessen unmittelbarer Nähe zu wissen, doch Yolanda wusste nicht, inwieweit sie Bridget trauen durfte. Immerhin war Franier ihr Ausbilder. Womöglich spielte sie sogar just im Moment Theater für ihn.
Ich denke, der Viscount weiß, was er tut, sagte sie deshalb. Erfüllen Sie Ihre Pflicht an seiner Seite.
Nach kurzem Zögern nickte Bridget. Dann gingen sie getrennte Wege, und Yolanda war sich bewusst, dass sich ihr Auftrag gerade beträchtlich verkompliziert hatte.
Die Prominence I hatte London hinter sich gelassen und hielt hoch über dem Ärmelkanal auf französisches Festland zu. Zu gern hätte Yolanda einmal das große Aussichtsdeck des Luftschiffes betreten, doch das ließ ihre Funktion als Gesellschafterin nicht zu. Wie an den vorangegangenen Tagen machte sie sich nach dem Fünfuhrtee im Speisesaal des Gesindes unbekleidet zu den Kanälen auf und lauschte auf dem Weg dorthin Wendys Verzückungen über den Earl of Devon. Eine andere schwärmte von einem jungen Offizier. Um ihnen gegenüber nicht aus dem Rahmen zu fallen, schwindelte Yolanda, sich vorgestern mit dem Baron of Braxton vergnügt zu haben.
Die Lords und Ladies fanden sich sehr bald ein. Yolanda sah sie in unregelmäßigen Abständen über die breite Eingangstreppe einziehen. Clarence Talbot erschien mit einer gut aussehenden Frau in einem grünen Korsettkleid an seiner Seite. In ihr erkannte Yolanda die Baroness Ballonfirst. Ihr Gatte schritt hintendrein. Auch George Franier und Bridget ließen nicht lange auf sich warten. Er trug seinen feinen Mantel aus Kaschmir und ein Lächeln im Gesicht, sie ihr übliches Hosenkostüm und ein betretenes Schmollen. Sie gesellten sich zu einer den Musikern nahen Plattform, wo sich unter anderem Blaise Wedderburn und Wilford Merryfame auf bequemen Kanapees eingefunden hatten und sich gerade Wein reichen ließen.
Yolanda hielt sich am Seitenrand des Kanals, gab sich Mühe, so zu tun, als beteilige sie sich an dem Gekicher und den Gesprächen anderer Badender, und beäugte das Geschehen. Franier und Merryfame befahlen schon bald zwei Damen aus dem Wasser und komplimentierten sie hinter die Vorhänge. Die arme Bridget blieb auf einem Kanapee zurück und wirkte mehr denn je fehl am Platze. Zwei niederrangige Offiziere mit je einer Lady an ihrer Seite musterten sie spöttisch. Yolanda empfand fast Mitleid mit ihr.
Dann sah sie erstaunt auf, als Guy Jesse einmarschierte. Ihn hatte sie hier noch nie gesehen. Er trug seine Uniform und stellte seine übliche verhärtete Miene zur Schau, womit er nicht hierher passen wollte. Als er die Eingangstreppen verließ und auf den Uferverlauf einschwenkte, streifte sie sein kalter Blick. Yolanda war neugierig, was er hier wollte und schwamm ihm nach. Er hielt vor Wedderburn inne. Offenbar trug er ihm eine Nachricht vor. Worte vernahm Yolanda erst, als sie die Kante der Plattform erreicht hatte. Wedderburn sprach von einem deutschen Ingenieur namens Zeppelin und dass Jesse ihn, Wedderburn, nicht mit Nebensächlichkeiten belästigen solle, wo er sich doch ohnehin schon langweile. Das unverkennbar erzwungen freundschaftliche Gespräch verlagerte sich zu Zerstreuungsmöglichkeiten, und plötzlich stand Jesse an der Kante über Yolanda und bedeutete ihr, herauszukommen. Yolanda fühlte sich wie vom Blitz getroffen und strafte ihn mit einem vernichtenden Blick. Dass er sie gezielt vorführen würde, hätte sie trotz aller gegenseitiger Abneigung nicht von ihm erwartet. Was sollte das? Wäre Roger Dale in der Nähe, würde er damit sogar ihre Tarnung gefährden, denn nun konnte sie nicht anders, als dem Befehl zu entsprechen. Sie stieg aus dem Wasser zu der Plattform hoch. Amüsierte, erwartungsvolle Blicke wurden ihr von den Offizieren und ihren Ladies zuteil, von Bridget ein verschämter. Jesse, dessen Miene Wedderburn nun nicht einsehen konnte, bedachte sie voller Genugtuung. Ich bin sicher, diese Dame wird mit Vergnügen etwas zu Ihrer Zerstreuung beitragen, Mylord, bemerkte er süffisant. Ich darf mich jetzt empfehlen, schickte er hinterher und marschierte davon.
Wedderburn, der entspannt auf seinem Kanapee lag, schlug die Flügel seines Seidenmantels beiseite und entblößte sein Gemächt. Es liegt an dir, mir zu beweisen, dass unser HS über ein gutes Gespür verfügt, sagte er. Komm zu mir, hübsche Blume. Du musst neu an Bord sein. Ich habe dich noch nie gesehen, scheint mir.
Yolanda vergegenwärtigte sich, dass sie nicht anders konnte, als so zu handeln, wie man es nun von ihr erwartete. Innerlich von inbrünstigem Zorn auf Jesse erfüllt, setzte sie ein verführerisches Lächeln auf, wrang ihre Haare notdürftig aus und tat, was die Pflicht ihr nun gebot.
Bridget wollte nicht hinsehen, konnte den Blick aber gleichwohl auch nicht abwenden. Agent Baker hatte sich nun ebenfalls dem schamlosen Treiben aller hier angeschlossen, bespielte die Hoden und den erigierten Penis des Earls mit beiden Händen und stülpte ihren Mund über seine Eichel. Alles für ihren Auftrag und für Ihre Majestät. Solcherlei Hingabe erwartete Walden-Rothwell offenbar von seinen Agenten.
Gut so, lobte Wedderburn. Sehr gut machst du das.
Seinen Penis zwischen ihren Lippen hob und senkte Yolanda Baker ihren Kopf. Mit seiner rechten Hand auf ihrem Hinterkopf bestimmte der Earl den Rhythmus. Und jetzt lass mich dich schmecken, verlangte er.
Agent Baker entließ seinen Penis aus ihrem Mund, stieg über ihn und bot ihm rückwärtig ihren Unterleib dar. Wedderburn reagierte sofort, leckte und erforschte sie und vergrub sich wie besessen beidhändig in ihren Hintern. Bridget sah, wie seine gierige Zunge zunehmend tiefer in ihre Weiblichkeit vordrang. Der Teil von ihr, der sich von der unsittlichen Zurschaustellung abgestoßen fühlte, wollte dem Szenario entfliehen, doch ein anderer, unerwartet stärkerer Teil wollte ihm bis zum letzten Atemzug beiwohnen, wollte von Yolanda Bakers hingebungsvollem Einsatz für die Krone lernen und war sogar begierig auf mehr.
Der Earl of Derbyshire schien Yolanda verschlingen zu wollen. Sie senkte ihren Oberkörper hinab und nahm sich erneut seines Penis an. Wedderburn stieß ein kurzes Stöhnen aus, doch auch sie frohlockte zusehends vom anhaltenden Zungenspiel des Earls. Bridget schämte sich dafür, doch sie stellte fest, dass sie diesem Akt gerne zuschaute. Diese Lektion wollte sie bis zur Neige auskosten. Yolanda Baker demonstrierte hier eindrucksvoll, was Pflichterfüllung bedeutete und was sie zuweilen abverlangte. Wenn der Earl für Momente von ihr abließ, sah Bridget ihre weit aufklaffende Vagina, ihren zuckenden Anus und konnte nicht unterbinden, dass sie ebenfalls feucht zwischen den Beinen wurde. Sie presste die Schenkel aneinander. Einer der Offiziere hatte ihre Regungen durchschaut.
Ah, das stumme Sauergesicht scheint doch am Leben zu sein, bemerkte er grinsend. Der andere ließ ein kurzes Lachen hören, die beiden Ladys hingegen schenkten Bridget nur einen herablassenden Blick. Ich möchte wissen, wozu sie der Viscount braucht, bemerkte eine von ihnen voll unverhohlener Verachtung und ungeachtet dessen, dass Bridget sie hörte. Diese Frage hatte sich diese in den vergangenen Tagen häufig selbst gestellt.
Wenig später vereinigten der Lord und die Agentin ihre Geschlechter. Yolanda wollte auf ihn steigen, doch Wedderburn dirigierte sie rücklings auf das Kanapee, schob ihre Beine beiseite und drang dann hektisch, als würde man ihn anpeitschen, in sie ein. Sie stöhnte auf, und der Earl begann, wie ein Kolben in ihr zu arbeiten.
Dieser Konstellation wurde Wedderburn jedoch schnell überdrüssig. Er legte sich auf das Kanapee und befahl sie auf sich. Yolanda stieg rittlings über ihn und führte seinen Penis in sich ein. Die Hände des Earls glitten ihre Schenkel hinauf, dann verlangte er nach ihren vollen Brüsten und formte sie mit seinen filigranen Fingern. Bridget musterte ihre steil aufgerichteten Brustwarzen. Kurz trafen sich ihre Blicke, und zu ihrer eigenen Verwunderung hielt Bridget dem Augenkontakt stand. Den Viscount beim Vollzug des Liebesaktes zu sehen, hatte sie verstört. Erstaunlicherweise empfand sie hierbei anders. Eine Art Respekt, vielleicht sogar Bewunderung.
Yolanda Baker positionierte ihre Hände auf der Brust des Earls und begann ihn mit gleichmäßigen Beckenbewegungen zu reiten. Zunächst nur langsam, berechnend, dann zunehmend fordernder, zügiger. Ihr Atem gewann nicht weniger an Intensität. Immer schneller strebte sie einem sexuellen Höhepunkt entgegen bis er schließlich kam. Falls er gespielt war, spielte sie gut und überzeugend. Bridget rieb ihre Schenkel fester aneinander und erwehrte sich mühsam des Bedürfnisses, sich in ihrer Mitte anzufassen.
OOAAHHH, machte auch der Earl mit einer merkwürdigen Verrenkung und schien sich innerlich aufzubäumen. Seine Hände gruben sich in Yolandas Schenkel.
Er war wohl ebenfalls gekommen, schloss Bridget. Schwer atmend und mit glänzendem Schweiß bedeckt kamen der Lord und die Agentin allmählich zur Ruhe. Der Earl strich beidhändig ihre Schenkel auf und ab und schnurrte zufrieden wie ein satt gefressener Kater. Yolanda ließ ihr Becken noch das eine und andere Mal kreisen und sah auf ihn hinab, wohl auf ein Zeichen wartend, sich von ihm zu entfernen. Der Wink erfolgte. Yolanda ließ den Penis aus ihrem Schoß schlüpfen und stieg von dem Kanapee. Schon wollte sie sich fortwenden, als der Earl noch einmal ihres Schenkels habhaft wurde.
Bleib noch!, sagte er. Bleib! Verrate mir, wie ist dein Name?
Yolanda wandte sich ihm wieder zu. Mary, gab sie ihm zur Antwort.
Nun, Mary, du hast dir jetzt tatsächlich einen Drink verdient.
Der Earl erhob sich und bot ihr seinen rechten Arm zum Geleit an. Diese bei anderen Gelegenheiten galante Geste wirkte angesichts seiner Nacktheit, seinem noch nicht vollständig erschlafften Penis und dargeboten in ausgerechnet dieser von allem Anstand und Sittlichkeit verlassenen Umgebung beinahe komisch. Yolanda ließ sich darauf ein. Ablehnung oder Widerspruch stand den Gesellschafterinnen und Freudenfrauen vermutlich nicht zu. Bridget suchte noch einmal Blickkontakt zu ihr, den sie ihr jedoch verweigerte, möglicherweise der Scham, möglicherweise auch der Tarnung wegen. Wie dem auch sein mochte, Bridget empfand große Bewunderung für diese Frau.
Der Earl geleitete Yolanda in den jenseitigen Bereich der nahen Vorhänge. Bridget wusste, dass es dort eine Duschvorrichtung und eine gemütliche Bar gab. Sie hatte den Earl das noch mit keiner anderen Gesellschafterin tun sehen. Offensichtlich war Yolanda seinen Ansprüchen überdurchschnittlich gut gerecht geworden. Ja, das musste der Grund für Wedderburns absonderliche Aufmerksamkeit sein. Oder sollte ein anderer dafür ausschlaggebend sein? In Bridgets Hinterkopf meldeten sich leise Zweifel an. Sie dachte an das Gespräch, das sie an diesem Morgen mit dem Viscount geführt hatte, und hoffte inständig, Yolanda Baker damit nicht in Gefahr gebracht zu haben.
Yolanda verspürte das dringende Bedürfnis, sich gründlich zu waschen. Ohne dass sie es gewollt hatte, hatte sie das Liebesspiel nach anfänglicher Überwindung sogar genossen. Unvermutet hatte es ihr große Lust bereitet. Nun aber fühlte sie sich gedemütigter als je zuvor. Dafür würde Jesse noch büßen.
Grimmig und beschämt zugleich visierte sie den Korridor an, nachdem der Earl durchblicken ließ, dass es ihn nicht länger nach ihrer Gesellschaft verlangte. Es war erst sieben Uhr, doch Yolanda wollte von hier fort, brauchte ein wenig Zeit für sich allein. Ein Teil von ihr ekelte sich vor sich selbst. Und Jesse war es, der sie so weit gebracht hatte.
Sie hievte sich aus dem warmen Kanalwasser, trocknete sich hastig ab und warf das Handtuch durch die Klappe, als jemand aus dem Zwielicht hinter sie trat. Yolanda bemerkte ihn einen Augenblick zu spät. Hände, unerbittlich wie Eisen, packten sie am Hals und wuchtete sie Kopf voran gegen die Korridorwand. Schmerz. Schwindel. Yolandas Sinne schwanden, ihre Knie gaben nach. Der Angreifer schnürte ihr die Luft ab. Benommen und nicht mehr imstande, sich zu wehren, erkannte Yolanda aus den Augenwinkeln Roger Dale über sich.
So sieht man sich wieder, miese Schnüfflerin.
Dunkelheit.
Jemand tätschelte ihre Wangen. Als Yolanda die Augen aufschlug, schaute sie in Bridgets sorgenvolles Gesicht. Miss Baker! Wie fühlen Sie sich?
Yolanda sah sich um. Nur eine Handbreit neben ihr lag Roger Dale, reglos und offensichtlich tot mit gebrochenem Genick.
Waren Sie das?
Bridget verneinte kopfschüttelnd. Der lag hier schon so, als ich Sie gefunden habe. Er steckt auch mit drin, nicht?
Was meinen Sie? Wo steckt er mit drin?
Es war Merryfame!, sagte Bridget. Er hat Lady Rowena erstochen! Vorhin hat er sich verraten! Hat dem Viscount seine Missetat anvertraut. Der verfolgt ihn nun, um ihn zu stellen! Na, und Roger Dale ist doch einer seiner Freunde! Sie haben an seiner Stelle diesen armen Kerl aus dem Gesinde beschuldigt!
Yolanda versuchte, die Worte zu verknüpfen, und rappelte sich auf. Bridget half ihr dabei. Woher wusste Dale von mir?, fragte sie mehr sich selbst. War er vorhin in der Nähe, als ich ... mit Wedderburn ...
Wie? Oh, nein. Er hat schon im Salon verlautet, den Kanälen heute fernzubleiben. Dass er von Ihnen wusste ... nun ... ich fürchte, das ist meine Schuld.
Ihre?
Bridget wirkte sehr betreten. Nun ja, zumindest indirekt ist es meine Schuld. Wissen Sie, ich habe dem Viscount von Ihrer Anwesenheit erzählt. Ich dachte mir, er käme vielleicht wieder zur Vernunft, wenn er wüsste, dass noch eine weitere Agentin an Bord ist. Er aber hat Sie verraten, um damit Talbot, Merryfame und Dale aus der Reserve zu locken und ihr Vertrauen zu gewinnen. Er hat durchsickern lassen, dass Sie für den Duke of York heimlich Nachforschungen zum Tod seiner Tochter anstellen. Es tut mir sehr leid, Miss Baker. Ich habe es gerade erst erfahren. Ich wollte wirklich nicht, dass man Ihnen wehtut. Oder gar, dass man Sie ...
Und wer hat Dale getötet?, unterbrach Yolanda sie.
Ich weiß es nicht. Der Viscount kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Er war in den Kanälen. Zusammen mit Merryfame.
Erzählen Sie mir, was seither passiert ist.
George Franier, der Viscount of Dundee, hatte sie also verraten, resümierte Yolanda. Das war fraglos kein sehr feiner Zug von ihm, hatte er doch damit billigend in Kauf genommen, dass ihr möglicherweise tödliche Konsequenzen drohten. Doch schien es ihm dadurch auch gelungen zu sein, Merryfame die Wahrheit zu entlocken.
Yolanda forderte Bridgets Jacke ein, um nicht völlig nackt dazustehen, dann nahm sie mit Franiers Assistentin die Verfolgung Merryfames und des Viscounts auf. Der Baron war zu den Heiz- und Maschinendecks hinabgeflüchtet, einem nahezu autarken Bereich des Luftschiffes, wo die Heizer und Schmierer lebten und ihren nicht unbedeutenden Beitrag zur Funktionstüchtigkeit des Schiffes ableisteten. Barfuß lief es sich auf den heißen Rosten zwischen den mächtigen Kesseln und Maschinen sehr mühsam. Vielerorts tropfte Öl von der Decke oder quoll in kleinen Rinnsalen aus Fugen hervor. Es gab wenig Licht, es roch nach Ruß, und die feuchte Luft war bedeutend wärmer und stickiger als in den oberen Gefilden. Yolanda hatte ihre Mühe, sich zurechtzufinden. Nichtsdestotrotz gelang es nicht dem Viscount und auch nicht Jesses Männern, sondern ihr, den Baron in einem schmalen Gang zu stellen. An den Wänden beider Seiten verliefen Rohre und Leitungen, kleine Ventile stießen schubweise heißen Dampf aus und erschwerten die Sicht.
Was willst du?, zischte Merryfame mit irrem Blick. Wieso das alles? Wieso?
Weil der Duke of York ein Recht hat, die wahren Umstände zum Tod seiner Tochter zu erfahren, erwiderte Yolanda. Geben Sie auf, Merryfame. Ihre Freunde Talbot und Dale werden Sie nicht länger decken.
Ihr macht uns das nicht kaputt!, giftete der Baron und holte zu Yolandas Entsetzen eine Mauser unter seinem Gehrock hervor. Die Wände standen zu eng, um ausweichen zu können. Drei Schüsse feuerte Merryfame auf Yolanda ab. Doch keine der Kugeln traf sie, weil sich jemand vor sie geworfen hatte. Yolanda fing den fallenden Körper auf und stürzte mit ihm rücklings zu Boden. Schnell wie ein Pfeil hatte er sich an ihr vorbeigedrängt und die tödlichen Schüsse für sie abgefangen. Blondes Haar, blaue Kleidung, im allerersten Augenblick dachte Yolanda an Bridget. Doch es war nicht Bridget. Es war Guy Jesse.
Die Pistole weg, Mylord!, brüllte Vishead Kane aus der anderen Richtung und richtete eine Waffe auf den Baron.
Merryfame, offensichtlich schockiert, dass er auf den Head of Security geschossen hatte, ließ wie verdattert seine Mauser sinken.
Wer sind Sie und was haben Sie hier zu suchen?, fuhr Kane vom anderen Ende des Ganges Yolanda an. Was ist mit dem HS? Lebt er noch? Moment mal, Sie sind doch ... Sie doch eine von den ...
Yolanda schenkte dem Vishead keine Beachtung. Sie legte Jesses Kopf in ihren Schoß und strich ihm über die schwitzende Stirn. Sie konnte nicht fassen, dass er das für sie getan hatte. Sein Körper zuckte unkontrolliert, seine Augen suchten zunächst vergeblich ein Ziel, dann fanden sie Yolandas. Das leuchtende Blau schien ihr tief wie der Ozean.
Rowena, hauchte er. Ich ... ich ... ich ... liebe ... dich.
Und Yolanda begriff schlagartig. Sie streichelte zärtlich seine Wange und sagte: Ich liebe dich auch, Guy.
Die blass gewordenen Lippen formten ein Lächeln. Dann erlosch der blaue Glanz in Jesses Augen für immer. Ihre unergründliche Tiefe aber blieb bestehen.
Sie wollten die Notstandsverordnungen dritten Grades provozieren, erläuterte der Viscount. In diesem Falle würde der Militäradel der Prominence I laut dem Dekret von Edinburgh das House of Lords Ihrer Majestät in all seinen Befugnissen ablösen. Lady Rowena hat dieses Vorhaben belauscht und wollte es bei ihrer Rückkehr ihrem Vater vortragen. Deshalb musste sie sterben. Merryfame hat sie in jener Nacht erstochen.
Die Notstandsverordnungen?, knurrte Fleet Admiral Swaine, der Oberbefehlshaber des Luftschiffes. Bridget las Skepsis in dem Teil seines Gesichts, der nicht von seinem buschigen schwarzen Bart verdeckt wurde. Er hatte sie und den Viscount in seine Räume befohlen, nachdem Baron Merryfame von den Sicherheitsleuten abgeführt und arrestiert worden war. Wie sollte das vonstattengehen? Die Notstandsverordnungen dritten Grades würden nur bei einem kriegerischen Akt einer ausländischen Macht in Kraft treten.
In der Tat, Admiral, in der Tat, bestätigte der Viscount. Sie planten einen Anschlag auf London, wofür sie ein gekapertes deutsches Flugschiff verwenden wollten. Einen Zeppelin. Ich denke, es dürfte einige Zeit beanspruchen, zu eruieren, wer alles an Bord der Prominence I von diesem schändlichen Vorhaben Kenntnis hatte oder es gar gezielt vorantrieb.
Admiral Swaine blieb skeptisch. Wer sind sie? Von wem sprechen Sie da? Und wo befindet sich dieses gekaperte Schiff, dessen sie sich nutzbar machen wollten?
Der Viscount erzählte von einem Versteck an der englischen Südküste. Die Söldner, derer Dienste sich Merryfame und seine Bundesgenossen bedient haben, können wahrscheinlich weiteren Aufschluss geben, wenn Sie sie vor Ort festnehmen lassen, fügte er hinzu.
Admiral Swaine musterte ihn misstrauisch. Wahrscheinlich ahnte er, dass der Viscount of Dundee mehr war als ein macht- und vergnügungsgelenkter Aristokrat, der an Bord dieses Schiffes rein zufällig einer Verschwörung auf die Schliche gekommen war. Wer sind diese Bundesgenossen des Barons?, fragte er.
Allen voran der verblichene Baron of Jacksville Roger Dale und der Earl of Rochester Clarence Talbot, nehme ich an, antwortete der Viscount. Ein umfassendes Verhör Merryfames sollte Details und möglicherweise weitere Namen ans Tageslicht bringen.
Nicht der junge Mann aus dem Gesinde, dem Lady Rowena angeblich Leseunterricht gab, war ihr heimlicher Verehrer, Guy Jesse war es, von dem sie in ihrem Tagebuch erzählte, wie Yolanda nun wusste. Nach ihrer Rückkehr nach London erfuhr sie von Guys Schwester Vivian, dass die Eltern der beiden Geschwister als Landschaftspfleger auf dem Herrensitz des Dukes of York lebten und Guy sein Herz schon als Junge an die Tochter des Dukes verloren hatte. Sie hatte ihm während ihrer gemeinsamen Kindheit unter anderem Lesen beigebracht.
Yolanda fiel es schwer, Guy einzuordnen, wenn sie an ihn dachte. Sie hatten einander nicht gemocht, doch Guy hatte ihr zweimal das Leben gerettet. Das erste Mal als er ihr gegen Roger Dale zu Hilfe geeilt war, danach als er die Kugeln für sie auffing.
Wilford Merryfame wurde vor kein Gericht gestellt, da er, noch bevor die Prominence I auf britischen Boden zurückkehrte, vergiftet in seiner Zelle aufgefunden wurde. Auch keiner der anderen Lords konnte der Verschwörung bezichtigt werden, weil es ohne seiner Aussage an stichhaltigen Indizien mangelte. Merryfames schändliche Tat an Lady Rowena wurde offiziell die Tat eines Besessenen geheißen, dessen Angebetete ihn nicht erhören wollte.
Clarence Talbot, der wie Dale und Merryfame fälscherweise den jungen Mann aus dem Gesinde der abscheulichen Bluttat beschuldigt hatte, konnte sich mit geschickter Rede aus der Affäre ziehen.
Charles Walden-Rothwell lobte die Arbeit seiner Agenten. Bridget wurde nach diesem Auftrag auf ihren Wunsch hin aus den Diensten des Viscounts of Dundee entlassen. Sie bat Walden-Rothwell um ein Empfehlungsschreiben und entrichtete ein Gesuch an Yolanda Baker, ihre Ausbildung zu vollenden.
09. Apr. 2014 - Thomas Neumeier
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