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Verbannung in die Anderswelt von Alexandra Eishold
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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TEXTLUSTVERLAG
A. Bionda
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Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Prologstory zu »Die Reise zum Weltenbaum«(Kaffeepausengeschichten, Band 2: KÜSSE AUS DEM ZWISCHENREICH, TextLustVerlag)
Schnelle Schritte verfolgten sie durch das raschelnde Laub des Waldes. Hundegebell, das unwiderruflich näher kam, erweckte unbeschreibliche Angst in ihr. Äste griffen nach ihrem schönen langen Kleid, was mittlerweile schmutzig und zerrissen war, und hinderten sie immer wieder am Fortkommen. Seit Stunden rannte sie vor den Wächtern ihres Vaters davon, die sie gnadenlos jagten. Und während sie schwer atmend weiterstolperte, rasten ihre Gedanken zurück zu seinen unheilvollen Worten: "Marie-Chantalle, sehr wohl ehelichst du den Herzog Berwicus. Seine Ländereien wären uns von unermesslichem Wert und die Fehde unserer Reiche sei damit beendet. Wohl an, ich dulde keinen Widerspruch! Du ehelichst ihn in dero drei Tagen", sprach der Graf von Falkenstein und stellte den Weinkelch hart auf den Tisch.
Vor Schreck blieb der armen Jungfer fast das Herz stehen. Sie war gerade von einem Ball nach Hause gekommen und hatte ihrem Vater von einem jungen Mann erzählt, für den sie sehr schwärmte. Aber ihr Vater reagierte äußerst erbost und zwang sie tatsächlich diesen Herzog zu heiraten. Damit war ihr junges Leben beendet, bevor es überhaupt angefangen hatte. Vor Ohnmacht wütend und den Tränen nahe, rannte sie in ihr schmuckes Turmzimmer, warf sich auf das große Himmelbett und weinte herzerweichend.
Eine zarte Hand berührte tätschelnd ihren Rücken, mitfühlende Worte drangen an ihr Ohr. Als sie sich umdrehte, blickte sie in das Gesicht ihrer Zofe Adele, die gerade das Zimmer herrichtete. Die gute Seele, was würde sie nur ohne sie machen?
"Grämet Euch nicht, Herrin. Heute Nacht verhelfe ich Euch zur Flucht. Mein Bruder Hannes gewähret Euch Unterkunft in seiner bescheidenen Hütte", versuchte die Zofe die Jungfer zu trösten.
"Wahrlich du bist ein Schatz. Wann beginnet die Flucht?", wollte Marie wissen und strich eine blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
"Kurz vor Mitternacht, wenn alles schlafet, dann ist es an der Zeit zu fliehen."
"Möge mich Freya beschützen vor diesem Wüterich Berwicus", seufzte Marie-Chantalle und schnürte ein paar Habseligkeiten zu einem Bündel zusammen.
Im prächtigen Rittersaal herrschte derweil Unruhe. Herzog Berwicus hatte dem Grafen einen unerwarteten Besuch abgestattet und sich gewaltsam Zutritt in das Fürstenhaus verschafft. Seine kleinen wurstartigen Finger strichen durch sein fettiges graues Haar und zwirbelten anschließend an seinem mächtigen Oberlippenbart. Keuchend walzte er sich mit seinem dicken Bauch durch den Raum und sprach eine Drohung nach der anderen aus.
"Seid beschwichtigt, mein lieber Herzog. Meine Tochter ehelicht Euch in dero drei Tagen. Es bestehet somit kein Anlass, die Fehde fortzuführen", versuchte der Graf ihn zu beruhigen.
"So habet Ihr Eure Wahl also getroffen", stellte der cholerische Herzog befriedigt fest. Schon lange war er darauf erpicht, die blonde Schönheit des Grafen zu heiraten.
"Lasset uns diesen Pakt mit einem guten Tropfen Wein besiegeln", sagte er und rief seinen Diener herbei: "Bursche! Bringe uns das Fass Wein, was in unserer Kutsche stehet. Hurtig, du Strolch!"
"Sehr wohl, mein Herr, ich eile", kratzhustete dieser und trat gebeugt den Rückzug an. Dabei hing seine Nase fast auf dem Boden.
Ungeduldig ging die Grafentochter in ihrem Zimmer auf und ab. Die Zeit bis Mitternacht schien nicht zu vergehen. Sie wartete schon viel zu lange auf ihre Zofe. Hoffentlich war ihr nichts geschehen. Nicht auszudenken wie aufgebracht ihr Vater wäre, wenn er von dem Fluchtplan erführe. Er würde sie bestimmt bis zur Hochzeit in ihr Zimmer einschließen. Oder gar schlimmer noch: Ins Verlies werfen! Sie betete und flehte zur Göttin Freya, sie möge sie behüten und ihre schützende Hand über sie halten. War sie doch die Göttin des Glücks und der Liebe und ihre Zaubermacht unendlich. Auf keinen Fall wollte sie diesen schrecklichen Herzog heiraten. Dann konnte sie sich auch gleich in den Tod stürzen. Was immer noch besser wäre, als langjährige Ehesklavin dieses Barbaren zu sein.
"Wohl an! Hebet den Becher und trinket mit uns!", brüllte Berwicus und trank gierig den roten Wein. Dabei lief ihm die Hälfte des kostbaren Saftes über das stoppelige Kinn.
"Lasset uns das Ende unserer Fehde und meine zukünftige schöne Maid feiern!"
Sein Diener goss eifrig Wein in den Becher seines Herren nach. Graf Edelbert von Falkenstein ließ währenddessen kräftig auffahren. Das feinste und beste Essen stand jetzt auf dem langen massiven Eichentisch und wartete darauf verzehrt zu werden.
"Langet zu, Herzog, und lasset es Euch schmecken", forderte der Graf ihn auf. Dies lies sich der Herzog nicht zweimal sagen und griff mit beiden Händen nach einem gebratenen Fasan. Schmatzend und rülpsend verschlang er das Tier in Minutenschnelle. Dabei soff er den Wein wie Wasser. Das Gelage dauerte mehrere Stunden und gegen Mitternacht trat endlich Ruhe ein in des Grafen Schloss. Betrunken lagen die Ritter des Herzogs schnarchend auf dem Marmorboden des Saals und Berwicus selbst hatte es sich unter dem Eichentisch gemütlich gemacht.
Endlich klopfte es. Vorsichtig öffnete Marie-Chantalle die leicht knarrende Tür.
"Seid leise, Herrin, damit uns niemand höret", flüsterte Adele. "Es ist alles vorbereitet. Ihr müsset nur noch durch den geheimen Gang im Keller und
"
"Ein Geheimgang?", fragte die Jungfer erstaunt.
"Aber ja. Schnell, verlieret keine Zeit und beeilet euch, bevor uns wer entdecket", drängte Adele und schubste die Frau aus dem Zimmer. Sie wollte sich nicht mit langem Geschwätz aufhalten und wertvolle Zeit vergeuden. Wer wusste schon, wann die Trunkenbolde im Rittersaal wieder wach wurden. So leise wie möglich huschten die beiden Frauen die Treppe hinunter, hasteten schnurstracks durch die prächtige Empfangshalle und verschwanden schließlich im Keller. Marie-Chantalles Herz klopfte bis zum Hals. Immer wieder sah sie sich ängstlich um, ob sie auch ja niemand sah, um letztendlich ihre Flucht doch noch zu verhindern.
"Hier entlang, Herrin", wisperte ihre Zofe. "Ihr habet es gleich geschaffet. Hinter der Mauer erwartet Euch mein Bruder. Hannes bringet Euch in ein sicheres Versteck. Morgen in der Früh kommet ein guter Freund und holet Euch mit seiner Kutsche ab und bringet Euch wohin Ihr wollet."
"Oh, liebe Adele, ich danke dir", schluchzte die schöne Jungfer.
Die ersten Sonnenstrahlen blinzelten durch die großen Fenster und kitzelten den einen oder anderen Schläfer an der Nase. Der hauseigene Hahn krähte sich seine kleine Seele aus dem Leib, um auch ja jeden Faulpelz aus seinem Bett zu scheuchen. Die Dienerschaft des Grafen Edelbert von Falkenstein hatte inzwischen die Tafel mit einem pompösen Frühstück gedeckt. Ächzend und stöhnend erhoben sich Herzog Berwicus und seine Ritter. Aber sie würdigten die Speisen keines Blickes. Stattdessen polterte Berwicus los: "Holet Eure liebreizende Tochter, Graf! Wir wollen uns von ihr verabschieden!" Sogleich ließ Graf Edelbert nach Marie-Chantalle rufen. Die Zeit verrann. Herzog Berwicus wurde ungeduldig. Weitere Zeit verstrich. Des Herzogs Kopf lief zornesrot an. "Wo bleibet Eure Tochter, Graf? Unsere Zeit ist kostbar! Wir dulden keinerlei Säumigkeit!"
Der Graf von Falkenstein bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Wo blieb seine Tochter? Wie konnte sie es wagen, den Herzog warten zu lassen und dadurch zu verärgern? Er rief nach seinem Kastellan. Befahl ihm, die Grafentochter zu holen und sie unverzüglich in den Rittersaal zu bringen. Doch vergebens. Dessen Suche blieb erfolglos. Daraufhin rückten seine Wachen aus, um Marie-Chantalle schnellstens herbeizuschaffen.
"Das hat ein Nachspiel, Graf! Ein schlimmes Nachspiel! Ihr bereuet dies noch bitterlich!", schrie der Herzog und brauste mit seinen Kriegern von dannen.
"Treibe deine Pferde an, guter Freund. Die Wachen meines Vaters sind uns auf der Spur. Ich höre bereits das Gebell der Hunde", bedrängte Marie-Chantalle Hannes Kameraden unaufhörlich. Doch sie sollten nicht weit kommen. Die Kutsche fuhr unglücklich über mehrere im Weg liegende Steine und kippte schließlich um. Mühsam krabbelte die Jungfer heraus. Hannes Freund lag bewusstlos im Waldgraben und konnte ihr nicht mehr helfen. Schnell raffte sie ihr weißes Kleid hoch und rannte was sie konnte den holprigen Waldweg entlang. Die Wächter mit den Hunden kamen immer näher. Bald hatten sie sie eingeholt. Und dann ging es zurück ins Herrenhaus, zurück zu diesem schrecklichen Berwicus mit seinem grobschlächtigen Gefolge.
"Wie konntest du es wagen! Einfach heimlich das Haus zu verlassen! Wie konntest du
!", rief ihr Vater erzürnt. "Wie stehen wir vor dem Herzog Berwicus da? Seine Rache stürzet uns ins Verderben. Statt die Fehde zu beenden, übet er jetzt fürchterliche Vergeltung. Das bringet ihm genau die Genugtuung, nach der ihm seit langem gelüstet." Graf Edelbert von Falkenstein ging grollend und verzweifelt zugleich im Rittersaal auf und ab und blieb schließlich vor dem riesigen Wandspiegel mit dem Fabelwesen verziertem Silberrahmen stehen.
Marie-Chantalle senkte betroffen den Kopf. Im Grunde genommen war es ihr egal. Sollte der Herzog doch seinen unsinnigen Krieg fortsetzen. Besser sterben, als diesen Unhold zu heiraten. Er versuchte sie bereits seit Monaten zu freien. Bisher konnte sie sich dem Ganzen entziehen. Aber jetzt hatte ihr Vater klein beigegeben und sie ihm als Frau versprochen. Oh, wie furchtbar. Sie wusste nicht, was schlimmer war: Vaters Zorn oder dieser unbeschreiblich grausige Mensch.
Und dann donnerten die verhängnisvollsten Worte durch die große Halle, die Marie-Chantalle jemals von ihrem Vater gehört hatte.
"Verfluchet sollst du sein, Tochter!", rief der Graf erbost. "Der Blitz möge dich treffen, ehelichst du Herzog Berwicus nicht in dero zwei Tagen!"
"Vater, lieber falle ich tot um, bevor ich mich mit diesem widerlichen Scheusal vermähle. Nein, ich gebe ihm mein Jawort nie und nimmer", antwortete Marie-Chantalle standhaft und energisch. Sollte ihr Vater mit ihr machen, was er wollte. Ihretwegen auch bei Wasser und Brot ins Verlies stecken. Aber niemals, niemals wollte sie sich in die Hände dieses Schurken begeben. Verzweifelt betete sie zu Freya: "Oh, Freya, Göttin der Liebe, habet erbarmen. Lasset Eure Zaubermacht wirken und befreiet mich." Und das Flehen der schönen Maid wurde erhört.
Plötzlich zogen dunkle Wolken auf. Blitz und Donner folgten unaufhörlich aufeinander. Starker Regen prasselte auf die Erde, begleitet von einem wilden Sturm, der Bäume und Büsche bog und alles durcheinanderwirbelte wie es ihm gefiel. Dann schoss ein langer heller Blitz durch ein offen stehendes Fenster des Rittersaals und traf Marie-Chantalle. Erschrocken wich der Graf zur Seite. Jäh wurde ihm bewusst, dass er das Schlimmste getan hatte, was ein Mensch tun konnte: Er hatte seine Tochter zum Tode verurteilt, nur weil sie ihm nicht gehorcht und er bloß an seinen eigenen Vorteil gedacht hatte. Aber nun war es zu spät.
"Dummes Menschenkind, was habet Ihr Euer eigen Fleisch und Blut angetan?", vernahm der Graf eine Stimme, die trotz allem sehr liebevoll klang. "Verfluchet habet Ihr es. Aber Eure Reue kommet zu spät. Dennoch will ich Milde walten lassen und Euren Fluch wandeln. So sollet Eure Tochter nicht des Todes sterben, sondern in die Anderswelt verbannet werden. Nur ein wahrlich tapferer Recke, der Eurer liebreizenden Tochter gefallet, kann sie von dem Fluche befreien. Habet Ihr dies verstanden?"
"Wer
wer seid
seid Ihr?", stotterte Graf Edelbert verängstigt.
"Ihr fraget wer ich sei?", fragte die Stimme verwundert. "Ich bin Freya. Die Göttin des Glücks und der Liebe. Eure Tochter fristet jetzt ihr Dasein in der Anderswelt, in der Nähe des Weltenbaumes Yggdrasil, bewachet von Riesen und Erdgeistern!"
Und somit war das Schicksal von Marie-Chantalle im Jahre 1255 besiegelt. Allein der überdimensionale Wandspiegel diente ihr als Portal und ermöglichte es ihr um Mitternacht in ihre alte Welt einzutreten, um dort als weiße Frau umherzugehen. Es gab kein Entkommen, keine Erlösung. Oder vielleicht doch?
06. Okt. 2014 - Alexandra Eishold
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