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Das Erbe des Schlangenkönigs
von Timo Bader

Pat Hachfeld Pat Hachfeld
© http://www.dunkelkunst.de

Du hast mir einen Pflock ins Herz getrieben.
Wie soll ich jemals wieder einen Menschen lieben,
mit diesem blutigen Muskelklumpen? Entsetzt
starre ich auf meine zerstörten Gefühle. Zersetzt
hast du meine Gedärme, wie mit Säure.
Ich spüre den Hauch des Todes. Die Fäule.
Grenzenloses Leid erfüllt mich, zehrt mich auf -
und mein grausames Schicksal nimmt seinen Lauf.
Ein Leben ohne dich, wie mag das sein?
- Eine entsetzliche Ewigkeit der Qualen und Pein.



Alex Nell, der nach eigener Auffassung »Azrael« hieß und die zwölfte Reinkarnation des gefürchteten Racheengels verkörperte, legte den Bleistift beiseite und überflog die simplen Paarreime, die er in unregelmäßigen Linien auf den Schreibblock gekritzelt hatte.
Der 18jährige hockte einsam in seinem Zimmer, das vollkommen schwarz gestrichen war. Nur hier und da wurde die Farbe von blutroten Pentagrammen unterbrochen. Getrocknete Rosen, deren Kelchblätter mit schwarzem Lack angesprüht worden waren, hingen kopfüber von der Decke herab. Die einfache Matratze, auf der er saß, und ein zerschrammter Schreibtisch bildeten die ganze Einrichtung des Zimmers. Und doch gab der triste Raum soviel von seinem Bewohner preis, wie es nur möglich war.
Alex repräsentierte das, was die meisten Leute in ihrer Oberflächlichkeit einen Satanisten genannt hätten. In Wirklichkeit war er aber einfach nur eine verlorene Seele, die nach der hässlichen Scheidung seiner Eltern jeden Glauben an Gott verloren und im Glauben an den Teufel Halt gefunden hatte. In einer Welt, in der einem nur selten das Gute begegnet, fiel es ihm überraschend leicht, an das absolute Böse zu glauben.
Draußen ging die Sonne auf. Morgenröte vertrieb das graue Zwielicht, das in Alex´ Zimmer herrschte. Er wurde geblendet und musste sich herumdrehen, um weiter lesen zu können. Ruhelos huschten seine Augen über die Zeilen. Beim Lesen erhoffte er sich, Gleichgültigkeit zu verspüren. Doch dem war nicht so. Während er die düsteren Reime immer und immer wieder studierte, erfüllte ein dumpfer Schmerz sein Bewusstsein.
Lizzy, mit der er zwei schöne Jahre lang jeden Gedanken geteilt hatte, war weg. Sie hatte sich von ihm getrennt. Ohne Grund. Einfach so. Aus und vorbei. Ihre Liebe hatte einen Herzstillstand erlitten und keiner seiner Wiederbelebungsversuche Wirkung gezeigt. Exitus …
Alex befand sich an der Stelle seines Lebens, an der er den Defibrillator enttäuscht beiseite legte und nicht weiter glühende Wellen aus Starkstrom durch die bleiche, kalte Leiche ihrer toten Beziehung jagte. Er hatte resigniert. Es war schlicht und einfach unmöglich, die verwelkte Blume ihrer einstigen Liebe wieder zum Blühen zu bringen. Das Feuer der Leidenschaft neu zu entfachen. Aussichtslos.
Plötzlich wurde die Tür zu seinem Zimmer ohne Vorwarnung geöffnet. Alex fuhr zusammen und schob den Block mitsamt dem Bleistift peinlich berührt unter sein Kopfkissen. Sein Stiefvater betrat den Raum und dessen Lippen zeigten das für ihn charakteristisch breite Grinsen.
Der neue Lebensgefährte seiner Mutter war eine schlaksige Erscheinung mit einem übergroßen Kopf, der anscheinend übergangslos auf den viel zu schmalen Schultern saß. Sein Name war Boris und er trug einen Trainingsanzug und ein Paar ausgelatschter Turnschuhe.
»Kannst du nicht anklopfen?!«, fuhr Alex ihn an.
Sein Stiefvater hielt abrupt inne, als wäre er gegen eine unsichtbare Barriere gelaufen. »Tut mir Leid«, entschuldigte er sich und wirkte ehrlich betroffen. »Deine Mutter hat mich hoch geschickt. Ich soll dir sagen, dass du langsam losmusst. Sonst kommst du zu spät zur Schule.«
»Das weiß ich selbst«, knurrte Alex.
Er wollte sich gerade von der Matratze erheben, als Boris zu ihm herüberkam, sich neben ihn setzte und ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter legte. Alex fühlte sich unwohl in der Umarmung seines Stiefvaters. Er wusste, dass dies nur eine Masche war, um sich sein Vertrauen zu erschleichen, weil seine Mutter es so wollte.
»Ich glaube, wir sollten uns einmal unterhalten. So von Mann zu Mann«, schlug Boris vor.
»Ich glaube nicht«, gab Alex zurück und setzte dazu an, aufzustehen, aber sein Stiefvater drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück auf die Matratze.
»Ich habe gehört, dass deine Freundin Lisa mit dir Schluss gemacht hat«, fiel Boris mit der Tür ins Haus.
»Lizzy«, korrigierte Alex ihn zähneknirschend.
»Lizzy«, wiederholte Boris den Namen und schlug sich vor den Kopf. »Wie konnte ich das nur verwechseln?« Er lachte kurz und völlig humorlos. Dann fuhr er fort: »Na ja, wie dem auch sei. Ich wollte dir nur sagen: Ich bin für dich da, falls du einmal mit mir darüber reden möchtest.«
Alex zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.
»Das ist so nett von dir«, gab er sich gerührt.
Die Worte zeigten Wirkung: Boris verringerte den Druck auf seine Schultern. Alex kam hoch und hängte sich, immer noch breit grinsend, seine Schultasche um. Rückwärtsgehend bewegte er sich zur Zimmertür, behielt seinen Stiefvater dabei aber genau im Auge. Als er die Tür erreichte, wurde Alex´ Mimik wieder bitterernst.
»Aber weißt du was?« Er zeigte Boris mit einem bösen Lächeln den ausgestreckten Mittelfinger. »Fahr zur Hölle!«
Die Augen seines Stiefvaters weiteten sich vor Entsetzen und schienen beinahe aus den Höhlen zu quellen. Sein Gesicht wurde kreidebleich. Bevor er sich von dem Schock erholen konnte, hatte Alex das Zimmer schon längst verlassen und die Tür so schwungvoll hinter sich zugeschlagen, dass es nur so krachte.
Im Eiltempo stürmte er zur Haustür, riss seinen Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und verließ ihre kleine Wohnung, die im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, mitten im Stadtzentrum von Schwäbisch Gmünd, lag.
Draußen erwartete ihn eine klirrende Kälte. Mit fliegenden Fingern zog Alex den Reißverschluss des schwarzen Ledermantels zu, der ihm bis zu den Knöcheln hinabreichte. Er beschleunigte seine Schritte und erreichte die B29, die zweispurige Bundesstraße, die direkt an ihrem Haus vorbei führte. Sein Auto, das er durch Ferienarbeit finanzierte, stand etwas abseits am Straßenrand geparkt. Alex ging schnurstracks darauf zu und steckte den Autoschlüssel ins Türschloss.
Da bemerkte er etwas Glänzendes in seinem Augenwinkel und hielt überrascht inne. Nicht weit von ihm entfernt tuckerte ein total verrosteter Lastwagen, der Kies geladen hatte, verfolgt von einer beachtlichen Autoschlange, die Straße entlang, während er leise rieselnd eine schmale Kiesspur hinter sich drein zog.
In der Nähe einer Verkehrsinsel entdeckte Alex einen ungefähr faustgroßen, funkelnden Gegenstand auf der Straße. Er kniff die Augen zusammen und fixierte das glänzende Ding, konnte es aber nicht genauer erkennen.
Bestimmt nur eine zerquetschte Blechdose, dachte er leichtfertig und streckte seine Hand nach dem Türgriff aus.
Doch etwas hielt ihn davon ab, einfach die Wagentür aufzumachen, einzusteigen und wegzufahren. Plötzlich glaubte er eine leise Stimme in seinem Kopf zu vernehmen, die ihm zuflüsterte, er dürfe diesen Gegenstand nicht einfach so ignorieren. Die Stimme war nicht mehr als ein Windhauch, doch sie verriet ihm, dass der Gegenstand kostbar sei. Sehr kostbar.
Stockend zog Alex seine Hand zurück und steuerte mit hölzern wirkenden Schritten auf die Bundesstraße zu. Fast pausenlos sausten nun Autos an ihm vorbei. Regenwasser spritzte fontänenartig in die Höhe.
Wie in Trance trat Alex auf die Straße. Kreischende Bremsen und empörtes Hupen wurden laut, doch die Geräusche drangen nur gedämpft in sein Bewusstsein, als wären sie unendlich weit entfernt.
Beiläufig nahm Alex wahr, wie ein Autofahrer im letzten Moment das Steuer herumriss und haarscharf an ihm vorbeirauschte. Er konnte nicht genauer hinsehen, weil sein Blick starr auf den fremdartigen Gegenstand gerichtet war.
Unbeschadet erreichte er die Verkehrsinsel und bückte sich nach dem funkelnden Ding, das inmitten der unscheinbaren Kieselsteine lag, die der vorbeifahrende Lastwagen verloren hatte. Als seine Finger die kalte, glatte Oberfläche berührten, durchfuhr ihn ein leichtes Kribbeln. Zuerst wusste er nicht, auf was er da gestoßen war. Der kugelförmige Gegenstand reflektierte das Sonnenlicht und blendete ihn.
Dann klärte sich der leuchtende Schleier vor Alex´ Augen und er stellte fest, dass er einen halbmondförmigen Stein in den Händen hielt, der entfernt wie ein Armreif aussah. Das Material schimmerte schwarz und weiß.
Ein Onyx!, stellte Alex überrascht fest.
So schnell er konnte, verbarg er den Armreif unter seinem Mantel, und blickte sich misstrauisch um. Die Autos, die gerade noch mit quietschenden Reifen zum Stehen gekommen waren, hatten die Verkehrsinsel schon lange passiert. Niemand nahm mehr Notiz von ihm.
Bei der Größe muss der Klunker ein Vermögen wert sein, schätzte Alex. Wo ist der nur hergekommen? Möglicherweise von dem Lastwagen gefallen …
Er musste sich selbst gegenüber eingestehen, dass das eine sehr dürftige Erklärung war: Derartig kunstvoll geformte Edelsteine transportierte man normalerweise nicht wie Natursteinblöcke mit einem Lastwagen – erst Recht nicht, wenn diese zusätzlich voll mit Kies beladen sind.
Alex ließ den Armreif in seiner Manteltasche verschwinden. Er glaubte zu spüren, wie der Onyx zwischen seinen Fingern pulsierte, als hielte er ein lebendes Kinderherz in der Hand. Entsetzt zog er den Arm zurück. Ihm wurde heiß und kalt.
Das bildest du dir nur ein!, behauptete sein logischer Menschenverstand.
Alex zwang sich dazu, kontrolliert ein und aus zu atmen. Dann steckte er seine Hand vorsichtig wieder zurück in die Manteltasche und berührte den Armreif fast zärtlich. Er fühlte sich kalt und tot an.
Erleichtert blies Alex die Luft zwischen den Zähnen hindurch.
Das ist ein ganz normaler Armreif, beruhigte er sich.
Vor und hinter ihm brausten noch immer unentwegt Autos vorbei. Alex spurtete los und steuerte auf den Straßenrand und seinen Opel Corsa zu. Dort angekommen, glitten seine Gedanken zurück zu dem Armreif aus Onyx. Ohne ihn aus der Tasche zu nehmen, wog Alex das Schmuckstück prüfend mit der rechten Hand.
Er ist zu leicht. Möglicherweise eine Kopie, befürchtete er auf einmal. Ein Talisman vielleicht, wie man ihn in jedem beliebigen Esoterikladen kaufen kann.
Verwirrt setzte er sich in sein Auto. So, dass er sein eigenes Gesicht im Rückspiegel sehen konnte. Es war schmal, mit eingefallenen Wangen und wirkte kränklich und blass. Die schulterlangen Haare hatte er sich vor einer Woche tiefblau gefärbt. Eine vereinzelte Strähne fiel ihm ins Gesicht und spaltete das linke seiner tiefgrünen Augen, wie eine Klinge aus glänzendem Stahl. Oft wurde er, besonders von Mitschülerinnen, als sehr charismatischer, junger Mann beschrieben. Aber natürlich nie, wenn er in der Nähe war; Alex´ Schulkameraden fürchteten sich vor ihm.
Geistesabwesend brachte er den Spiegel in seine Ausgangsposition zurück und startete den Motor des Wagens. Daraufhin sprang ihm die leuchtende Anzeige der Digitaluhr am Armaturenbrett regelrecht ins Gesicht. Siedend heiß erinnerte Alex sich an die Schule. Es war bereits kurz nach 8:00 Uhr! Er musste sich beeilen, wenn er noch pünktlich zu Stundenbeginn im Klassenzimmer sitzen wollte. Und Alex hatte schon so häufig geschwätzt, dass er sich keine weitere Fehlstunde mehr erlauben konnte, wenn er nicht von der Schule fliegen wollte.
Hoffentlich komme ich nicht zu spät, flehte er in Gedanken.
Routiniert schaltete Alex in den ersten Gang und ordnete sich in den fließenden Straßenverkehr ein. Als er an dem Haus vorbeifuhr, in dem ihre Wohnung lag, gewahrte er die Gestalt seines Stiefvaters am Küchenfenster. Boris winkte apathisch und grinste sein breites Haifischgrinsen.
»Ich wünschte, du könntest einmal spüren, wie es sich anfühlt, wenn einem das Herz zerrissen wird«, murmelte Alex leise vor sich hin.



Es war aussichtslos!
Alex drehte bereits die vierte Runde auf dem Schulparkplatz, ohne eine freie Lücke zu finden. Wütend trat er auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Sein Blick glitt über das Meer aus verchromtem Stahl.
»Verdammt, wenn doch nur ein Parkplatz frei wäre«, fluchte er und schlug mit der Hand fest gegen das Lenkrad.
Da tat sich plötzlich etwas vor ihm: Eines der geparkten Autos, ein schwarzer Ford Fiesta, setzte sich langsam in Bewegung. Vergeblich suchte Alex nach einem Fahrer hinter den zugefrorenen Fenstern. Es gab keinen!
Führerlos rollte der Wagen aus der Parklücke und prallte mit einem weißen Fiat zusammen, der gegenüber geparkt stand. Die Stoßstange des italienischen Wagens bohrte sich in den Kofferraum des Fords. Blech verbog sich knirschend, Glas splitterte. Die Windschutzscheibe des Fiats bekam milchige Risse.
Alex verfolgte das Schauspiel mit einem gewissen Maß an Schadenfreude. Der Ford-Fahrer hatte es wohl versäumt, die Handbremse richtig anzuziehen.
Selber Schuld, dachte Alex.
Mit einem zufriedenen Lächeln lenkte er seinen Wagen in den frei gewordenen Parkplatz. Bevor er aus dem Opel Corsa stieg, überzeugte er sich natürlich davon, dass er die Handbremse in die höchste Stellung gezogen hatte.
Dann schnappte er sich seine Schultasche, schloss den Wagen ab und rannte zum Schulhaus hinüber. Völlig aus der Puste kam Alex am Haupteingang an. Er wartete noch einen Augenblick, bis sein Atem sich wieder beruhigt hatte, dann betrat er das altmodische Plattengebäude.
Auf den Gängen tummelten sich noch Dutzende Schüler. Verwundert warf Alex einen Blick auf die große Uhr, die über der Eingangstür an der Wand hing. Es war kurz nach 8:00 Uhr. Völlig perplex erinnerte Alex sich an die Uhr in seinem Auto. Diese hatte schon vorhin, als er von Zuhause losgefahren war, behauptet, es wäre kurz nach 8:00 Uhr gewesen.
»Komische Zufälle sind das heute«, murmelte er.
»Das ist wirklich ein komischer Zufall, dass wir beide uns hier treffen«, hörte er eine ihm bekannte Stimme.
Vor ihm erschien Lukas, der größte Kotzbrocken der Schule. Lukas spielte Fußball in der Schulmannschaft und war ein klassischer Schönling: athletisch gebaut, mit kurzen, blonden Haaren und teuren Markenklamotten an seinem muskelbepackten Körper. Wie immer wurde Lukas auch heute von seinen beiden Wachhunden flankiert: Tobias und Thomas. Die beiden überragten Alex um zwei Haupteslängen, waren von kräftiger Statur, trugen schwarze Bomberjacken und hatten die Arme vor der Brust verschränkt.
»Was steht heute auf dem Tagesplan, Ozzy? Wirst du einer Fledermaus den Kopf abbeißen?«, verspottete ihn Lukas.
Eine kleine Menschentraube bildete sich um Alex und seinen Erzfeind herum. Er konnte förmlich spüren, wie sich die Blicke erwartungsvoll auf ihn richteten. Jeder wartete auf den gewohnt genialen Konterspruch des sonst so schlagfertigen Jungen. Doch heute war Alex nicht nach einem Wortduell mit Lukas zumute.
Wortlos wandte er sich um und bahnte sich einen Weg, durch die Umstehenden hindurch, zu seinem Spind.
»Du wirst doch nicht den Schwanz einziehen, Freak-Boy«, schickte ihm Lukas hinterher. »Oh verzeih, ich wollte dich nicht verletzen. Ich vergaß, dass du ja übermenschliche Kräfte besitzt und dich sicher an mir rächen wirst.«
»Ich wünschte, du würdest an deinen blöden Sprüchen ersticken«, wisperte Alex, ohne dass Lukas es hörte.
Er kam an seinem Spind an. Im selben Moment verlor Lukas endgültig das Interesse an ihm und marschierte mit seinen beiden Leibwächtern weiter durch die Gänge, um damit fort zufahren, wehrlose Mitschüler zu piesacken. Die meisten Schüler waren nicht so wortgewandt wie Alex und konnten sich nicht gegen Lukas´ Verbalattacken wehren. Aber auch Alex hatte heute nicht gerade eine Glanzvorstellung seines rhetorischen Könnens gezeigt. Er war völlig durcheinander.
Was ist nur los mit mir?, fragte er sich.
Alex fühlte sich beobachtet. Sein Blick irrte durch die menschenüberfüllte Pausenhalle. Nicht weit von ihm entfernt scharte sich eine Gruppe tuschelnder Mädchen um eine zierliche Gestalt. Maria von Hohenzollern ignorierte ihre Freundinnen und blickte offen zu ihm herüber.
Schnell sah Alex in eine andere Richtung.
»Wieder Ärger mit den Frauen?«, meldete sich eine Stimme hinter ihm.
Im ersten Moment befürchtete Alex, dass Lukas zurückgekommen war, um seine unerträgliche Sprüchefolter fortzusetzen, doch als er seinen Spind schloss, erschien Martins sommersprossenbedecktes Gesicht dahinter. Das orange-rote, lockige Haar des Jungen ließ ihn ein wenig wie Ronald McDonald aussehen. Zusammen mit den Cowboy-Stiefeln, der hautengen Lederhose und dem Kapuzenpullover mit dem Logo einer satanischen Rockgruppe darauf, wirkte Martins Erscheinung nicht einfach nur unpassend, sondern schlicht und ergreifend lächerlich.
Dennoch war er Alex´ bester Freund - und das schon seit er denken konnte. Der Klassenkamerad und treue Tischnachbar teilte viele von Alex´ wirren Ansichten über das Leben und den Tod. So glaubte er zum Beispiel auch an Reinkarnation und sah sich selbst als die dreizehnte Wiedergeburt von Nosferatu.
»Maria ist heiß. Und sie will dich«, fasste Martin zusammen.
»Sie ist okay«, entgegnete Alex.
Sein Blick wanderte zurück zu dem Mädchen. Maria gehörte zu den Streberinnen in Alex´ Klasse und dennoch war sie kein pickeliges, Brille tragendes Mauerblümchen, sondern eine natürliche Schönheit. Sie hatte helles, schulterlanges Haar, eine süße Stupsnase und strahlend blaue Augen. Doch es waren ihre weiblichen Kurven, mit denen sie der Männerwelt den Kopf verdrehte.
Trotz ihrer Traummaße empfand Alex nichts für sie. Das lag unter anderem daran, dass sie ganz anderen Verhältnissen entstammte, als er. Ihre Eltern arbeiteten als erfolgreiche Hausmakler, während Alex´ Mutter Sozialhilfe empfing. Trotzdem schwärmte Maria schon seit geraumer Weile für Alex, obwohl er an seiner Schule als Außenseiter galt und es bekannt war, dass er schulisch in so ziemlich jeder Hinsicht versagte.
»Okay?!« Martin schnappte übertrieben nach Luft. »OKAY?! Das Mädchen brennt, so heißt ist die!«
»Aber Lizzy …«, begann Alex.
»Lizzy, Lizzy, Lizzy«, fiel ihm Martin ins Wort. »Vergiss sie! Sie hat dich abserviert. Und sie hat nicht halb soviel ... Stil wie Maria.« Martin machte eine ausholende Geste, als würde er Marias weiblich geformten Körper in die Luft zeichnen.
»Sie sieht gut aus, okay«, gab Alex zu. »Wenn sie doch nur ein kleines bisschen anders drauf wäre. Dieses brave Getue, die Schulmädchenuniform …«
»Hey, nichts gegen die Schulmädchenuniform«, beschwerte sich Martin grinsend.
Das Läuten der Schulglocke unterbrach ihr Gespräch.
»Oh, oh, der Herr der Verdammnis ruft uns.«
Die beiden Jungen gingen in ihr Klassenzimmer. Als sie sich mit den anderen Mitschülern durch die Tür ins Rauminnere zwängten, wurde Alex ganz nahe an Maria heran geschoben. Er spürte, wie ihre Hand über seinen Arm glitt und etwas in seine Tasche steckte. Etwas verdattert stolperte Alex, von den nachfolgenden Schülern gestoßen, ins Klassenzimmer hinein.
»Beim Läuten fängt die Stunde an.« Ihr Religionslehrer, Herr Grün, warf einen strafenden Blick in die Runde. »Ich möchte, dass ihr dann bereits hier sitzt, mit euren Materialien auf dem Tisch.«
Stühle wurden quietschend verschoben. Schulranzen knallend abgestellt.
Schließlich wich der Lärmpegel betretenem Schweigen.
»Ich habe euch gebeten, für die heutige Stunde Kapitel drei aus eurem Religionsbuch durchzuarbeiten«, erinnerte sie Herr Grün. »Und da ich ja weiß, wie sehr ich mich auf euch verlassen kann, wird es mit Sicherheit niemanden stören, wenn wir einen kleinen Test schreiben.«
Das geplagte Stöhnen der Schüler erfüllte den Raum.
Alex zuckte entsetzt zusammen.
Scheiße, ein Kurztest!, dachte er aufgeregt.
Panik breitete sich in ihm aus.
Natürlich hatte er wieder einmal vergessen, die Hausaufgaben zu machen und keinen Satz, ja, nicht einmal ein Wort des angesprochenen Kapitels gelesen! Seine Hand kroch nervös in seine Tasche, aber dort, wo normalerweise ein professioneller Spickzettel steckte, herrschte gähnende Leere.
Nicht ganz, fiel ihm auf. Ich habe den Armreif …
Alex´ Hand schloss sich um den Onyx. Er hatte das Gefühl, der Armreif würde wieder in seiner Hand vibrieren …
»Das ist unser Untergang. War schön dich gekannt zu haben«, scherzte Martin. »Wir sehen uns im ewigen Fegefeuer der Hölle wieder.«
»Hoffentlich kommt etwas dran, was ich auch so kann, ohne gelernt zu haben«, schickte Alex ein Stoßgebet gen Himmel. »Irgendetwas, wovon ich Ahnung habe.«
»Vergiss es«, machte Martin seine Hoffnungen zunichte. »Soviel Glück haben wir Normalsterblichen nicht.«
Herr Grün teilte die Blätter aus. Die ersten Schüler warfen missmutige Blicke auf den Bogen. Alex blickte in ahnungslose Gesichter und beobachtete fieberhaftes Nägelkauen. Endlich kam der Lehrer bei Martin und ihm vorbei.
»Das wird ein Heimspiel, Jungs«, sagte er und reichte ihnen den Test.
Irritiert drehte Alex das Blatt herum. Das Thema des Tests stand oben auf dem Zettel. SATANISMUS, las er.
Alex wusste nicht, ob er vor Freude ausrasten oder losheulen sollte. Der Armreif in seiner Hand bebte immer stärker. Erschrocken zog er seine Hand aus der Tasche.
Alex bemerkte Martins verwunderten Blick.
Hoffentlich kommt etwas dran, was ich auch so kann, ohne gelernt zu haben. Irgendetwas, wovon ich Ahnung habe, erinnerte er sich an seine Worte.
»Wow, du hast mir nicht gesagt, dass du dich in die Kunst der schwarzen Magie einarbeiten wolltest.« Martin grinste und fing an, den Test auszufüllen.
Das ist ein Zufall, versuchte Alex sich einzureden. Ein blöder Zufall!
Aber war es das wirklich?

15. Okt. 2006 - Timo Bader

Bereits veröffentlicht in:

OPTATIO ONYX - WÜNSCHE DES VERDERBENS
T. Bader (Hrsg.)
Anthologie - Phantastik - Web-Site-Verlag - Dez. 2005

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