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Armeleutekind
von Martin Barkawitz

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
Zweiter Oktober 1923, 5.11 Uhr morgens

Tammo Okkinga hatte sich für 600 Millionen Mark eine Tageszeitung gekauft.
Lesen wollte er die Nachrichten über den neuesten Putsch von links oder rechts, über die französischen Gräueltaten im Rheinland oder die sturzflutartige Geldentwertung aber erst später. Momentan marschierte Okkinga gemeinsam mit Jorik Wemmer an den Kleinbahngleisen zwischen Emden und Greetsiel entlang.
Der Mond hing groß und schwer wie ein Käse über dem flachen Land. Der Erdtrabant spendete so viel Licht, dass Okkinga noch nicht einmal seine altersschwache Blendlaterne einsetzen musste. Er hatte in den Schützengräben von Flandern gelernt, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Daher bemerkte er das Bündel neben den Schienen als erster. Wemmer war nämlich viel zu beschäftigt mit dem Reden, und es schien ihn nicht zu stören, dass Okkinga ihm nicht zuhörte.
„In Pilsum sollen die Plünderer einen Bauern an seine Stallwand genagelt haben, erzählt man sich. Wenn ich bei unserer Bürgerwehr etwas zu sagen hätte, dann würde man mit diesen Lumpenhunden kurzen Prozess machen. Nicht einfach nur die Hände mit dem Gewehrkolben zerschlagen, sondern gleich ein Stück Blei in den Schädel, und …“
„Halt‘ endlich mal dein Maul“, knurrte Okkinga. „Da, siehst du das nicht?“
Er packte seinen jungen Kameraden am Mantelärmel und deutete auf ein Bündel, das unmittelbar neben den Schienen der Bahn lag, die von den Einheimischen nur Jan Klein genannt wurde.
„Vielleicht was Essbares!“, keuchte Wemmer und wollte schon vorwärts stürzen. Aber Okkinga hielt ihn immer noch fest.
„Nicht so voreilig, das könnte auch eine Falle sein. Vielleicht liegt da ja eine Bombe. Oder jemand wartet darauf, uns aus dem Hinterhalt abknallen zu können.“
Wemmer verstummte nun endlich. Er bemühte sich nach Kräften, seine Angst nicht zu zeigen. Doch Okkinga registrierte genau, wie krampfhaft der Jungspund seinen Karabiner umklammert hielt. Okkinga und Wemmer gehörten zur Krummhörner Bürgerwehr. Sie war von der Landbevölkerung aufgestellt worden, um den Raubzügen der hungrigen Städter aus Emden etwas entgegenzusetzen. Deshalb patrouillierten die beiden ungleichen Männer an den Bahnschienen entlang. Aber nur einer von ihnen hatte Kampferfahrung, nämlich Okkinga.
„Du gibst mir Deckung, ich sehe mir die Sache mal genauer an.“
Er wartete nicht auf eine Antwort von Wemmer, sondern ging geduckt auf den Gegenstand zu. Dabei achtete er darauf, ob sich irgendwo innerhalb einer Gewehrschussdistanz etwas bewegte. In dieser flachen Landschaft gab es nicht viel Deckung für einen Heckenschützen, außer der Finsternis selbst.
Doch Okkinga hatte einen sechsten Sinn für Gefahr. Deshalb hatte er auch vier Jahre in den Schützengräben von Flandern überlebt. Der ehemalige Soldat hielt den alten Karabiner schussbereit in den Fäusten. Aber in seiner Umgebung tat sich nichts. Er hörte nur, wie Wemmer hinter ihm nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Der Junge war wirklich keine Hilfe, Okkinga musste sich ganz auf sich selbst verlassen.
Ob Umstürzler nun auch die Kleinbahnstrecke sprengen wollten? Im Ruhrgebiet waren Dynamitanschläge auf Eisenbahnstrecken an der Tagesordnung, wenn man der Zeitung glauben durfte. Aber dort kämpfte man gegen die französische Besatzungsmacht, die an dem ausgebluteten und bettelarmen Ostfriesland nicht das geringste Interesse zeigte.
Das Bündel bestand aus einer schmutzigen Decke. Okkinga schob vorsichtig den Gewehrlauf unter einen Stoffzipfel und öffnete somit den Packen. Er hielt den Atem an, das Adrenalin jagte durch seinen Körper.
Nein, das Bündel enthielt keine Dynamitstangen. Stattdessen erblickte Okkinga im fahlen Mondlicht ein totes Kind, offenbar ermordet. Die gebrochenen Augen starrten in den Nachthimmel. Nun traute sich endlich auch Wemmer, näher heranzukommen. Als der Schwätzer nun wieder redete, klang seine Stimme erleichtert.
„Ach, nur ein totes Kind. Dafür sind wir nicht zuständig.“
„Für ein totes Kind ist jeder zuständig“, widersprach Okkinga entschlossen. Und er musste sich beherrschen, um seinem Kameraden nicht mit dem Gewehrkolben Pietät beizubringen.
Zweiter Oktober 1923, 5.28 Uhr morgens

Das Kind erinnerte Okkinga an eine Putte, die er bei einem kurzen Fronturlaub in einer katholischen Brüsseler Kirche gesehen hatte. Er selbst gehörte dem reformierten Glauben an, so wie die meisten Ostfriesen. Daher waren ihm die Ornamente und Ausschmückungen eines Gotteshauses fremd.
Fest stand nur, dass der Kleine gewaltsam ums Leben gekommen war. Die blutige Stichwunde in der schmalen Brust war nicht zu übersehen. Das Kind konnte nicht älter als drei Jahre gewesen sein.
„Wir können dem Landgendarmen in Pewsum Bescheid geben, wenn wir dort ankommen, Tammo. Lass‘ uns weitergehen, ich habe schon ganz kalte Füße.“
„Willst du das Kind vielleicht hier liegenlassen?“
Okkinga stellte diese Frage mit einem drohenden Unterton, dass selbst so ein stumpfer Klotz wie Wemmer endlich den Ernst der Lage erkannte. Der ehemalige Frontsoldat hatte sich vom Boden erhoben und baute sich vor dem Jüngling auf. Wemmer begriff, dass er ganz kurz vor der fürchterlichsten Tracht Prügel seines Lebens stand. Und er war Feigling genug, nun einzuknicken.
„Nein, du hast ja recht, Tammo … wir machen das, was du sagst. Du hast die nötige Erfahrung.“
Okkinga empfand nur Verachtung für Wemmers kriecherische Anbiederungsversuche. Er hätte den Jüngling gerne auf den Mond geschossen, als Rückendeckung war er ohnehin nutzlos. Aber wenigstens kannte sich Wemmer in der Krummhörn besser aus als Okkinga, der durch seine lange Zeit in Belgien den Anschluss verloren hatte.
„Jorik, kennst du dieses Kind?“
Wemmer zuckte zusammen, als Okkinga ihn mit seinem Vornamen ansprach. Ob er das für ein schlechtes Omen hielt? Auf jeden Fall beugte der Jungspund sich nun über die kleine Leiche und heuchelte Interesse.
„Ja, das ist der jüngste Sohn von Henning Wiarda. Ich glaube, der Junge hieß Kimmo.“
Wiarda? Der Name sagte Okkinga nichts. Er hakte nach.
„Und wo lebt Wiarda mit seiner Familie?“
„Er ist Landarbeiter in Groß Midlum. Ich glaube, er hat sechs oder sieben Kinder.“
„Dann werden wir ihm jetzt seinen Sohn zurückbringen.“
„Aber die Bahnstrecke …“
„Die Bahnstrecke ist mir scheißegal!“, blaffte Okkinga. „Außerdem liegt Groß Midlum auf unserem Patrouillenweg, und ich wollte mich nicht allzu lange bei den Wiardas aufhalten.“
Okkinga warf sich sein Gewehr am Riemen über den Rücken, um die Hände freizuhaben. Dann hob er Kimmo Wiarda so vorsichtig auf, als ob dieser noch etwas spüren könnte. Die kleine Leiche war ein Armeleutekind, das hatte auch Okkinga auf den ersten Blick bemerkt. Und davon gab es in Ostfriesland sehr viele. Plötzlich blieb er so abrupt stehen, dass Wemmer beinahe gegen ihn gelaufen wäre. Okkinga drehte sich halb zu ihm um.
„Jorik, wer macht denn so etwas? Wer tötet ein Kind?“
„Ich weiß es nicht“, murmelte der junge Mann und vergrub sich tiefer in seinen Mantel. Aber Okkinga hätte schwören können, dass er nicht die Wahrheit sagte.
Zweiter Oktober 1923, 6.22 Uhr morgens

Die Familie Wiarda lebte in einem Landarbeiterhaus, wie es sie überall in Ostfriesland gab. Sie bestanden meist nur aus einem Raum, in den mehrere Butzenbetten eingebaut waren. Okkinga waren diese Katen wohlvertraut, denn er war schließlich selbst in so einem kleinen Haus aufgewachsen.
Die Sonne war aufgegangen und tauchte die mächtige Kirche von Groß Midlum in ein goldenes Licht. Das Gotteshaus war ganz oben auf einer Warft erbaut worden, um bei Sturmfluten verschont zu werden. Die Familie Wiarda hingegen lebte ziemlich weit unten in dem kleinen Dorf, fast schon in der Nähe des Armenhauses.
Im Gegensatz zu Okkinga wusste Wemmer, wo die Wiardas wohnten. Daher hatte er jetzt die Führung übernommen. Und der junge Mann pochte auch an die Tür, denn Okkinga trug ja immer noch das Kind und hatte deshalb keine Hand frei.
„Aufmachen!“, rief Wemmer nassforsch. „Krummhörner Bürgerwehr!“
Das klang nicht nach einem Kondolenzbesuch, sondern nach einer Hausdurchsuchung, wie Okkinga fand. Und er hätte Wemmer dafür liebend gern ein paar Zähne ausgeschlagen. Aber er musste jetzt die passenden Worte finden, um den Schmerz der Eltern nicht übermenschlich werden zu lassen. Es war seltsam – Okkinga hatte im Schützengraben dem Tod tausendfach ins Auge geblickt, in Form von Giftgas, Granaten, Gewehrpatronen oder feindlichen Bajonetten. Aber in diesem Moment wäre er lieber wieder in der Hölle von Flandern gewesen als in der Schmiedestraße von Groß Midlum.
Die Tür wurde sofort geöffnet. Wahrscheinlich hatten weder Henning Wiarda noch seine Frau ein Auge zugetan. Sie sahen krank vor Sorge aus, als sie nun Seite an Seite die Tür öffneten. Ihre Gesichter waren bleich und eingefallen, aber 1923 gab es keine wohlgenährten Landarbeiter in der Krummhörn. Doch es war außer dem harten Dasein noch etwas anderes, das sie so gespenstisch aussehen ließ.
„Wir haben Kimmo bei den Bahngleisen von Jan Klein gefunden.“
Diesen Satz sprach Okkinga aus, bevor Wemmer etwas Unpassendes von sich geben konnte. Die Mutter begann zu weinen, und er überließ ihr das Kind. Die Geschwister von Kimmo hielten sich im Hintergrund und redeten nun mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Nicht-Verstehen wild durcheinander. Einige von ihnen waren noch sehr klein.
Okkinga nahm den Vater beiseite, der wie versteinert neben dem niedrigen Türsturz seines Hauses stehengeblieben war. Okkinga suchte nach den passenden Worten, fand aber in den Tiefen seines abgetragenen Militärmantels nur seine letzte Zigarette. Er zündete sie an und teilte sie mit dem Trauernden.
Wiardas Gesicht war wie versteinert. Nur die Heftigkeit, mit der er an dem Glimmstängel zog, sagte etwas über seine Empfindungen aus. Okkinga legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Dein Sohn wurde nicht von der Bahn überrollt, Wiarda. Ein Lumpenhund hat deinen Kimmo erstochen. Wer war das? Hast du einen Verdacht?“
Wiarda schaute erst Okkinga, dann Wemmer an. Es war, als ob er plötzlich aus einem Traum erwachen würde.
„Was könnt ihr von der Bürgerwehr denn schon ausrichten?“
„Eine ganze Menge!“, prahlte Wemmer und klopfte auf das Schloss seines Karabiners. „Es waren bestimmt diese verfluchten Plünderer, die …“
Okkinga verpasste seinem jungen Kameraden eine schallende Ohrfeige, die ihn zum Schweigen brachte. Wemmer taumelte jammernd zur Seite. Okkinga beachtete ihn nicht weiter, sondern konzentrierte sich ganz auf Wiarda. Er starrte den Vater an und kam sich dabei vor wie ein Hypnotiseur, den er einmal in einem Film gesehen hatte.
„Wer war es, Wiarda?“
Die Unterlippe des Landarbeiters begann zu zittern. Er schüttelte den Kopf, als er den Mund öffnete.
„Ich weiß es nicht.“
Okkinga hatte zum zweiten Mal an diesem Morgen das Gefühl, belogen zu werden.
Zweiter Oktober 1923, 13.05 Uhr mittags

Okkinga hätte sich eigentlich wohlfühlen sollen. Die Patrouille war ohne Zwischenfälle zu Ende gegangen. Er saß in der Gaststube der Schankwirtschaft Arends in Greetsiel und löffelte eine Portion Updrögt Bohnen in seinen leeren Magen. Die Kneipe diente als eine Art Hauptquartier der Bürgerwehr. Da das Geld sowieso nichts mehr wert war, bekam Okkinga dort wenigstens eine warme Mahlzeit.
Und obwohl die Ermordung des Kindes ihm den Appetit verdorben hatte, aß er den Eintopf bis auf den letzten Tropfen auf. Okkinga hatte im Krieg gelernt, Essen niemals zu verweigern. Man konnte nie wissen, ob und wann man wieder etwas bekam.
Wemmer hatte sich zu einigen anderen Kameraden verzogen und ging Okkinga nicht auf die Nerven. Und auf die Schreckensmeldungen aus der Zeitung hatte er auch keine Lust. Er starrte nachdenklich aus dem Fenster. Die Schankwirtschaft Arends befand sich in der Sielstraße. Von dort aus hatte man einen Panoramablick auf den Hafen mit seinen Fischkuttern. Okkinga war vor dem Krieg auch öfter als Deckhand gefahren, sein Seefahrtbuch besaß er immer noch. Aber bisher hatte er sich nicht aufraffen können, nach einer neuen Heuer zu fragen.
Der Krieg und die Gefangenschaft hatten Okkinga seine Energie geraubt. In die Bürgerwehr war er mehr oder weniger hineingerutscht. Aber dort musste er auch nicht viel mehr machen als mit einem Karabiner in der Hand und einem halbwüchsigen Bengel an seiner Seite spazieren zu gehen. Dafür bekam er sogar noch warme Mahlzeiten. Und das war mehr, als so mancher andere Ostfriese in diesen Jahren von sich behaupten konnte.
Okkinga ging das Armeleutekind nicht aus dem Kopf.
Er selbst hatte keinen Nachwuchs. Swantje, die er hatte heiraten wollen, war schon 1917 an der Grippe gestorben. Okkinga hatte zu der Zeit wochenlang unter englischem Trommelfeuer gelegen und erst Monate später durch die Feldpost davon erfahren. Während des Kriegs hatte er in Abgründe der Grausamkeit geblickt und eigentlich geglaubt, dass ihn nichts mehr erschüttern könnte.
Aber es gab Dinge, die man einfach nicht tat.
Man brachte keine Kinder um.
Okkinga war wild entschlossen, den Mörder zur Strecke zu bringen. Er hatte nämlich das unbestimmte Gefühl, dass außer ihm selbst niemand wirklich an der Aufklärung des Mordes interessiert war. Natürlich hatten Okkinga und Wemmer beim Landgendarmen in Pewsum Meldung gemacht, bevor sie ihren Kontrollgang fortgesetzt hatten. Doch der Wachtmeister machte kein Hehl daraus, dass er und seine Kameraden sich ganz auf den Landarbeiterstreik und die Diebesbanden aus der Stadt konzentrieren mussten. Okkinga hätte schwören können, dass auch der Polizist wusste oder ahnte, wer hinter der Bluttat steckte.
Oder bildete er sich das nur ein? Hatten die Jahre im Schützengraben ihn verrückt werden lassen wie so manchen anderen entlassenen Soldaten? Nein, daran glaubte Okkinga nicht. Er war ein nüchterner Mensch, der nicht redete, sondern handelte.
Er stand auf, hängte sich das Gewehr am Riemen über die Schulter und verließ den Schankraum. Niemand hielt ihn auf, denn Okkinga war kein geselliger Typ und bei den anderen Männern der Bürgerwehr nicht besonders beliebt. Er ging hinüber zum Bahnhof und fuhr mit der nächsten Bahn nach Groß Midlum zurück.
Okkinga wollte sich die Stelle, wo sie das Armeleutekind gefunden hatten, bei Tageslicht noch einmal genauer anschauen. Nach seiner Einschätzung hatte die Leiche ungefähr einen Kilometer südlich des Ortes gelegen.
Weit hinten am Horizont glitzerte das Wasser des Knockster Tiefs im Sonnenlicht. Den Entwässerungskanal hatte Okkinga in der Dunkelheit natürlich nicht bemerkt. Ob jemand das Kind aus dem Zug geworfen oder einfach neben den Gleisen abgelegt hatte? Er tippte auf die zweite Möglichkeit. Wäre Kimmo Wiarda aus einem Waggon gestoßen worden, hätte man Abschürfungen am Körper bemerken müssen. Doch der Leib war intakt gewesen, wenn man von der Stichwunde absah.
Es hatte ausnahmsweise seit Stunden nicht geregnet. So kam es, dass Okkinga neben dem Gleisbett immer noch einen dunklen Blutflecken fand. Hier musste das Kind gelegen haben. Er kniete nieder und bemerkte ein Stück Pappe zwischen den Schottersteinen. Okkinga kniff die Augen zusammen und zog es hervor.
Er hielt ein Teil einer Zigarettenpackung in der Hand. Es war eine englische Marke, Players Navy Cut. Okkinga kannte diese Zigaretten. Im Krieg hatte er eine angefangene Schachtel dieser Sorte aus der Tasche eines toten Tommys gezogen. Nachdenklich kniff er die Augen zusammen. Wie kamen englische Zigaretten nach Ostfriesland?
Die Frage war leicht zu beantworten. Sie waren aus Holland geschmuggelt worden. Das deutsche Geld war zwar nichts mehr wert, aber die reichen Pfeffersäcke in den Städten bezahlten stattdessen eben mit Dollar, Pfund oder Gulden. Players Navy Cut war eine gute Marke, das wusste Okkinga aus Erfahrung. Aber wer rauchte in der Krummhörn diese Zigaretten?
Ein Schmuggler, das war die einfachste Erklärung. Okkinga schob den Pappenrest in seine Tasche und kehrte nach Groß Midlum zurück. Es gab natürlich viele Gerüchte, und als Mitglied der Bürgerwehr bekam er einiges mit. Man raunte sich zu, dass ein Bewohner des Armenhauses der Schmugglerkönig dieses Landstrichs sei. Der Name Tjark Hanno war schon öfter gefallen. Okkinga konnte es nicht glauben, aber irgendwo musste er mit seinen Ermittlungen ja beginnen. Also ging er wieder an den Gleisen entlang, bis er gegenüber des Spritzenhauses der Freiwilligen Feuerwehr links abbog.
Das Armenhaus stand am Fuß der Warft, auf der ganz oben die Kirche thronte. Okkinga klopfte und trat dann sofort ein. Vom kurzen Flur gingen nach beiden Seiten Türen ab. Er hörte ein klatschendes Geräusch auf der rechten Seite. Der hochgewachsene Mann musste sich bücken, um auch durch diese Tür zu gelangen.
Okkinga erblickte einen fast quadratischen Raum mit einer Feuerstelle, zwei Butzenbetten und wenigen Möbeln. Dort hockte ein älterer Mann auf einem Lehnstuhl. Über seinem Schoß lag ein junges Mädchen. Er hielt einen Lederriemen in der Hand und versohlte ihr damit den Hintern, der schon breite rote Striemen aufwies. Sie wimmerte leise vor sich hin. Als der Mann Okkinga bemerkte, hielt er inne.
„Oh, wir haben Besuch. – Elisabeth, serviere dem Herrn von der Bürgerwehr einen Tee!“
Das junge Mädchen sprang auf, zerrte den Kleidersaum nach unten, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und brachte mit zitternden Händen Tee, Kandis, Sahne und Geschirr zu dem großen Esstisch. Eine ältere Frau sowie eine Kinderschar hielten sich schweigend im Hintergrund. Offenbar tanzten hier alle nach dem Pfeife des Despoten im Lehnstuhl.
Okkinga zweifelte nicht daran, dass er Tjark Hanno vor sich hatte. Und er musste sich auch nicht fragen, weshalb der Armenhäusler wusste, dass sein Besucher bei der Bürgerwehr war. Die beiden Männer kannten sich vom Sehen, aber mehr auch nicht. Okkinga erinnerte sich an einige böse Gerüchte über Tjark Hanno.
Okkinga setzte sich an den Tisch. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal einen guten Tee getrunken hatte. Bei der Bürgerwehr gab es immer nur entsetzlichen Muckefuck, der eines Ostfriesen unwürdig war. Aber dennoch sträubte er sich dagegen, den Tee anzurühren.
Okkinga wurde selbst gewalttätig, wenn es nötig war. Sonst hätte er die vier Jahre an der Front wohl kaum überleben können. Und doch gab es einen großen Unterschied zwischen ihm selbst und Tjark Hanno.
Dem Armenhäusler schien es eine große Freude oder sogar Lust bereitet zu haben, das junge Mädchen zu schlagen. Sein Gesicht war gerötet, der Atem ging stoßweise, die Augen glänzten. So sahen Männer ansonsten aus, wenn sie voller Vorfreude ins Bordell gingen. Derartige Gefühle hatte Okkinga niemals gehabt, wenn er schlagen, schießen oder stechen musste. Er ekelte sich vor Tjark Hanno, der lauernd zusah, wie die vor Angst zitternde Elisabeth den Gast bediente.
„Dieser faulen Gans muss man Manieren beibringen“, sagte Tjark Hanno und lachte dreckig. „Wen Gott liebt, den züchtigt er – so heißt es doch schon in der Heiligen Schrift.“
Okkinga ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: „Henning Wiardas Sohn ist tot.“
Tjark Hanno seufzte theatralisch und breitete die Arme aus.
„Ja, wir leben in schlimmen Zeiten, Okkinga. Erst sterben deine Eltern an der Schwindsucht, und nun auch noch ein unschuldiges Kind.“
Tjark Hanno wusste natürlich, dass Okkingas Eltern nicht mehr lebten. Der Armenhäusler war gut informiert. Und Okkinga war sicher, dass sein Gastgeber diese Bemerkung nur fallengelassen hatte, um Salz in Okkingas Wunden zu streuen. Okkinga schüttelte den Kopf.
„Das Kind war nicht krank. Es wurde ermordet.“
„Ermordet?“, echote Tjark Hanno mit schlecht gespielter Entrüstung. „Wer macht denn so etwas? – Zigarette gefällig, Okkinga?“
Mit diesen Worten erhob sich der Armenhäusler trotz seines steifen Beins flink aus dem Lehnstuhl. Er hielt dem Besucher eine offene Zigarettenschachtel hin. Players Navy Cut stand darauf zu lesen.
Zweiter Oktober 1923, 16.17 Uhr nachmittags

Okkinga lehnte die Zigarette ab und rührte auch den Tee nicht an, obwohl er sich nach beidem sehnte. Eine unbändige Wut stieg in ihm hoch. Damals, in Flandern, hatte er sich vor einem Sturmangriff oft absichtlich in so eine Schlagetot-Stimmung gebracht, wie er es selbst nannte. Diese Gefühlslage hatte Okkinga dabei geholfen, aus dem Schützengraben zu steigen und ins feindliche Maschinengewehrfeuer zu laufen.
Er sah dann buchstäblich rot und wollte nur noch töten, töten, töten. Aber jetzt, im Armenhaus von Groß Midlum, musste er diese Empfindungen nicht künstlich heraufbeschwören. Okkinga war nun sicher, einen grinsenden Kindermörder vor sich sitzen zu haben.
Am liebsten hätte er seinen Karabiner genommen und Tjark Hanno sofort eine Kugel in den Schädel gejagt. Aber in dem Zimmer waren auch Frau Hanno und seine Kinder, zu denen offenbar auch Elisabeth gehörte. Nein, Okkinga musste sich beherrschen. Er war nicht mehr an der Front. Aber er wollte dafür sorgen, dass Tjark Hanno vor ein Gericht kam und schließlich im Gefängnis von Emden am Galgen endete.
Er stand abrupt auf und schwankte etwas, weil sein Blut so heiß durch die Adern schoss.
„Danke für den Tee“, sagte Okkinga mit heiserer Stimme. „Ich werde dafür sorgen, dass der Mörder seine gerechte Strafe erhält.“
Mit diesen Worten drehte er sich zur Tür. Aber Tjark Hanno musste natürlich das letzte Wort haben.
„Wie schön, dass die Bürgerwehr uns beschützt. Da können wir uns doch richtig sicher fühlen.“
Okkinga kochte vor Wut, als er das Armenhaus umrundete und schließlich die Straße nach Freepsum einschlug. Dort hauste er im leeren Haus seiner Eltern. Okkinga hatte noch drei Schwestern, aber die waren ausnahmslos verheiratet und lebten in anderen Teilen Ostfrieslands. Sein Bruder Klaes war schon 1915 an der Somme gefallen.
Was sollte er jetzt tun?
Dass Tjark Hanno englische Zigaretten rauchte, war noch kein Beweis für seine Schuld. Okkinga wusste, dass er den Mörder gefunden hatte. Aber das reichte nicht. Er führte sich vor Augen, wie abweisend der Landgendarm nach dem Fund der Kinderleiche gewesen war. Gab es dafür einen Grund, von dem Okkinga noch nichts ahnte?
Aus Richtung Freepsum kam ihm der alte Hausierer Remmers entgegen. Den kannte Okkinga schon aus seiner Kindheit. Damals war Remmers schon faltig und weißhaarig gewesen, und nun, mehr als zwanzig Jahre später, zog er immer noch mit seinem Handkarren über die Dörfer. Es kam Okkinga so vor, als ob Remmers unsterblich wäre. Das konnte man von dem Armeleutekind leider nicht behaupten.
„Moin, Tammo!“, grüßte der Alte. „Was hat dir denn die Petersilie verhagelt?“
Okkinga blieb stehen und berichtete dem Hausierer von dem Kindsmord. Dessen Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Das ist wirklich eine große Schweinerei, Tammo. Weiß man denn schon, wer es getan haben könnte?“
„Ich habe Tjark Hanno in Verdacht.“
Okkinga wusste selbst nicht, weshalb er gegenüber Remmers so offen war. Vielleicht lag es daran, dass der Hausierer schon so alt wie Methusalem zu sein schien und in der Krummhörn jedes Schaf und jeden Grashalm kannte. Remmers spitzte seinen zahnlosen Mund. Er senkte seine Stimme.
„Tjark Hanno? Hoffentlich ahnt er nicht, dass du ihm am Zeug flicken willst.“
„Der Armenhäusler kann ruhig wissen, dass ich gegen ihn bin. Ich fürchte mich nicht vor dieser feigen Ratte.“
„Das solltest du aber. Tjark Hanno zieht nämlich in der Krummhörn die Strippen. Lass‘ dich nicht davon beeinflussen, dass er im Armenhaus wohnt. Das ist nur Tarnung. Er steckt alle in die Tasche.“
Okkinga schnaubte verächtlich.
„Jedenfalls ist mir aufgefallen, wie wohlgenährt Tjark Hanno und seine ganze Sippschaft sind. Der Schmuggel scheint ganz schön viel einzubringen.“
„Es ist ja nicht nur der Schmuggel, Tammo. Tjark Hanno kennt viele Geheimnisse. Sein Wissen schützt ihn vor der Verfolgung. Also nimm dich in Acht vor ihm!“
„Du scheinst aber auch keine Angst vor diesem Mann zu haben, Remmers.“
„Ich?“ Der Hausierer lachte, als ob Okkinga einen Witz gemacht hätte. „Ich bin zu alt, um mich noch zu fürchten. Außerdem bemerkt Tjark Hanno gar nicht, dass es mich überhaupt gibt. Ich bin für ihn nur ein Fliegenschiss.“
„Aber ein kleines Kind, das ihm nichts tun konnte, hat er auch umgebracht.“
„Dafür gab es sicher einen Grund. Aber den wirst die vielleicht niemals erfahren.- Pass‘ gut auf dich auf, Tammo.“
Mit diesen Worten zog Remmers Richtung Groß Midlum davon.
Okkinga spürte allmählich die Müdigkeit in seinen Knochen, als er den Klosterpadd in Freepsum erreichte. Dort stand sein Elternhaus. Auch Okkingas Vater war Landarbeiter gewesen. Er selbst hatte nach der Schule auf Schiffen angeheuert und später auch in Emden von Gelegenheitsarbeiten gelebt. Dann war der Krieg ausgebrochen, und Swantjes Tod hatte seine Zukunftspläne ohnehin gründlich durchkreuzt. Während ihm diese Gedankenfetzen durch den Kopf spukten, schlurfte Okkinga durch sein düsteres Haus und ging zur Feuerstelle hinüber. Es dämmerte schon, aber er wollte so spät wie möglich anheizen. Okkinga gähnte und griff zum eisernen Kessel.
Ein Schuss fiel. Die Fensterscheibe zerbrach, und die Patrone blieb in der Wand neben Okkingas Kopf stecken.
2. Oktober 1923, 19.11 Uhr abends

Der ehemalige Soldat reagierte mit antrainierten Reflexen. Okkinga ließ sich zu Boden fallen und griff nach dem Karabiner, den er neben der Tür gegen die Wand gelehnt hatte. Er robbte zum Fenster, schlug mit dem Gewehrlauf die verbliebenen Scherben weg und schob die Mündung der Waffe nach draußen.
Okkinga blieb größtenteils in Deckung, spähte über Kimme und Korn. An der Ecke des gegenüberliegenden Hauses blitzte Mündungsfeuer auf. Die zweite Patrone sirrte ebenfalls durch die Fensteröffnung, traf aber Okkinga wiederum nicht. Er erwiderte das Feuer.
Sein Gegner schien sich nicht auf eine längere Schießerei einlassen zu wollen. Es war nun schon vollständig dunkel, und im Gegensatz zur vorherigen Nacht war der Mond größtenteils hinter Wolken verschwunden. Okkinga sah eine Gestalt, die sich auf ein Fahrrad schwang und so schnell wie möglich davonfuhr. Das Gewehr hatte der Heckenschütze am Riemen quer über dem Rücken. Okkinga jagte ihm noch eine Kugel hinterher, traf ihn aber nicht.
Einen Moment lang dachte er daran, die Verfolgung aufzunehmen. Aber der Vorsprung war schon zu groß, zumal Okkinga selbst keinen Drahtesel hatte. Er verschloss zunächst alle Fensterläden, was ihm ein Gefühl der Scheinsicherheit gab.
Wer wohl auf ihn geschossen hatte? Tjark Hanno konnte es nicht gewesen sein, denn dessen eines Bein war steif. Deshalb wohnte er ja überhaupt im Armenhaus – weil er nämlich als ein mittelloser Arbeitsinvalide galt, der kein Einkommen hatte. Und mit einem lahmen Bein hätte er niemals so schnell Radfahren können.
Nein, für Okkinga stand fest, dass ein Speichellecker oder Steigbügelhalter des Armenhäuslers der Heckenschütze gewesen war. Womöglich hatte er gar nicht getötet, sondern nur gewarnt werden sollen. Aber damit hatten Tjark Hanno und seinesgleichen nur das Gegenteil ihrer Absicht erreicht.
Okkinga hängte sich das Gewehr am Riemen über die Schulter und schlug wieder die Landstraße nach Groß Midlum ein. Müdigkeit, Erschöpfung und Hunger waren von ihm abgefallen. Er war wild dazu entschlossen, noch einmal ins Armenhaus zu gehen und ein Geständnis aus Tjark Hanno heraus zu prügeln. Doch als er dort ankam, war sein Feind fort.
„Ich muss deinen Mann sprechen“, sagte Okkinga mit Bestimmtheit zu Rena Hanno, die ihn an der Tür empfing. Ihr strenges Gesicht glich einer Steinmaske.
„Tjark ist weggegangen. Er sagte mir nicht, wohin er wollte.“
Okkinga hätte schwören können, dass die Ehefrau des Mörders log. Aber was konnte er tun? Okkinga hätte niemals seine Hand gegen eine Frau erhoben. Also beschränkte er sich darauf, drohend mit dem Finger auf Rena Hanno zu zeigen.
„Ich behalte deinen Mann im Auge. Ich weiß nämlich alles!“
Durch den abendlichen Besuch waren auch die beiden anderen Familien aufgeschreckt worden, die im Armenhaus lebten. Okkinga bat darum, einen kurzen Blick in ihre Behausungen werfen zu dürfen. Die Reeses und die Wolters waren wirklich arme Schlucker und mussten am Hungertuch nagen. Sie verstanden es offenbar nicht, sich durch Verbrechen ein schönes Leben zu machen. Ihre Elendsquartiere boten keine Versteckmöglichkeit, das erkannte Okkinga sofort.
Unverrichteter Dinge musste er wieder abziehen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass Tjark Hanno mit seinen Spießgesellen auf einer Schmuggeltour war oder anderen kriminellen Machenschaften nachging. Ob Okkinga ihm auflauern sollte? Irgendwann musste der Schurke ins Armenhaus zurückkehren. Aber dann stand Okkinga womöglich allein gegen eine Übermacht. Er war kein Feigling, aber er wollte den Mörder zur Strecke bringen. Und das ging nicht, wenn er vorher niedergeknallt wurde.
Unentschlossen schlenderte er zwischen der Kirchlohne und der Dorfstraße hin und her, als ein seltsames Geräusch zu hören war. Okkinga blieb stehen und lauschte. Er wandte sich nach links, und die sonoren Töne wurden lauter. Nun wehte der Nachtwind auch einen penetranten Schnapsgestank zu Okkinga hinüber.
Hinter einer Hecke lag ein Besoffener. Er schnarchte mit offenem Mund, das waren die merkwürdigen Laute.
Okkinga kniete sich neben ihn. Das Gesicht des Schlafenden war nicht zu erkennen, also riss er ein Streichholz an. Henning Wiarda lag vor ihm. Der Vater des ermordeten Kindes hatte offenbar versucht, seinen Schmerz mit Doppelkorn zu betäuben.
Okkinga packte ihn an der Schulter, rüttelte ihn heftig.
„Wach‘ auf, Wiarda! Hoch mit dir, Mann. Du erstickst sonst noch an deiner eigenen Kotze.“
Der Mann lallte, aber Okkinga ließ nicht locker. Schließlich verpasste er dem Volltrunkenen ein paar kräftige Ohrfeigen. Daraufhin schlug Wiarda die Augen auf. Okkinga half ihm dabei, in eine sitzende Position zu kommen. Ihm fiel die alte Redensart ein, dass Kinder und Betrunkene die Wahrheit sagten. Einen Versuch war es immerhin wert.
„Wir sind jetzt unter uns, niemand kann uns hören“, sagte Okkinga eindringlich. „Deshalb frage ich dich jetzt, Wiarda: Warum hat Tjark Hanno deinen Sohn ermordet?“
In der Dunkelheit konnte Okkinga das Gesicht des Landarbeiters nicht erkennen. Dessen Nähe war vor allem zu riechen, denn der Gestank nach Schweiß und Alkohol war atemberaubend. Doch Okkingas Nase hatte im Schützengraben schon viel Schlimmeres wahrnehmen müssen. Wiarda antwortete nicht, und Okkinga glaubte schon, der Besoffene hätte die Frage nicht verstanden. Aber dann war seine brüchige Stimme doch zu vernehmen.
„Das war wegen Aiske, meiner ältesten Tochter.“
„Was ist mit ihr?“
Okkinga konnte hören, wie Wiarda nach Luft schnappte.
„Tjark Hanno hat ein Auge auf sie geworfen, das habe ich gemerkt. Und er kriegt immer, was er will. Aber ich – ich wollte sie vor ihm schützen. Also habe ich Aiske nach Bremen geschickt, da hat sie eine Stellung als Dienstmädchen. In Bremen hat Tjark Hanno keine Macht.“ Wiarda machte eine Pause. „Hoffe ich wenigstens.“
„Und deshalb hat Tjark Hanno deinen Sohn getötet? Um es dir heimzuzahlen?“, fragte Okkinga fassungslos.
„Man nennt ihn auch die Blutbestie“, brachte Wiarda hervor. Er wirkte jetzt nüchterner als noch vor wenigen Minuten. Vielleicht hatte die Erinnerung an den gewaltsamen Tod seines Kindes den Alkoholrausch verringert.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause, da schläfst du deinen Rausch aus“, bestimmte Okkinga. „Morgen gehen wir dann gemeinsam zur Polizei und du sagst das aus, was ich gerade von dir gehört habe.“
Okkinga wusste, dass die Gendarmen den Worten eines Betrunkenen keinen Glauben schenken würden. Aber wenn Wiarda nun aktiv wurde, konnte die Ordnungsmacht nicht länger die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Vielleicht fanden die Polizisten sogar im Armenhaus die Tatwaffe, wenn sie danach suchten.
Okkinga half dem Landarbeiter vom Boden hoch und schaffte ihn zu seiner kleinen Kate. Dann drehte Okkinga sich um und kehrte zum zweiten Mal an diesem Abend nach Freepsum zurück. Dabei war er ständig darauf gefasst, eine Kugel aus dem Hinterhalt verpasst zu bekommen.
Dritter Oktober 1923, 7.21 Uhr morgens

Okkinga hatte sich gerade rasiert und wischte sich den Schaum aus dem Gesicht, als es laut an seiner Tür klopfte.
„Sofort aufmachen! Polizei!“
Okkinga war freudig überrascht, als er die harsche Männerstimme vernahm. War der Vater des toten Kindes schon allein zur Wache gegangen? Benötigte man noch eine Zeugenaussage von Okkinga? Er öffnete, um diese Fragen beantwortet zu bekommen.
Zwei Uniformierte standen vor ihm, die Pistolen auf seinen Oberkörper gerichtet. Okkinga kannte nur einen von ihnen. Er hieß Oberwachtmeister Lehmann und war kein Ostfriese, sondern ein Fremder aus Westfalen. Sein jüngerer Kollege hatte nach Okkingas Meinung ein richtiges Milchbrötchengesicht. Aber auch dieser Ordnungshüter bemühte sich nach Kräften, unter dem Schirm seines Tschakos finster dreinzuschauen.
„Tammo Okkinga, Sie sind verhaftet“, sagte Lehmann so feierlich, als ob er sich in der Kirche befände.
„Was soll ich denn getan haben?“
„Wir werfen Ihnen den Mord an Kimmo Wiarda vor.“
„Was?“ Okkinga fiel aus allen Wolken. „Ich habe doch höchstpersönlich den Leichenfund bei Ihnen gemeldet.“
Während die beiden Männer miteinander sprachen, hatte sich der jüngere Polizist schnell Okkingas Karabiner gegriffen, der neben der Tür stand. Er brachte die Waffe in das Polizeiauto, das vor dem Haus parkte. Offenbar wollten die Beamten kein Risiko eingehen. Aber Okkinga glaubte immer noch an einen fatalen Irrtum.
„Ja, Sie meldeten die abscheuliche Tat“, schnarrte Lehmann. „Das war ein ganz besonders raffinierter Schachzug von Ihnen. Aber diese Finte nützt Ihnen nichts, Okkinga. Wir haben nämlich einen Tatzeugen.“
„Einen Zeugen? Das wird ja immer besser! Und wer will beobachtet haben, dass ich das Kind umbrachte?“
„Jorik Wemmer, der ebenfalls zur Bürgerwehr Krummhörn gehört. Er fürchtete sich vor Ihnen, solange er mit Ihnen auf Patrouille war. Aber heute Morgen hat ihn sein Gewissen geplagt, und er hat bei mir seine Aussage gemacht.“
„Dieser Judas hat sich von Tjark Hanno kaufen lassen!“, wütete Okkinga. „Wemmer war schon immer eine Memme. Er deckt den wahren Mörder, merken Sie das denn nicht?“
Während Lehmann vor der Tür stehenblieb, war sein junger Kollege an Okkinga vorbei ins Haus gewieselt. Okkinga hatte dem Milchbrötchengesicht keine weitere Beachtung geschenkt – vor allem, weil er völlig unschuldig war. Doch plötzlich ertönte hinter ihm ein Triumphschrei.
„Sehen Sie nur, Herr Oberwachtmeister! Die Mordwaffe!“
Okkinga drehte sich um. Der junge Polizist hatte die Türen des Butzenbettes geöffnet und hielt nun mit seiner behandschuhten Rechten ein blutiges Messer hoch. Er hatte es offenbar aus dem Butzenkeller gezogen.
„Das gehört mir nicht“, beteuerte Okkinga.
„Nein, natürlich nicht.“ Lehmanns Ironie war nicht zu überhören. „Erzählen Sie das dem Untersuchungsrichter in Emden. – Vorwärts, Okkinga. Ziehen Sie Ihren Mantel an, im Gefängnis ist es kalt.“
Der ehemalige Soldat überlegte einen Moment lang, ob er weglaufen sollte. Aber dann würde er garantiert eine Kugel in den Rücken bekommen. Er musste sich nicht lange fragen, wie das Messer in seinen Butzenkeller gelangt war. Tjark Hanno oder einer seiner Schergen würde es dort platziert haben, während Okkinga am Vorabend noch einmal in Groß Midlum gewesen war. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Außerdem war es möglich, dass auch Lehmann und der andere Polizist bei Tjark Hanno in Lohn und Brot standen. War denn die ganze Krummhörn von diesem Monstrum abhängig? Gab es außer Okkinga niemanden, der dem Schmugglerkönig die Stirn bieten wollte?
Während Okkinga in diese düsteren Grübeleien verfiel, wurde er von den Ordnungshütern hinten in den vergitterten Polizeiwagen geschoben. Wenigstens verzichteten sie darauf, ihm Handschellen anzulegen. Aber das geschah wohl weniger aus Menschenfreundlichkeit als aufgrund von Materialmangel. Die örtliche Polizei musste sich seit Wochen mit den Landarbeiterstreiks befassen, sie pfiff in Sachen Ausrüstung und Krankenstand aus dem letzten Loch. Jedenfalls hatte Okkinga entsprechende Gerüchte bei der Bürgerwehr aufgeschnappt. Die Truppe war schließlich genau deshalb aufgestellt worden, weil die Polizei nicht mehr überall für Sicherheit sorgen konnte.
Okkinga wurde von einer dumpfen fatalistischen Erschöpfung überwältigt, wie er sie während eines Trommelfeuers im Schützengraben oft erlebt hatte. Es kam ihm plötzlich so sinnlos vor, gegen einen rücksichtslosen Satan wie Tjark Hanno ankämpfen zu wollen. So einer wie der kam sogar mit einem Kindermord durch, das durfte doch einfach nicht wahr sein.
Der Polizeiwagen schaukelte heftig, denn die Landstraße war nicht gut ausgebaut. Aber nun wurden die Schlingerbewegungen noch heftiger. Okkinga musste sich an der Sitzbank festhalten, um nicht wie eine Puppe durch die Luft zu fliegen.
Er hörte wütende Rufe aus rauen Männerkehlen. Es mussten viele sein, die sich dort draußen versammelt hatten. Okkinga stand breitbeinig auf und linste durch das kleine vergitterte Fenster. Er sah mindestens hundert Landarbeiter, viele von ihnen mit Knüppeln oder Mistforken bewaffnet. Sie blockierten die Brücke, die über das Knockster Tief führte.
Lehmann hupte wild, aber davon ließen sich die Streikenden nicht beirren. Okkinga wusste, dass sie nichts zu verlieren hatten. Sie wurden mit dem Dreckgeld entlohnt, das von Tag zu Tag an Wert verlor. Die Männer schufteten hart, bekamen dafür aber nichts als einen Haufen wertloses Papier.
Es platschte laut, als das Polizeiauto mit den Vorderrädern in dem Entwässerungskanal landete. Schüsse peitschten, das Schreien der Arbeiter wurde nur noch lauter. Und Okkinga begriff, dass er nun eine einmalige Chance erhielt, dem Galgen zu entrinnen.
Die Hintertüren wurden von den Streikenden geöffnet, kräftige Hände zogen Okkinga ins Freie. Die Männer hielten ihn offenbar für einen der ihren, denn sie klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Das hätten sie bei einem Kindsmörder wohl kaum getan.
Lehmann und sein junger Kollege schossen in die Luft, um die Streikenden zurückzutreiben. Okkinga wollte nicht warten, bis die Polizisten Verstärkung bekamen. In dem Durcheinander rannte er einfach los. Er schlug einen weiten Bogen, bis nach Twixlum. Dort überquerte er das Larrelter Tief und erreichte schließlich den Stadtrand von Emden.
Okkinga sehnte sich nach einer Zigarette, vor allem aber nach Gerechtigkeit. Doch er ahnte, dass die Erlangung eines Glimmstängels für ihn viel eher zu erreichen war. Tjark Hanno kam ihm vor wie ein Puppenspieler, der alle Fäden in der Hand hielt. Okkinga hätte die Welt höchstens mit Hilfe einer Gewehrkugel von dieser Blutbestie befreien können.
Aber es würde nicht lange dauern, bis der wahre Mörder von Okkingas Flucht erfuhr. Und Tjark Hanno würde sich in irgendein Rattenloch verkriechen, bis Okkinga entweder hinter Gittern oder tot war. Darüber machte er sich keine Illusionen.
Okkinga streifte durch die Straßen von Emden und achtete dabei sehr sorgfältig auf Polizeiuniformen. Doch momentan war nirgendwo ein Ordnungshüter zu erblicken. Instinktiv war Okkinga hinunter zum Hafen gelaufen. Südlich der Brikettfabrik war ein Trawler am Kai vertäut. Das Schiff war offenbar zum Auslaufen bereit. Okkinga tastete in seiner Manteltasche nach dem Seefahrtsbuch. Und er sagte sich, dass er doch irgendwann einmal auch wieder Glück haben musste im Leben.
Er pfiff auf allen vier Fingern, machte dadurch einen Mann mit Offiziersmütze an der Reling auf sich aufmerksam.
„Kann ich noch anmustern, Skipper?“
Der Kapitän nickte langsam.
„Wi bruukt noch Lüüd.“
Das wunderte Okkinga nicht, denn viele Seemänner hatten den Krieg nicht überlebt, und ein gültiges Seefahrtbuch war mehr wert als ein paar Milliarden von dem Dreckgeld. Okkinga lief über die Gangway an Bord des stinkenden Fischtrawlers und präsentierte dem Skipper seine Papiere.
Wenig später kam das Schiff von der Kaimauer klar und dampfte auf die Fahrrinne des Dollart zu. Okkinga warf noch einen Blick auf die am Horizont erkennbaren grünen Wiesen von Ostfriesland, das er wohl nie wiedersehen würde.
Okkinga tröstete sich mit dem Gedanken, dass das Armeleutekind Kimmo Wiarda nun gewiss im Himmel war. Ein Ort, den der Mörder niemals sehen würde.
Ob Tjark Hanno wohl jemals für seine Untaten büßen musste?

***

Es gibt noch viel mehr über Tjark Hanno zu berichten, dessen schauriges Leben bis in die Gegenwart des Jahres 2014 ausstrahlt. Wer legt heutzutage Blumen auf das Grab des Kindermörders?

Davon handelt der Ostfriesenkrimi Das Armenhaus des Autors,

***

Glossar
Tief - Entwässerungskanal in Ostfriesland

Jan Klein – Spitzname für die ehemalige Kleinbahn, die von von 1898 – 1969 u.a. die Strecke von Emden nach Greetsiel bediente.

Reformierte Kirche – In Ostfriesland gehören die meisten Gläubigen der evangelisch-reformierten Kirche an, die äußerlich vor allem an einer Sparsamkeit bei der Kirchenausstattung zu erkennen ist. Oft besteht der einzige Schmuck des Gotteshauses aus Bibelversen.

Butzenbett – Schrankbett, in dem mehrere Personen gleichzeitig im Sitzen schliefen.

Butzenkeller – Aufbewahrungsraum unter dem Bett, u.a. für Lebensmittel.

Deckhand – Arbeiter auf Handelsschiffen oder Fischereifahrzeugen.

Seefahrtbuch – Legitimation für Mannschaftsangehörige, in das sämtliche Fahrten eingetragen werden. Galt in früheren Zeiten auch als Nachweis für die Rentenversicherung.

Hypnotiseur - Der Film, den Okkinga gesehen hat, war vermutlich „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von 1920. Darin zwingt ein Tyrann (Werner Krauss) den Menschen seinen Willen auf.

Updrögt Bohnen – traditionelles Gericht aus getrockneten grünen Bohnen. Die Fäden mit den Bohnen wurden quer durch die Küche gespannt. Ein Faden reichte dabei meist für eine Mahlzeit.

Trawler – Schiffstyp unter Segeln oder mit Motorkraft, meist zum Fischen mit Schleppnetzen verwendet.

Tschako – Kopfbedeckung von Armee und Polizei, ursprünglich aus Ungarn stammend. Bei den deutschen Ordnungshütern seit dem Beginn der Weimarer Republik verwendet.

Warft – künstlich aufgeschütteter Hügel zum Schutz gegen Sturmfluten.

28. Okt. 2015 - Martin Barkawitz

Bereits veröffentlicht in:

DAS ARMENHAUS
M. Barkawitz
Roman - Regio-Krimi - BOOKSHOUSE - Aug. 2015

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