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Jugendliebe von Sandra Binder
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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AGENTUR ASHERA
A. Bionda
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Ich stehe auf der Buchmesse und beobachte sie, wie ein perverser Stalker. Was mache ich hier? Ich lese noch nicht einmal gern.
Sie trägt ihr Haar kürzer, im Stufenschnitt. Die Frisur lässt sie jünger aussehen. Nötig hat sie es nicht. Sie unterhält sich mit einem Kerl, der locker zwanzig Jahre älter ist als sie und der ständig ihren Arm betatscht. Er merkt nicht, dass sie ihn nicht leiden kann. Sie lächelt, wie sie es im Schultheater gelernt hat.
Ich erinnere mich an das Mädchen auf der Bühne. Sie hatte immer die größten Rollen. Kein Wunder, war sie doch die Talentierteste. Ich saß bei jeder Aufführung in der letzten Reihe, habe sie beobachtet, genau wie jetzt.
Sie war so klug und wunderschön. Obwohl sie immer bekommen hat, was sie wollte, war nie jemand neidisch. Denn sie hatte es verdient. Alle bewunderten sie für ihr Durchhaltevermögen und ihre Willensstärke. Nahm sie sich etwas vor, hat sie es geschafft. Ohne jemals über Leichen zu gehen.
Ich war anders. Ich war nie stark. Trotzdem hat sie mich nicht verurteilt.
Du schaffst es nächstes Jahr, hatte sie gesagt, als ich sitzen geblieben bin.
Ich erinnere mich an ihre Augen. Klar, unergründlich und blau wie das Meer. Und diese Augen schauen mich jetzt wieder an, nach so vielen Jahren, schauen direkt in meine Seele. Mein Herz vollführt einen Salto in meiner Brust. Ich wusste nicht, dass es das überhaupt noch kann. Gewaltsam kämpfe ich die Hoffnung nieder.
Sie lächelt. Aufrichtig. Winzige Fältchen graben sich in ihre Augenwinkel. Diese Zeichen der Zeit sind neu.
Ich nicke ihr zu, gebe vor, sie eben erst entdeckt zu haben. Meine Beine bewegen sich von selbst, als hätte mein Herz das Kommando übernommen.
Sie sagt meinen Namen und eine angenehme Taubheit befällt meine Glieder. Zwanzig Minuten hat sie Zeit bis zur Lesung. Sie fragt, ob ich eine rauchen will. Sie müsse mal raus, bräuchte dringend eine Pause von all den versnobten Schreiberlingen. Daraufhin kichert sie.
Ja, antworte ich.
Was sonst?
Auf dem Weg ins Freie kann ich kaum den Blick von ihr abwenden. Die perfekte Linie ihres Unterkiefers lässt mich nicht mehr los.
Du bist wunderschön, denke ich.
Was für ein Wetter zurzeit, sage ich.
Sie lacht. Hat sie mich durchschaut? Das Geräusch klingt wie pure Lebensfreude und lässt meine gefrorene Seele tauen.
Draußen zündet sie sich eine Zigarette an. Ich starre auf ihre Lippen wie ein Vollidiot. Wie gerne würde ich den Platz dieser Zigarette einnehmen.
Nur ein einziges Mal durfte ich diese Lippen küssen. Mein Körper erinnert sich mit schmerzhafter Klarheit, wie sie sich anfühlte, als sie in meinen Armen lag, und an ihre pfirsichweiche Haut. Ihr Haar duftete wie ein exotischer Obstgarten. Und ihre Lippen schmeckten wie die süßeste Frucht, die man dort finden konnte.
Reiß dich zusammen, denke ich.
Sie bläst den Rauch ihrer Zigarette aus und schaut mich mit diesem wissenden Blick an, den ich noch aus Schultagen kenne. Strahlende Augen lugen unter dichten, dunklen Wimpern hervor.
Das ist ja ewig her, meint sie.
Das letzte Mal sah ich sie im Mai vor vier Jahren. Sie trug ein graues T-Shirt mit großer Aufschrift und einem Totenkopf mit Schmalztolle, ein Fanshirt ihrer damaligen Lieblingsband. Und in ihren meerblauen Augen glitzerte die Frühlingssonne.
Ja, drei, vier Jahre oder?, antworte ich.
Du musstest ja unbedingt wegziehen, sagt sie und zieht einen Schmollmund.
Sie meint es nicht ernst. Sie ist nicht beleidigt. Ich bin fast sicher, dass sie nie ernsthaft traurig war, weil ich so plötzlich wegziehen musste. Ich erklärte ihr damals, dass es Probleme in der Familie gäbe. Wegen des Kusses, der mir so viel bedeutet hat, befürchtete ich, sie unglücklich zurückzulassen. Doch das war sie nicht. Sie lebte weiter. Bekam alles, was sie wollte. Wenigstens durfte ich ihr Leben online mitverfolgen. Kein Problem über StudiVZ, Facebook und Twitter. Ich war immer informiert, wusste, wann sie eine Beziehung angefangen, wann sie schließlich geheiratet und wann sie ihr erstes Buch veröffentlicht hat.
Irgendwann schrieb sie mir aus heiterem Himmel eine Nachricht zum Geburtstag.
Alles Gute, las ich. Und ein Smiley grinste mich hinter den Worten an.
Ich schreibe nicht auf Geburtstagsgrüße zurück. Niemals. Mein Geburtstag deprimiert mich. Er erinnert mich daran, was ich bis jetzt zustande gebracht, oder vielmehr nicht zustande gebracht habe.
Danke, schrieb ich trotzdem und: Wie läufts mit der Schriftstellerkarriere? Erzähl doch mal.
Und zum ersten Mal seit Jahren unterhielten wir uns wieder. Zumindest über Facebook. Ich sah ihr Lächeln in ihren Worten. Bis sie irgendwann nicht mehr schrieb.
Und was machst du so?, fragt sie mich jetzt.
Ich zögere. Ich studiere BWL im dritten Semester. Es ist das vierte Studium, das ich angefangen habe. Ich hasse es und werde es bald abbrechen. In den Augen der Gesellschaft bin ich ein Versager. In ihren auch?
Ach, dies und das, antworte ich schließlich und: langweiliges Zeug.
Die tiefblauen Augen durchschauen mich. Doch sie sagt nichts weiter.
Wie läuft der Buchverkauf?, frage ich, um sie abzulenken.
Ganz gut, meint sie und dann: Ich glaube, ich muss zurück. Die Lesung ...
Ich nicke, hoffe, dass sie mir meine Enttäuschung nicht ansieht.
Dann bis in vier Jahren, scherze ich, obwohl mir nicht danach ist.
Sie lacht. Dann ist sie weg.
Ich will nicht wieder rein. Ich ertrage es nicht, sie noch länger zu sehen. Stattdessen gehe ich in eine Buchhandlung und kaufe ihren neuen Roman. Es ist mir peinlich, ihn bei ihr direkt zu kaufen. Sie würde ihn signieren. Das will ich auf keinen Fall.
Zu Hause lese ich den Roman und erkenne ihre Worte. Ich sehe ihr Lächeln in ihren Worten. Ich klappe das Buch zu und werfe es in eine Ecke.
Reiß dich zusammen, denke ich.
Ich hatte andere Frauen. Manche habe ich geliebt. Manche aufrichtig. Die Frauen ließen mich vergessen. Zumindest für eine Weile. Ich brauche wieder Ablenkung.
Ich drehe mir einen Joint, betäube meine Gedanken. Als ich ihn fertig geraucht habe, nehme ich das Buch wieder zur Hand. Ich reiße ein paar Seiten raus, zünde sie an. Kurz darauf hasse ich mich dafür. Wie kann eine einzelne Frau so viel Macht über mich besitzen?
Die Zeit vergeht. Tagsüber sitze ich in der Vorlesung, abends auf der Couch. Nachts verfolgen mich meerblaue Augen in meinen Träumen. Ob sie es ahnt? Je ahnte? Sie muss es doch irgendwann gespürt haben. Ob es sie überhaupt interessiert?
Die Zeit vergeht und ich lerne eine Frau kennen. Ihre Augen sind braun, ihre Haare blond. Das ist gut so. Nichts erinnert mich an sie. Ich blockiere sie heimlich bei Facebook. Die Träume hören auf. Trotzdem fühle ich mich unvollständig. Ob sie ab und zu an mich denkt?
Mein Handy klingelt. Eine Nachricht von einem alten Schulfreund. Er schickt ein Bild und schreibt: Hey Alter, kennst die noch?
Ich öffne den Anhang. Es ist ein Zeitungsartikel über ihren neuen Roman. Freude und Stolz schimmern in ihren Augen und sie lächelt in die Kamera. Sie bekommt, was sie will.
Du Arschloch, beschimpfe ich meinen Kumpel in Gedanken.
Ich schreibe nicht zurück.
Noch mehr Zeit vergeht. Sie heilt die Wunden nicht. Meine Freundin trennt sich von mir. Ich würde mich ihr entziehen, meint sie. Vielleicht hat sie recht.
Die Träume sind zurück. Ich hebe die Sperre bei Facebook auf und scrolle mich durch ihr Profil. Eine Collage ihres perfekten Lebens. Ich komme mir wieder wie ein perverser Stalker vor.
Der Computer gibt ein Geräusch von sich. Eine Nachricht. Sie ist von ihr. Ich fühle mich ertappt. Mit zitternden Fingern klicke ich die Nachricht an.
Bin in der Gegend. Hast du Zeit?, schreibt sie.
Denke schon, schreibe ich zurück.
Was sonst?
Es ist zwei Uhr am Mittag. Wir treffen uns im Café. Ihr Haar ist länger. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, wirkt müde, ausgebrannt. Sie bestellt Kaffee mit Baileys.
Wie gehts dir?, frage ich.
Gut, sagt sie und bricht in Tränen aus.
Ich bin überfordert. Die Leute im Café schauen uns an.
Hey, sage ich und tätschle unbeholfen ihre Hand.
Ihr Mann hätte eine Affäre, erzählt sie mir. Und dass ihre Ehe vor dem Aus stünde. Warum nicht alle Männer so sein könnten wie ich, fragt sie.
Mein Herz vollführt einen Salto in meiner Brust. Das kann es also immer noch. Doch ich kämpfe die Hoffnung nieder. Wie immer. Sie will mich nicht. Sie ist nur verletzt worden.
Ihre tiefblauen Augen quellen über und dicke Tränen rinnen über ihre makellosen Wangen. Sie fragt, wo ich wohne und ob es weit ist.
Wir gehen zu mir. Sie küsst mich im Fahrstuhl, klammert sich an mich. Sie duftet nach Früchten.
In meiner Wohnung zerrt sie die Jacke von meinen Schultern. Ungeduldig, verzweifelt. Sie fragt, wo das Schlafzimmer ist und ich führe sie bereitwillig hin.
Sie weint noch immer. Ich versuche, es zu ignorieren. Sie ist so warm und weich. Und sie liegt in meinen Armen. Träume ich wieder?
Ich bemühe mich, aber es dauert nicht lang. Ich bin zu nervös. Ich fühle mich wie der elfjährige Schüler, der sich in das Mädchen mit den großen Augen verliebt hat. Unbeholfen, unerfahren.
Sie schläft ein. Ich beobachte sie, fahre mit dem Finger die sanften Konturen ihres Gesichts nach. Die Tränen auf ihren Wangen trocknen. Vielleicht bleibt sie hier, bei mir. Vielleicht für immer.
Ich schlafe ebenfalls ein. Ein traumloser Schlaf, aus dem ich erst erwache, als die Sonne mich blendet. Mit zusammengekniffenen Augen taste ich das Bett ab. Es ist leer. Ich öffne die Lider und sehe, dass sie gegangen ist. Ein Zettel liegt auf dem Nachttisch.
Danke für die Nacht, steht darauf und weiter: Du bist ein wahrer Freund. Ich habe diese Ablenkung bitter gebraucht.
Ablenkung. Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen.
Ich stehe auf, setze mich an den Computer und schreibe ihr eine Nachricht.
Ich muss mit dir reden, tippe ich.
Es ist mir egal, wie armselig das klingt.
Eine gefühlte Ewigkeit starre ich auf den Bildschirm. Meine Augen brennen.
Wieso, bist du schwanger?, antwortet sie und setzt zu allem Überfluss ein Smiley dahinter.
Ich sehe ihr Lächeln in ihren Worten. Ich verachte sie dafür.
Gehst du zu ihm zurück?, stelle ich die erste Frage, die mir einfällt.
Er ist mein Mann, schreibt sie und: Er hat angerufen. Er bereut es aufrichtig.
Ich stütze den Kopf in die Hände. Mein Herz pocht einem Vorschlaghammer gleich gegen meine Rippen. Sie hat mich benutzt. Es hat ihr rein gar nichts bedeutet. Ich fühle noch immer ihre weiche Haut unter meinen Fingern, schmecke ihre Lippen, höre ihr Stöhnen. Und ihr hat es rein gar nichts bedeutet.
Ich werfe die Tastatur in die Ecke zu ihrem neuen Roman.
Alles in Ordnung?, schreibt sie.
Scheiße, sehe ich so aus?, brülle ich den Bildschirm an.
Ich spüre, wie mir dicke Tränen über die Wangen rinnen.
Weichei, denke ich.
Ich ziehe mich an und greife nach der Box unter meinem Bett. Eine Weile lang starre ich den Revolver an, der in der verstaubten Kiste liegt. Silbern und kalt starrt er zurück. Ich habe mich oft gefragt, wozu ich ihn gekauft habe. Jetzt dämmert es mir.
Wohl endet Tod des Lebens Not das stand in einem ihrer Bücher. Ein Zitat von einem persischen Dichter. Ich finde es passend.
Ich stecke den Revolver in die Jackentasche.
Sie kann nicht immer bekommen, was sie will. Damit muss einmal Schluss sein. Mich bekommt sie nicht. Nicht mehr.
Die Wut vernebelt meinen Blick. Dreimal gehe ich an ihrem Hotel vorbei, ohne den Eingang zu erkennen. Dann gehe ich hinein. Ein älteres Paar steht neben mir im Aufzug, tuschelnd, scherzend, kichernd. Vermutlich sind die beiden verheiratet. Vermutlich nicht miteinander.
Ich klopfe an ihre Tür. Mehrmals. Laut, lauter.
Als sie aufmacht, sind ihre Haare nass. Ihre tiefblauen Augen schauen mich überrascht an.
Sie sagt meinen Namen und die Art, wie sie ihn ausspricht, bringt mich beinahe um den Verstand. Sie schmunzelt. Sie lacht mich aus. Ich bin für sie eine Witzfigur.
Ich drücke mich durch den Türspalt und schlage sie hinter mir zu.
Bist du sauer?, fragt sie mich.
Sie zieht die Brauen zusammen. Ein kleines V formt sich dazwischen.
Bist du wirklich so schwer von Begriff?, herrsche ich sie an.
Sie weicht zurück. Sie hat Angst. Das sollte sie.
Du kannst die Leute nicht wie Idioten behandeln, du egoistische Gans, brülle ich.
Ich ziehe den Revolver aus der Tasche und sie weicht noch weiter zurück. Sie stolpert, fällt unsanft aufs Bett. Ihre Augen aufgerissen, starrt sie die Waffe an.
Sie sagt meinen Namen. Flehend, ängstlich dieses Mal. Ihre Stimme schneidet sich wie ein Messer in mein krankes Herz.
Ich will ihr nicht sagen, was ich fühle. Es sprudelt trotzdem aus mir heraus. Wie lange ich sie schon liebe, erzähle ich ihr. Und dass ich mich noch genau daran erinnern kann, wie ihr dunkler Pferdeschwanz wippte, wenn sie in der Schule vor mir herging und mit ihren Freundinnen kicherte. Ich sage ihr auch, dass mich ihre Augen nachts in meinen Träumen verfolgen.
Ich fuchtle mit dem Revolver, gehe vor ihr auf und ab und rede, rede, rede. Ich glaube nicht, dass ich in ihrer Gegenwart schon einmal so viel geredet habe.
Es tut mir leid, wimmert sie immer wieder, und stammelt: Ich wusste doch nicht ...
Dicke Tränen rinnen über ihre Wangen. So wie in der Nacht zuvor. Ich kann den Anblick kaum ertragen. Ich bebe vor Wut.
Ich habe deine Bücher angezündet, sage ich und dann: Sie sind scheiße.
Sie zuckt zusammen. Ich weiß, dass sie das trifft. Und ich will sie unbedingt verletzen. Ich will sie zerstören, so wie sie mich zerstört hat.
Ich richte den Lauf des Revolvers auf sie. Er bebt in meiner Hand.
Du hast mich nicht verdient, sage ich und meine es so.
Ich wollte nie ..., setzt sie an.
Ich unterbreche sie ich glaube ihre Ausreden ohnehin nicht.
Dass ich bisher blind war, dass sich in dieser Nacht ihr wahres Ich enthüllt hat, sage ich ihr und dann: Ich erkenne es jetzt. Du warst den Schmerz niemals wert.
Ich erkläre ihr, dass Sterben nicht genug für sie ist.
Es tut mir leid, flüstert sie.
Ihre großen Augen, klar, unergründlich und blau wie das Meer, sehen direkt in meine Seele.
Ich ziele nicht mehr auf sie, führe den Lauf des Revolvers stattdessen an meine Schläfe. Ob sie ab und zu an mich denkt?
Jetzt versuch mal, damit zu leben, sage ich und drücke ab.
01. Feb. 2016 - Sandra Binder
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