Main Logo
LITERRA - Die Welt der Literatur
Home Autoren und ihre Werke Künstler und ihre Werke Hörbücher / Hörspiele Neuerscheinungen Vorschau Musik Filme Kurzgeschichten Übersicht
Neu hinzugefügt
Autoren
Genres Magazine Verlage Specials Rezensionen Interviews Kolumnen Artikel Partner Das Team
PDF
Startseite > Kurzgeschichten > Birgit Read > Phantastik > Der Fluch der Felsenrose

Der Fluch der Felsenrose
von Birgit Read

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

AGENTUR ASHERA Zur Gallery
A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Vincent Todd stand vor dem Gemälde und betrachtete es fasziniert. Es war das erste Mal, dass er es im Original sah. Die Felsenrose. Unzählige Male hatte er sie in Fachzeitschriften, auf seinem Computer oder im Fernseher bewundert. Nun hing das Bildnis hier im Auktionshaus. Sein Besitzer war plötzlich und unerwartet an Herzversagen verstorben. Man munkelte, dass er heimlich der Sado-Maso-Szene angehört hatte. Sein Körper war voller Stiche und Kratzer gewesen.
Die Erben hatten kein Interesse an den Hinterlassenschaften. Der komplette Bestand des Erbes wurde versteigert. Vincent war schon gestern hier gewesen und hatte alle Versteigerungsgegenstände eingehend studiert. Das Haus war eine Woche lang täglich für Interessenten geöffnet, die sich ihre Wunschobjekte vorab ansehen konnten. Obwohl viele erstklassige Dinge zu sehen waren, Vincent war einzig auf die Felsenrose aus. Er wollte sie besitzen, koste es, was es wolle. Geld spielte für ihn keine große Rolle. Davon hatte er reichlich. Das einzige Problem konnte Harry Donesgale werden. Der war genauso versessen darauf, die Felsenrose zu besitzen.
Der Tag der Versteigerung kam und Vincent war nervös. Seine Handinnenflächen schwitzten und sein Herz klopfte heftig in seiner Brust. Als die Felsenrose auf die Bühne gebracht wurde und der Auktionator einige Worte dazu sagte, wurde es Vincent kurz schwindelig vor Erregung. Er lieferte sich ein packendes Duell mit Harry Donesgale. Vincent wusste, dass Harry ein Limit hatte. Doch er wusste nicht, bei welchem Betrag Harry aufgeben musste. Gebote flogen hin und her und zweimal dachte Vincent, er habe es geschafft. Aber dann kam kurz vor dem endgültigen Hammerschlag in allerletzter Sekunde ein Gebot von Donesgale. Der Preis für die Felsenrose schoss in schwindelerregende Höhe. Irgendwann gab Donesgale auf und verließ wutschnaubend den Saal. Als Vincent den Zuschlag bekam, sank er völlig erschöpft, aber glücklich auf seinen Stuhl. Er hatte es geschafft. Die Felsenrose gehörte ihm.

Szenentrenner


„Heute kommt die Felsenrose“, sagte Vincent zu seinem Butler. „Ist alles vorbereitet?“
„Selbstverständlich, Sir.“
„Sehr gut! Ich möchte, dass sie sofort an ihren Platz kommt.“
„Natürlich, Sir.“
„Zu dumm, dass ich ausgerechnet heute einen unaufschiebbaren Termin habe. Ich verlasse mich auf Sie, Thomas.“
„Keine Sorge, Sir. Wenn Sie heimkommen, wird sie auf ihrem Platz sein.“

Szenentrenner


Als Vincent einige Stunden später nach Hause kam, eilte er sofort in das Kaminzimmer. Da hing sie. Genau an der Stelle, die er für sie ausgesucht hatte. Der Lichteinfall setzte sie tagsüber perfekt in Szene. Und bei Dunkelheit ließ das flackernde Licht des Kaminfeuers sie seltsam lebendig wirken. Vincent nahm in dem großen Ohrensessel Platz und betrachtete seine neueste Errungenschaft. Herrlich. Sein Puls beschleunigte sich und sein Mund wurde trocken. Die Augen! Diese wunderbaren, stechend grünen Augen. Er konnte seinen Blick nicht von dem Bild lösen. Ein seltsames Kribbeln begann in seiner Bauchmitte und breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Plötzlich wurde er unsanft aus seiner Betrachtung gerissen. Etwas hatte ihn ins Bein gestochen. „Au!“, fluchte er. „Verdammte Wespen, die sollte man ausrotten!“ Er rollte eine Zeitung zusammen und wollte das Getier damit erledigen … doch er fand weder eine Wespe noch ein anderes Insekt im Kaminzimmer.

Am Abend hatte Vincent zu einem kleinen Fest zu Ehren seiner Errungenschaft geladen. Bis dahin mied er das Kaminzimmer, obwohl es ihm schwerfiel. Um acht Uhr abends war es endlich soweit. Die ersten Gäste kamen und Vincent führte sie vor die Felsenrose. Sein Butler Thomas hatte kleine Häppchen vorbereiten lassen und bot den Ankommenden einen Begrüßungschampagner an. „Vincent, du hast es endlich geschafft, sie ist dein!“, flötete Pauline Westhaven geziert. Sie war die Witwe seines ehemals besten Freundes James und gehörte zum festen Inventar in seiner Gästeliste.
„Ja, Pauli, ich habe sie. Und ich bin sehr glücklich darüber. Hat sie nicht einen vorzüglichen Platz bekommen?“
„Der beste Platz, den du für sie aussuchen konntest.“ Pauline ging näher an das Gemälde heran, um es eingehend zu betrachten. „Wunderbar, einfach wunderbar.“
Auch alle anderen Gäste bewunderten die Felsenrose. Als der letzte Gast jedoch gegangen war, setzte sich Vincent in den Ohrensessel und betrachtete noch einmal intensiv die smaragdgrünen Augen der Frau, die auf einem grauen Felsen hockte. „Gute Nacht, meine Schöne!“, sagte er zu ihr und begab sich zu Bett.
In dieser Nacht träumte er von ihr. Er stand vor dem Bild und verschmolz Stück für Stück mit ihm, bis er vor der wunderschönen Frau stand, die nur leicht bekleidet auf dem Felsen hockte. „Hallo, Vincent, schön, dass du gekommen bist. Ich habe schon auf dich gewartet“, flötete sie in einem melodischen Singsang.
„Oh“, antwortete er, unfähig, ein weiteres Wort herauszubringen.
„Komm mit mir!“ Die Schönheit schaute ihn intensiv mit ihren grünen, durchdringenden Augen an. Sie erhob sich graziös und Vincent bewunderte ihren makellosen Körper. An ihren Füßen trug sie von roten Rosenblättern verzierte High Heels, deren Absatz dünne, dornenbestückte Rosenäste waren. Ihre Unterarme umschlangen Rosenblätter, die sich wie ein seidenes Band an ihre Haut schmiegten. In ihrer rechten Hand hielt sie eine rote Rose, aus dessen Blütenansatz eine Augenmaske in derselben Farbe herausgewachsen war. Leicht, als ob sie schwebe, schritt sie durch die felsige Landschaft. Wie hypnotisiert folgte Vincent ihr bis zu einer Stelle, an der ein weites Rosenfeld begann. „Hier wohne ich, Vincent. Komm herein.“ Mit diesen Worten hob sie ihre Hand, das dichte Rosenfeld teilte sich und gab einen schmalen Weg frei. Vincent folgte ihr. Immer wieder stachen ihn die Dornen der Rosenstängel schmerzlich in seine Beine. Plötzlich blieb die Rosenfrau stehen, drehte sich zu ihm um und begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Vincent rieb sich die Augen, doch sie löste sich in einen weißen Nebel auf, der immer durchsichtiger wurde, bis sie komplett verschwunden war. Die Rosen begannen, den Weg den Vincent gegangen war, langsam zu schließen. Angst zog durch seinen Körper. Kopflos drehte er sich um und rannte so schnell er konnte zurück. Dabei stachen und kratzten ihn die Dornen unerbittlich in die Beine. Er schaffte es gerade noch den Ausgang zu erreichen, bevor sich das Rosenfeld endgültig hinter ihm schloss. Erschöpft sank er auf die Knie.
Schwer atmend wachte Vincent auf. Dunkelheit umgab ihn und er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass das Ganze nur ein Traum gewesen war. Kurz vor dem Morgengrauen schlief er wieder ein.

Szenentrenner


Am späten Vormittag, als Thomas ihn weckte und seine Kleidung für den Tag bereitlegte, dauerte es eine Weile, ehe sich der Traum Stück für Stück in Vincents Gehirn breitmachte. Da waren die vielen, kleinen Stiche und Kratzer an seinen Unterschenkeln. Sie juckten und schmerzten. „Sir, haben Sie eine Allergie? Oder sind etwa Tierchen in Ihrem Bett?“
„Ich weiß es nicht, Thomas“, sagte Vincent, obwohl er vermutete, dass es Verletzungen der Rosendornen aus seinem Traum sein könnten. „Drehe ich jetzt völlig durch?“, murmelte er vor sich hin, „das war doch nur Träumerei“.
„Ich lasse das blaue Zimmer für Sie herrichten, Sir. Dieses Zimmer werden wir komplett desinfizieren. Für den Fall, dass es irgendwelche Schädlinge sind.“
„Einverstanden, Thomas. Ist mein Frühstück fertig?“
„Selbstverständlich, Sir.“

Vincent frühstückte und kratzte sich ab und zu gedankenverloren an seinen Beinen. Den Tag verbrachte er mit zwei Terminen und verschiedenen notwenigen Erledigungen. Am Abend hatte das Jucken zum Glück nachgelassen. Nach dem Abendessen nahm er sich ein Glas Cognac und setzte sich im Kaminzimmer vor die Felsenrose und betrachtete sie lange. Heute bereiteten ihm die giftgrünen, stechenden Augen ein unwohles Gefühl. Doch sie hatten gleichzeitig etwas derart Magisches an sich, was es ihm unmöglich machte, seinen Blick von ihr abzuwenden. Er wünschte sich, dass sie ihn noch einmal im Traum zu sich holen würde. Damit er mit ihr sprechen und sie berühren konnte. Erwartungsvoll legte er sich kurz vor Mitternacht ins Bett. Er schlief unruhig und traumlos. Ebenfalls in der nächsten und übernächsten Nacht. Es dauerte drei Monate, bis sie ihn wieder in das Bild holte.
„Vincent. Hast du mich vermisst?“
„Natürlich. Seit drei Monaten warte ich darauf, dass du in meinen Traum kommst.“
„Vincent, Vincent …“, säuselte das magische Wesen vorwurfsvoll, „du bist viel zu ungeduldig.“
„Darf ich dich berühren?“
„Später, Vincent. Später. Folge mir!“ Wieder stand sie auf und Vincent folgte ihr bis zum Rosenfeld. Abermals öffnete sich auf ihre Weisung hin der schmale Weg durch die Rosen. Er dachte in diesem Moment nicht an Kratzer oder Stiche, sondern lief voll freudiger Erwartung hinter ihr her. Diesmal ging sie viel tiefer in das Feld hinein und die Rosen wurden höher und dichter. Hinter ihm schloss sich der enge Weg sofort wieder.
„Schau nicht zurück, Vincent!“, rief die Felsenrose ihm zu. „Komm zu mir, es ist Zeit.“ Sie hielt ihm ihre Hand hin und Vincent ergriff sie zögernd. Gleich bei der ersten Berührung strömte eine geheimnisvolle Energie durch seinen Körper. Er fühlte sich stark und männlich. Mit sanfter Gewalt zog Vincent die Felsenrose an sich, nahm ihren Kopf in eine Hand und fuhr mit der anderen Hand durch das glänzende, mit grünen, zarten Rosenstängeln durchwirkte Haar. Den Blick nicht von ihren grünen Augen lösend, küsste er sie zuerst sanft, dann fordernd. Sie erwiderte seinen Kuss. Er begann ihren Körper zu streicheln und sie stieß ein leises Lachen aus. Hiervon ermutigt umfasste Vincent ihre Brüste mit beiden Händen. Als er den Blick hob und in ihre Augen sah, erstarrte er. Sie funkelten erst giftgrün und verwandelten sich langsam in ein grelles Rot. Urplötzlich stieß sie ihn mit solch einer Kraft von sich, dass er weit in das Rosenfeld flog. Unzählige Dornen bohrten sich schmerzhaft in seinen Rücken.
Vincent schrie auf. „Hilfe! Hilf mir bitte“, flehte er die Felsenrose an. Doch sie stand nur da und schaute ihn lächelnd an. Die Pflanzen begannen sich um seinen Körper zu schlingen. Vincent versuchte, sich zu befreien. Vergeblich. Mehr und mehr Rosen fesselten seinen Körper und schlugen ihre Dornen tief in sein Fleisch. Vincent schrie vor Schmerzen und flehte um Hilfe. Erst als von seinem Körper nur noch der Kopf zu sehen war und alles andere von den stechenden Stängeln umwickelt war, kam sie langsam auf ihn zu und blieb neben ihm stehen.
„Was machst du mit mir? Wieso tust du mir das an? Ich liebe dich! Ein Vermögen habe ich für dich bezahlt!“, schrie Vincent, vor Schmerzen einer Ohnmacht nahe.
Die Felsenrose lächelte nur, hob einen ihrer High Heels an und stieß ihm den Dornenabsatz tief ins Herz.

Szenentrenner


„Sir! Mister Todd! Sir!“, rief Thomas am nächsten Morgen entsetzt, als er Vincent übersät mit blutigen Stichen und Kratzern in seinem Bett liegen sah. Sofort rief er den Notarzt, der nur noch Vincents Tod feststellen konnte.
„Er ist an Herzversagen gestorben. Was ich nicht verstehe: Wieso ist er nicht wach geworden, als er überall gestochen worden ist. Hatte er vielleicht ein Schlafmittel genommen?“
„Nein. Das wüsste ich“, antwortete Thomas.

Szenentrenner


Über fünfzig Menschen gingen mit Vincent Todd seinen letzten Gang. Unter ihnen war auch Harry Donesgale. Er ließ nach der Beisetzung seines ärgsten Konkurrenten eine Anstandswoche vergehen und setzte sich dann mit den Erben in Verbindung. Er machte ihnen ein großzügiges Angebot für die Felsenrose. Da die Erben mehr Interesse an Geld als an dem Bild hatten, verkauften sie es an Harry.
Der hängte es in seinem Arbeitszimmer auf, genau gegenüber dem Fenster und seinem Schreibtisch. Wenn die Sonne schien, leuchtete es so wunderbar, als ob die Frau auf dem Bild lebendig würde. Tag für Tag saß Harry vor dem Bild und bewunderte es.
Eines Nachts träumte er, dass er eins wurde mit dem Bild. Plötzlich stand er vor der wunderschönen Frau aus dem Gemälde und sie lächelte ihn an. „Hallo, Harry, schön dass du gekommen bist. Ich habe schon auf dich gewartet.“

18. Okt. 2016 - Birgit Read

[Zurück zur Übersicht]

Manuskripte

BITTE KEINE MANUS­KRIP­TE EIN­SENDEN!
Auf unverlangt ein­ge­sandte Texte erfolgt keine Antwort.

Über LITERRA

News-Archiv

Special Info

Batmans ewiger Kampf gegen den Joker erreicht eine neue Dimension. Gezeichnet im düsteren Noir-Stil erzählt Enrico Marini in cineastischen Bildern eine Geschichte voller Action und Dramatik. BATMAN: DER DUNKLE PRINZ ist ein Muss für alle Fans des Dunklen Ritters.

LITERRA - Die Welt der Literatur Facebook-Profil
Signierte Bücher
Die neueste Rattus Libri-Ausgabe
Home | Impressum | News-Archiv | RSS-Feeds Alle RSS-Feeds | Facebook-Seite Facebook LITERRA Literaturportal
Copyright © 2007 - 2018 literra.info